Eigentum und Besitz der landwirtschaftlichen Flächen in Russland

Im Jahre 1860 zählte man an Staatsbauern in den 50 Gouvernements des Europäischen Russlands 10.347.000 männliche Seelen. Sie verfügten über 74.400.000 Dessjatin Staatsland, was im Durchschnitt 7 Dessjatin pro männliche Seele ausmachte. Alle diese Ländereien gehörten ihnen zu ständiger Nutzung, und der Obrok oder Pachtzins, den sie zu entrichten hatten, war, auch nachdem auf Grund des ausführlichen Bodenkatasters von 1867 in einigen Gouvernements eine Erhöhung vorgenommen worden war, viel (zuweilen um das Zehnfache) niedriger als der Pachtzins, welchen in den benachbarten Gütern die Gutsbauern nach der Ordnung von 1861 zu zahlen hatten. 20 Jahre musste diese Steuer ungeändert bleiben, um dann im Jahre 1887 gemäß etwaigen einstweilen eingetretenen Bodenpreisveränderungen möglicherweise eine Erhöhung zu erfahren. Auf Wunsch konnten einzelne von der Zahlung des Obroks durch eine einmalige Einzahlung einer Summe, deren jährlicher Zins dem Obrok gleichkäme, befreit werden. Der gesamte jährliche Pachtzins der ehemaligen Staatsbauern betrug ca. 37,5 Millionen Rubel.

Apanagenbauern gab es im Jahre 1860 insgesamt 870.000 männliche Seelen. Sie bekamen bei ihrer Befreiung ebenfalls fast das ganze Land, das sie in ihrem Leibeigenstande bebauten, im ganzen etwa 4.300.000 Dessjatin, d. h. im Durchschnitt etwa 5 Dessjatin pro Seele.


Ihr Anteilland ging auf Grund von obligatorischen Ablösungszahlungen in ihren Besitz über, wobei die Höhe der Ablösungssummen durch Schätzungen, die schon während der Leibeigenschaft vorgenommen waren, bestimmt wurde, von 2 Rubel 78 Kopeken bis 5 Rubel 57 Kopeken pro Kopf schwankte und im Durchschnitt für alle Apanagegüter 3 Rubel 56 Kopeken pro männliche Seele ausmachte.

Die Zahl der Gutsbauern betrug im Jahre 1860 11.07.000 Personen männlichen Geschlechtes. Nach den auf Grund von Aussagen der Gutsbesitzer selbst von den Gouvernementskomitees gesammelten Daten erstreckte sich das Areal, das in der Nutzung dieser Bauern als Leibeigenen sich befand, über 35,7 Millionen Dessjatin, was im Durchschnitt etwa 3 Dessjatin für jede männliche Person ergiebt. Oben haben wir die Anträge der Redaktionskommission betreffend die Landausstattung der Gutsbauern und die von ihnen zu erhebenden, bereits gekennzeichneten Abgaben. Diese Anträge hatten jedoch sowohl im Hauptkomitee als auch im Reichsrat aus Rücksicht auf die Gutsbesitzerinteressen stärksten Widerspruch hervorgerufen. Trotzdem waren sie mit wenigen Modifikationen, die eine Herabsetzung der Norm des Nadjellands in einigen Gegenden betrafen, durchgedrungen. Immerhin war schließlich in verschiedenen Kreisen eine Kürzung der bäuerlichen Landstücke, welche die Maximalnorm überstiegen, um 1/4 bis zu 1 Dessjatin pro Kopf erforderlich. Dies wurde jedoch dem Ermessen der Gutsbesitzer selbst überlassen, die bei der Abfassung der Urbarialurkunden de facto nicht alle von diesem Rechte Gebrauch machten. Außerdem gelang es bisweilen den Bauern, wie Fürst Wassiltschikow angiebt, bei der Schließung der Ablösungsgeschäfte die bereits abgeschnittenen Bodenstücke zurückzubekommen.

In einzelnen Fällen musste der während der Leibeigenschaft innegehabte Anteil auf Verlangen der Bauern erweitert werden, wenn seine Größe die Minimalnorm noch nicht erreichte und das in Händen des Gutsbesitzers nach Ausscheidung des Ergänzungsabschnittes verbliebene Land nicht weniger als 1/3 des gesamten Gutsareals ausmachte. Doch dürften solche Fälle nach den Angaben, welche der Redaktionskommission zu Gebote standen, nicht sehr häufig vorgekommen sein. Eine bedeutende Verminderung des Landes, welches die Bauern in unmittelbarer Nutzung hatten, ist, wie man sicher behaupten kann, unzweifelhaft dort eingetreten, wo auf Wunsch der Bauern ihnen unentgeltlich sog. Bettelanteile zugemessen wurden. Solche Zwerganteile waren in den Gouvernements Saratow, Samara und Jekaterinoslaw sehr verbreitet, kamen jedoch auch in andern Gouvernements des Steppenund des Schwarzerderayons vor. In den Steppengouvernements, wo ein Überfluß an Land herrscht, verlangten die Bauern hartnäckig die Anweisung von unentgeltlichen Anteilen, da die Befreiung vom Pachtzins ihnen als ein wichtiges Vorrecht erschien und da sie bei den niedrigen Bodenpachtpreisen hoffen durften, stets billiges Pachtland zur Bebauung zu bekommen. In allen andern Gebieten scheint die Verminderung des bäuerlichen Grundbesitzes nach der Reform im ganzen unbedeutend gewesen zu sein. Beträchtliche Kürzungen wurden nur noch in einigen Gütern vorgenommen, in denen das Land von den Gutsbesitzern selbst überhaupt nicht bebaut wurde, sondern das ganze Areal in Nutzung der Bauern gegen Obrok sich befand. Alles in allem bekamen die ehemaligen gutsherrlichen Bauern in den 50 Gouvernements des Europäischen Russlands ein Anteilland von nicht weniger als 35.000.000 Dessjatin, d. h. etwa 3 Dessjatin pro männliche Seele.

Um diese Durchschnittszahl richtig zu würdigen, muss man vorerst die in der russischen Gesellschaft verbreitete falsche Vorstellung über die Größe der Bauernanteile aufgeben. Es wird gewöhnlich angenommen, dass die ungenügende Größe der Anteile, über die die ehemaligen Gutsbauern allerorts sich beklagen, durch die Abschnitte bewirkt worden ist, die bei der Durchführung der Reform im Jahre 1861 vorgenommen wurden. In Wirklichkeit waren indes die durch solche Abschnitte vorgenommenen Verkleinerungen der bäuerlichen Landstücke nicht von Belang, mit Ausnahme der Gegenden, wo den Bauern unentgeltliche Bettelanteile zugewiesen wurden. Die Kleinheit der Anteile der Gutsbauern ist vielmehr im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass diese Bauernanteile auch während der Leibeigenenzeit zur Sicherung ihres Wohlstandes nicht aus reichend gewesen waren. In den Frongütern, die in den Ackerbaugebieten und besonders den Getreide bauenden Gouvernements vorherrschten, war die Größe des Anteiles durch folgenden Umstand bestimmt: der leibeigene Bauer hatte zuerst gemäß der Sitte, später, seit dem Jahre 1797, auf Grund des Gesetzes drei Tage in der Woche Frondienste zu leisten, um die andern drei Tage für die Bebauung seiner Scholle frei zu haben. Infolgedessen wurde das ganze Ackerland des Guts, wenigstens in Zentral-Russland, wo das gutsherrliche Land ziemlich dicht bevölkert war und wo schon das Dreifeldersystem existierte, in zwei gleiche Teile eingeteilt, von denen der eine den gutsherrlichen Acker bildete, während der andere den Bauern zugewiesen wurde. Als Norm wurde anerkannt, dass ein erwachsener Arbeiter mitsamt seiner Frau von jedem Felde (Winter- und Sommersaat) 3 — 4 Dessjatin bebauen und die Ernte von demselben abnehmen kann. Da aber seine Arbeitszeit nur zur Hälfte von seiner Wirtschaft und zur andern von der gutsherrlichen in Anspruch genommen wurde, so bekam er auch nur die Hälfte dieser Norm, d. h. in jedem Feld 1 1/2 — 2 Dessjatin, im ganzen etwa 4 1/2 — 6 Dessjatin, natürlich nur in den Fällen, wenn das Areal des Gutes dazu ausreichte. Dazu kam noch eine Dessjatin Wiesenland, falls das Gut solches in genügendem Maße besaß, und 1/2 — 1 Dessjatin Land für das Wohnhaus, den Gemüsegarten, das Hanffeld und die Weide. Im ganzen wurden einem Arbeiter samt seiner Frau, d. h. dem sog. „Tjaglo“, in der Regel 6 — 8 Dessjatin Land zugewiesen, wobei das Bauernvieh zusammen mit dem des Gutsbesitzers auf allen Feld- und Waldtriften weiden durfte. Im „Tjaglo“ wurden durchschnittlich fünf Personen beiderlei Geschlechts oder 2 1/2 Revisionsseelen männlichen Geschlechts gezählt. Ein Landanteil von 3 Dessjatin pro männliche Seele auf den Frongütern konnte daher als ein an die Norm sehr nahe kommender Anteil betrachtet werden, wenigstens was Zentral-Russland anbetrifft. Es erhellt aber auch gerade aus dieser Berechnung, dass bei einem solchen Umfang des Anteils nur die Hälfte der Arbeitskraft einer Bauernfamilie in der eignen bäuerlichen Wirtschaftverbraucht werden konnte.

Das Ministerium der Reichsdomänen, dem die Staatsbauern unterstellt waren, betrachtete als Norm einen Anteil von 8 Dessjatin pro Seele in den dichtbevölkerten Gouvernements, in den landreichen Gouvernements aber 15 Dessjatin; als Minimalanteil wurde eine Landfläche von 5 Dessjatin angesehen, so dass den Bauern derjenigen Dörfer, wo die Größe des Anteils dieses Maximum nicht erreicht hatte, das Recht erteilt wurde, auf freies, der Krone nicht gehöriges Land zu übersiedeln, wobei ihnen der Staat eine Unterstützung gewährte. Da es in den Krongütern keine vom Gutsbesitzer selbst bebauten Äcker gab, so wurde auch der Bauernanteil so berechnet, dass er alle Arbeitskräfte einer Bauernfamilie in Anspruch nehmen sollte. Daher die auffallende Verschiedenheit in der Landausstattung der ehemaligen Staats- und der ehemaligen Gutsbauern, die bei dem ersten oberflächlichen Einblick in die statistischen Daten über den Grundbesitz der Bauern der beiden Kategorien so sehr überrascht!

Nach Verwirklichung der Bauernreform war die Verteilung des Grundbesitzes in Russland etwa folgende:*)

Den ehemaligen Staatsbauern wurden zugewiesen 74,4 Mill. Dessjatin Land
Den ehemaligen Gutsbauern wurden zugewiesen 35,0 Mill. Dessjatin Land
Den ehemaligen Apanagebauern wurden zugewiesen 4,5 Mill. Dessjatin Land
Im Besitze der Kolonisten (ausländischer Herkunft) **) befanden sich 3.1 Mill. Dessjatin Land
Die von einzelnen Gutsbesitzern vor der Reform vom 19. Februar 1861 befreiten bäuerlichen Eigentümer verfügten über 3,2 Mill. Dessjatin Land
Im Besitze der Krone verblieben 151,5 Mill. Dessjatin Land
Im Besitze der Apanageverwaltung verblieben . 7,5 Mill. Dessjatin Land
Im Besitze der Gutsbesitzer, von Privatpersonen verschiedener Stände und der Städte verblieben 100,0 Mill. Dessjatin Land

*) Im weiteren werden die von Prof. Janson angegebenen Zahlen benutzt.

**) Diese Kolonisten, meist Deutsche und Tschechen, sind schon unter Katharina nach Russland übergesiedelt. Das ihnen angewiesene Land ging von Anfang an in ihren Besitz über.


So war auch nach Einführung der Befreiungsgesetzgebung der größte Grundbesitzer Russlands der Staat, dem fast 40% des gesamten Areals gehörten. Nach der Berechnung von Prof. Janson waren von den 151.684.185 Dessjatin der Staatsländereien etwa 69% Forsten, sowie 28,4% zur Kultur ungeeigneter Boden, und nur 2,6% des gesamten staatlichen Grundbesitzes befanden sich in landwirtschaftlicher Kultur. Die dem Staate gehörigen Ländereien nicht mitgerechnet, kommen in den sechziger Jahren über 55% des gesamten Privatgrundbesitzes auf Rechnung der Bauern, während das Apanageland und das Grundeigentum der Gutsbesitzer und aller andern Privateigentümer, darunter auch der Städte, insgesamt nur 45% ausmachte.

Unmittelbar nach der Verkündigung des Befreiungsmanifestes und des Gesetzes vom 19. Februar brachen an vielen Orten Unruhen und Exzesse aus, die hie und dort durch Anwendung von Waffengewalt unterdrückt werden mussten. Mitunter gab es Tote und Verwundete (so an einer Stelle 50 Tote und 70 Verwundete); an andern Orten wurde von Nagaikas, Kolben, Knute usw. Gebrauch gemacht. Im allgemeinen gab es indes weniger Exzesse, als man erwartet hatte. Alle diese Bauernunruhen erfolgten aus dem einfachen Grunde, weil das ihnen verkündete Gesetz ihren Erwartungen nicht entsprach. Unter der bäuerlichen Bevölkerung waren an zahlreichen Orten Gerüchte im Umlauf gewesen, dass das ganze den Gutsbesitzern gehörige Land in bäuerlichen Besitz übergehen würde, während die Gutsbesitzer vom Zaren ein Gehalt beziehen würden. Die Bauern waren daher sehr unangenehm überrascht, als sie erfuhren, dass sie für das ihnen angewiesene Land nun doch einen Geldobrok zu zahlen und in den ersten zwei Jahren auch selbst ihren Frondienst dort, wo dieser früher üblich gewesen war, weiter zu leisten haben würden. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und die gleichzeitige Beibehaltung der Frondienste auch nur für einige Zeit vermochten die Bauern nicht recht zu fassen. Nachdem sie jedoch am eigenen Leibe durch sehr reale Zeichen belehrt worden waren, dass die neue Ordnung nicht auf Wunsch der Gutsbesitzer, sondern auf Befehl des Zaren eingeführt werde, beruhigten sie sich und begannen, sich den Verhältnissen anzupassen. Die Beseitigung der gutsherrlichen Willkür wurde jedenfalls sofort empfunden, und in der ersten Zeit erschienen das Leben und die Arbeit immerhin angenehmer, als unter der Herrschaft der Leibeigenschaft.

Unterdes wurde die Aufmerksamkeit sowohl der Regierung als der Gesellschaft durch den polnischen Aufstand und innere Wirren abgelenkt, und später, als der Aufstand unterdrückt war, kamen andere Reformen, die gerichtliche und die Semstworeform, an die Reihe. Dann kam der erste Anschlag auf Alexander II. im Jahre 1866 und im Anschluß daran die Reaktion, die sich nicht nur der Regierung, sondern auch der durch eine noch nicht dagewesene Anspannung aller ihrer Schaffenskräfte innerhalb eines ganzen Jahrzehnts sowie durch die Aufregungen und Erschütterungen der letzten Jahre ermüdeten Gesellschaft bemächtigte. Die Ordnung vom 19. Februar 1861 ging allmählich ins Leben über, und die Gutsbesitzer, die sich nun mit dem neuen Gesetz vertraut gemacht hatten, suchten ihre auf Resten von Verpflichtungen und Zwang beruhenden Beziehungen zu den Bauern zu lösen, da diese, im Bewußtsein ihrer Unabhängigkeit von der unmittelbaren Gewalt der Gutsbesitzer, ihre Frondienste dort, wo sie noch beibehalten waren, schlecht erfüllten und die Obroks unpünktlich bezahlten. Die Gutsbesitzer waren daher bemüht, mit den Bauern Ablösungsverträge zu schließen, die in der ersten Zeit auch flott zustande kamen. Wo die Bauern zu einer freiwilligen Ablösung nicht zu bewegen waren, da machten oft die Gutsbesitzer von dem ihnen gewährten Recht, eine zwangsweise Ablösung zu verlangen, Gebrauch. Die Alblösungsoperation war nach dem Gesetz vom 19. Februar auf folgender Grundlage aufgebaut. Geschah die Ablösung nach freiwilliger Übereinkunft mit den Bauern, so hing die Größe der Ablösungssumme ausschließlich vom Ermessen beider vertragschließenden Parteien ab; die Unterstützung der Regieruung konnte jedoch in einem bestimmten Betrage als Anleihe auf das in den Besitz des Bauern übergehende Land gewährt werden. Die Größe dieser Anleihesummen richtete sich nach der Höhe des für den abzulösenden Landanteil festgesetzten Obroks. Dieser wurde nach einem Satz von 6% kapitalisiert, also mit 16 2/3 multipliziert. Von dem auf diese Weise berechneten Betrage gewährte die Regierung 4/5 bei der Ablösung eines ganzen Landanteils und 3/4 bei der Ablösung eines Teiles desselben; das verbliebene 1/5 oder 1/4 mussten die Bauern selbst abzahlen. Wenn dagegen die Ablösung ohne Einwilligung der Bauern auf einseitiges Verlangen des Gutsbesitzers erfolgte, dann musste dieser mit der staatlichen Anleihe ohne den Zuschuß seitens der Bauern sich begnügen. Indes gingen viele Gutsbesitzer darauf ein, um nur ihre Zwangsbeziehungen mit den Bauern loszuwerden und eines Kapitals habhaft zu werden; dieses wurde ihnen aber nur teilweise in bar oder in Wertpapieren ausgeliefert, größtenteils bestand es aus Ablösungsscheinen, die 5% jährlich eintrugen, die jedoch gesetzlich nur wie Immobilien veräußerlich waren. Trotz dieser Einschränkung, die die Anziehungskraft der Ablösung in den Augen der Gutsbesitzer beträchtlich verminderte, ging das Ablösungsgeschäft so erfolgreich vor sich, dass schon in den ersten 5 Jahren nach Abschaffung der Leibeigenschaft 1/3, innerhalb der ersten 10 Jahre sogar 2/3 aller Bauernanteile aus dem früheren Verhältnis zur Ablösung gelangt waren.

Bauern, die einen Ablösungsvertrag geschlossen hatten, traten aus der Kategorie der zeitweilig verpflichteten Bauern (d. h. ständiger Pächter) in die der bäuerlichen Grundbesitzer über und hatten statt des Obroks an den Gutsbesitzer im Laufe von 49 Jahren ihre Ablösungszahlungen an die Staatskasse zu entrichten. Die letzteren wurden zu 6% des von der Regierung gewährten Ablösungsdarlehns festgesetzt, von welchen 5% zur Deckung des Zinses für die Einlösungsscheine und 1% zur Tilgung des Darlehens und zur Deckung der sonstigen, durch die Operation verursachten Kosten bestimmt waren. Diese Ablösungszahlungen, für deren Festsetzung die Höhe des Obroks maßgebend war, wobei letzterer seinerseits nicht nach dem Ertrag oder Wert des Grund und Bodens, sondern ausschließlich nach einem von uns oben dargestellten Gradationssystem berechnet wurde, erwiesen sich sehr bald als über die Kräfte der Bauern weit hinausgehend.

Bald kam auch die erste Verwarnung an die Regierung und die Gesellschaft, die schon von vornherein auf die traurige Lage, in welche die Bauern vieler Gouvernements durch die zu dem Ertrag ihrer armseligen Anteile in keinem Verhältnis stehenden Steuern und Zahlungen versetzt waren, aufmerksam gemacht hatte. Als im Jahre 1867 eine Missernte eintrat, hatte diese im Gouvernement Smolensk eine richtige Hungersnot zur Folge. Gleich darauf folgte noch ein zweites weit eindringlicheres Wahrzeichen in der Hungersnot, die nach zweimaliger Mißernte in dem als eine der zuverlässigsten Kornkammern Russlands betrachteten Gouvernement Samara im Jahre 1873 ausbrach. Zur Hilfeleistung an die notleidende Bevölkerung musste außer den aus dem kaiserlichen Verpflegungsfonds und der Staatskasse gewährten beträchtlichen Summen auch die Privatwohltätigkeit angerufen werden. Die Regierung schenkte jedoch diesen ersten Warnungszeichen kein Gehör: sie war zu tief in die Reaktion versunken, und das Ministerium des Innern konzentrierte einseitig alle seine Kräfte auf die polizeiliche Beschützung der bestehenden Ordnung und Ausspürung der aufrührerischen Elemente und achtete nicht auf die beunruhigenden Symptome der abnormen Verhältnisse der Volksmassen.

Die im Jahre 1866 eröffneten Semstwos suchten unermüdlich die Regierung über die wirkliche Lage der Dinge aufzuklären. Ja, schon im Jahre 1862 hatten die fortschrittlichen Elemente des Adels der Regierung in Form von energischen und kühnen Kudngebungen der Adelsversammlung von Twer ihre Ansicht über die Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit der Reform von 1861 kategorisch ausgesprochen und die Notwendigkeit einer vollständigen und einmaligen Liquidierung der Leibeigenschaft, sowie die Unerlässlichkeit einer Umgestaltung des Steuersystems auf gerechterer und mehr demokratischer Grundlage betont, zu welchem Behuf sie die Einberufung von Volksvertretern aus allen Schichten der Bevölkerung verlangten. Als die von der Steuerkommission ausgearbeiteten Bestimmungen im Jahre 1870 den Semstwos zur Begutachtung übergeben wurden, schlugen diese einmütig eine radikale Reform des Steuersystems unter Ersetzung der Seelensteuer durch eine Einkommensteuer vor. Allein alle diese Kundgebungen und Anträge wurden von der Regierung keiner Beachtung gewürdigt oder als Begleiterscheinung des verhassten aufrührerischen Geistes betrachtet.

Die Presse, in der seit dem Ende der fünfziger Jahre allmählich sozialpolitische Richtungen und Fraktionen aller Schattierungen mit ernster politischer Gesinnung hervorzutreten begannen, suchte ihrerseits ungeachtet der zahlreichen Zensurschwierigkeiten und Hindernisse die wirkliche Lage des Volkes aufzudecken und ihre Stimme zum Schutze seiner Lebensbedürfnisse zu erheben. Aber auch diese literarischen Aufklärungen galten der Regierung ausschließlich als Ausfluss derselben, der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung feindlichen Kräfte, die der Ausrottung und Erdrückung zu unterliegen hätten. Mitte der siebziger Jahre erschienen ernste wissenschaftliche Arbeiten, so von Professor Janson „Versuch einer statistischen Untersuchung über die Bauernanteile und Zahlungen“, und von Fürst A. J. Wasiltschikow „Grundbesitz und Landwirtschaft in Russland und den andern europäischen Staaten“. Aus beiden erfolgte mit Evidenz, dass die Zahlungen der Bauern vieler Gouvernements den Ertrag der ihnen angewiesenen Landanteile weit übertrafen, während sie in manchen Gegenden auch unter Zuhilfenahme alles außer-landwirtschaftlichen Verdienstes der Bauern nicht ohne Rückstände bestritten werden konnten.

Diese Arbeiten machten auf die Gesellschaft einen sehr tiefen Eindruck; die Regierung allerdings war geneigt, auch in ihnen nur unangenehme Ausschreitungen feindlich gesinnter Personen zu sehen.

Durch die Reaktion, welche während des polnischen Aufstandes eingesetzt und im Jahre 1866 festen Fuß gefaßt hatte, war auch die liberale Richtung, welche die Fortsetzung der nach Abschluß des Krimkrieges begonnenen demokratischen Reformen und die Einführung freier Einrichtungen im gesellschaftlichen und politischen Leben Russlands anstrebte, völlig unterdrückt. Die Stimmen der Landschaften wurden durch eine Reihe von Repressalien und Beschränkungen zum Schweigen gebracht, so dass die besten und unabhängigsten Elemente das Semstwo verließen. Die unabhängige Presse verstummte oder vermochte ihre Ansichten nur in allegorischer, dem weiteren Publikum wenig verständlicher „Äsopsprache“ zum Ausdruck zu bringen.

Der radikalere Teil der Gesellschaft aber und insbesondere die aus den Universitäten massenweise ausgewiesene studierende Jugend konnte sich bei dieser Sachlage nicht beruhigen. In den volkstümlichen Idealen erzogen, die der russischen Literatur von Tschernyschewsky und Dobroljulubow vermacht und von Lawrow und Michajlowsky in ein System gebracht waren, stürzte sich die Jugend, die aus den Universitäten, welche der bekannte Obskurant Graf D. A. Tolstoj, der damalige Minister der Volksaufklärung, unschädlich zu machen sich bemühte, ausgewiesen war, Anfang der siebziger Jahre unter das Volk, wobei diese Bewegung im Frühling 1874 einen Massencharakter annahm. Viele Teilnehmer dieser Bewegung gingen unter die Bauern mit friedlichen Zwecken, vom Wunsche beseelt, im Volke aufzugehen, mit ihm sein Leben zu teilen und ihm alle Kräfte zu widmen.

Der Polizei gelang es jedoch, ihrer sehr bald habhaft zu werden und sie den Gefängnissen zu übergeben. Nach offiziellen Angaben waren im Jahre 1874 über 700 solcher Narodniki abgefangen. Dadurch zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit unorganisierter Tätigkeit gebracht, gründeten die Volkstümler nach zwei Jahren eine geheime Gesellschaft „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) und begaben sich wiederum aufs platte Land, diesmal mit bestimmteren Propagandaabsichten. Indes auch dieses ihr Beginnen war von Misserfolg begleitet: einerseits war die Polizei auf der Hut, und andererseits war das Volk zur Aufnahme einer sozialistischen Propaganda völlig unreif. Die Bauern hegten noch immer Hoffnungen auf Verbesserung ihrer Lage durch die Regierung, während sie von den Gebildeten, die sie in ihrer Vorstellung von den „Herren“ nicht zu scheiden verstanden, nichts Gutes zu erwarten gewohnt waren. Es kam vor, dass die Bauern selber die Revolutionäre fesselten und der Obrigkeit überlieferten. Die Revolutionäre hatten unter zwei Systemen zu wählen: entweder mussten sie sich einer friedlichen und loyalen Kulturarbeit auf dem Lande widmen, oder aber alle ihre Schläge direkt gegen die bestehende Regierung richten. Der erste dieser Auswege war nunmehr für sie versperrt, und ihre Stimmung entsprach auch keineswegs einer friedlichen Wirksamkeit mit fern abliegenden Aussichten auf Erfolg. So wandten sie sich dem zweiten Wege zu. Schon in der Partei „Semlja i Wolja“ existierte von Anfang an eine sogenannte „desorganisatorische“ Gruppe, die eine Reihe von terroristischen Anschlägen unternommen hatte. Im Jahre 1879 fand die bekannte Zusammenkunft der Revolutionäre in Lipezk statt, auf der der Grundstein zu einer reinen Kampfesorganisation „Narodnaja Wolja“ gelegt wurde, die zwar das Programm der „Volkstümler“ beibehielt, alle ihre Kräfte aber auf den terroristischen Kampf konzentrierte. Die von diesem Kampfe ermattete Regierung fühlte sich nun bewogen, an der Gesellschaft, die sie noch eben schmählich behandelt hatte, einen Stützpunkt zu suchen. Allein die Gesellschaft, durch den russisch-türkischen Krieg und den für das russische Nationalgefühl verletzenden Berliner Kongress aufgerüttelt, war bereits aus dem Zustande der Apathie und des Stillstandes, in den sie in den sechziger Jahren versunken war, herausgekommen. In Beantwortung des Regierungsappells stellte sie durch die fortschrittlichen Semstwoelemente die Forderung, dass die Regierung in der inneren Politik einen anderen Kurs einnehmen und auf die Bahn der unvollendet gebliebenen Reformen zurückkehren sollte. Jetzt wurde die Stimme der Semstwos erhört, und der zur Bekämpfung der revolutionären Bewegung mit Diktatorvollmachten ausgestattete Loris-Melikow erhielt von der Regierung den Auftrag, eine Annäherung zwischen der Regierung und den fortschrittlichen Elementen der Gesellschaft anzubahnen. Die darauf folgende kurze Ära der liberalen Einflüsse brachte wieder die Bauernfrage in die erste Reihe. Den Landschaften wurde vorgeschlagen, die Grundlagen einer Reform der bäuerlichen Institutionen zu beraten, während die zur Revidierung einer Anzahl von Gouvernements entsandten Senatoren den Auftrag erhielten, der Lage der Bauern am Orte und der unter ihnen herrschenden Gesinnungen die weitgehendste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Der von Loris-Melikow geplanten Aussöhnung des Volkes und der Gesellschaft war es jedoch nicht beschieden Wirklichkeit zu werden. Sein Plan war gleich in seinen Anfängen durch die furchtbare Katastrophe vom 1. März 1881 zum Stillstand gebracht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Bauernfrage