Tafel 1 u. 2 Das Heraion in Olympia

Im Jahre 1877 wurde durch die deutschen Ausgrabungen in Olympia am Fuße des Kronoshügels der alte Tempel der Hera freigelegt, der für die Baugeschichte von grundlegender Bedeutung ist. — Vom Abhang des Hügels überblicken wir die Ruine. Auf dem zweistufigen Tempelboden stehen die Schäfte der Säulenhalle allseitig um das Tempelhaus: wir haben einen peripteralen Tempel vor uns. Die Säulen, die ohne Basis auf der Oberstufe, dem Stylobate, stehen, sind nicht alle von gleicher Ausführung. Säulen aus einem Stein standen neben anderen aus zwei Stücken oder solchen, die aus einer Vielheit von Trommein aufgebaut waren. Verschieden waren sie im Querschnitt, in der Zahl der in flacher Muldung eingetieften Vertikalstreifen, der Kanneluren, die zwischen 16 und 24 schwankt, vor allem endlich in der Form der Kapitelle. Der Echinus, das runde Hauptglied des dorischen Kapitells unter der viereckten, flachen Deckplatte, dem Abakus, zeigt bald ein Profil, das (wie Tafel 2, r. Säule) mit seiner weichgerundeten, weitausladenden Kurve sich nur an den ältesten griechischen Steintempeln findet, bald das elastisch gespannte Profil der klassischen Zeit; die ganz geradlinige Gestalt (Tafel 2, l. Säule) kehrt nur in spätgriechischer Kunst wieder: am Heraion allein könnte man die Entwicklung des dorischen Kapitells verfolgen. Können diese Säulen mit ihren Kapitellen sonach nur in verschiedener Zeit an den Tempel gekommen sein, so erklärt sich das nur unter der Voraussetzung, daß die ursprünglichen Stützen des Tempeldaches zu verschiedenen Zeiten, die eben die Kapitellformen noch verraten, ersatzbedürftig geworden sind. Aus einer derart verschiedenen Widerstandskraft aber würden wir auf ursprüngliche Holzsäulen haben schließen müssen, auch wenn die antike Überlieferung uns nicht von der einen letzten Holzsäule berichtet hätte, die man im zweiten Jahrhundert n. Chr. noch in der Hinterhalle des Tempels sah. — Hierzu trat ergänzend der Zustand des eigentlichen Tempelhauses, der Cella. Ihre sorgfältig geschichteten Steinwände reichen sockelartig überall, wie abgeschnitten, nur bis zu gleicher Höhe. Es wäre mehr als seltsam, daß von irgendwelchen Quadern der aufgehenden Wände sich auch nicht eine einzige Spur erhalten haben sollte, während der Sockel die einheitliche, glatte Oberfläche so gut wie vollständig bewahrt hat. Das Rätsel wurde gelöst durch die Erkenntnis, daß diese Wände aus ungebrannten, an der Luft getrockneten Lehmziegeln bestanden hatten. Nur so erklärt sich die übermäßige Dicke des Sockels, da eine Steinwand schon in viel geringerer Stärke die nötige Tragkraft für Gebälk und Dach besessen hätte, — nur so vor allem die dichte Lehmschicht, die man gerade über dieser Ruine ausgebreitet fand: die alten Luftziegelmauern hatten sich, einmal des schützenden Daches beraubt, in formlose Erdmasse aufgelöst.

Durch dieses Material waren aber auch Vorrichtungen an den äußeren Enden des Mauersockels bedingt, die am reinen Steinbau unverstandlich wären. Denn hier, an den Stirnen (Anten) der vorspringenden Wände, die die Vorhalle bilden, sowie an den Laibungen der Tür greifen horizontale Falzen und senkrechte Abplattungen in das Steinwerk hinein, und in den Stufensteinen davor sind längere Einbettungen vorhanden: sie haben der Aufnahme von Holzriegeln und Schwellhölzern gedient, auf denen man senkrecht aufgehende Bohlen durch Nägel und Zapfen befestigte. So wurden hölzerne Türgewände gebildet und die freistehende Stirn der Vorhallenwände mit Holzwerk umkleidet. Diese Teile der Wände waren durch die Last des Deckengebälks besonders gefährdet. Hier sollte darum die hölzerne Verschalung ein Ausweichen der Luftziegel verhindern und dem Gebälk als Stütze dienen.


Einer solchen hölzernen Säulenhalle konnte nur ein hölzernes Gebälk entsprochen haben. Und da sich in der Tat auch nicht der kleinste Rest eines Steingebälks gefunden hat, so blieb nur die Annahme, daß das ursprüngliche Holzgebälk noch über den späteren Steinsäulen beibehalten worden sei. War das aber überhaupt möglich und wie konnte ein solches Gebälk aussehen? Darauf antwortet uns heute der Apollontempel zu Thermon in Ätolien. Auch in diesem altertümlichen Bau hat der niedere, flüchtig geschichtete Sockel einmal eine Lehmwand getragen, und auf die alten Holzsäulen, die in dem Tempelinnern auf eigenen Basissteinen standen, waren später Steinsäulen gefolgt. Aber noch über diesen trug der Tempel sein altes Gebälk weiter, das auf Grund höchst wertvoller Einzelfunde sich herstellen ließ (Abb. 1). Über dem Holzbalken, der sich von Säule zu Säule spannt, dem Epistyl oder Architrav, stehen senkrecht geschlitzte Blöcke aus gebranntem Ton, die Triglyphen, in deren seitlichen Falzen große Tonplatten, etwa 1 m lang und hoch, die Metopen, eingelassen sind. Der Stil ihrer von korinthischen Künstlern gemalten Bilder weist sie in den Anfang des sechsten Jahrhunderts. Damit ist aber noch nicht das älteste Datum gegeben. Unter den mit Köpfen geschmückten Dachziegeln, die an der Traufseite saßen, sind Stücke gefunden worden, die nach ihrem Stil noch in das siebente Jahrhundert gehören müssen. So bezeugen also die Reste von Thermon die bedeutsame Tatsache, daß schon über einem hölzernen Säulenkranze der Triglyphenfries stehen konnte, der für das dorische Steingebälk so charakteristisch ist. Die Funde in Olympia gestatten freilich nicht, für das Heraion selbst den Rückschluß zu machen, daß sein Gebälk ein ähnliches Gefüge von Tongliedern enthalten habe. In jedem Fall aber haben diese altertümlichen Monumente doch die Überlieferung des späteren Altertums überraschend bestätigt, daß der Triglyphenfries nicht erst im Verlaufe der steintechnischen Ausbildung des Tempelgebälks entstanden sei. Sie haben uns den Blick geöffnet in eine dem reinen Steinbau vorausliegende Frühzeit griechischer Baukunst, zu der bis dahin nur Theorien gedrungen waren: Stein, Lehmziegel und Holz teilen sich in den Aufbau des Gebäudes, und ihr Material wirkt entscheidend auf die technische Gestaltung einzelner Teile. Aber damit weisen diese Tempelbauten noch über sich selbst hinaus, zurück in eine Zeit, die noch keine Tempel und doch eine große, imposante Architektur besaß. Dahin weist vor allem auch die Grundform ihrer Räume.

Diese ÄLTESTE MONUMENTALE ARCHITEKTUR auf europäischem Boden gehörte einer hochentwickelten, vorhomerischen Kultur, die in den festen Herrensitzen Trojas und des griechischen Festlands, in weitläufigen Palastanlagen Kretas ihre vornehmsten Stätten hatte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Baukunst des Altertums
Abb. 01. Heraion, Ganzansicht, Olympia

Abb. 01. Heraion, Ganzansicht, Olympia

Abb. 02. Heraion, Ostfront, Olympia

Abb. 02. Heraion, Ostfront, Olympia

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