Die rechtliche Lage der russischen Bauern

Was die rechtliche Lage der Bauern betrifft, so war sie schon in den siebziger Jahren vom Semstwo und von der fortschrittlichen Presse als unzulänglich bezeichnet. Sowohl die Landschaften als die Publizistik hörten nicht auf, die Notwendigkeit einer rechtlichen Gleichstellung der Bauern mit den übrigen Ständen zu betonen und die völlige Abschaffung der ständischen Absonderung, wie sie sich auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten hatte, hervorzuheben. In der Epoche der liberalen Strömungen von 1880 unter Loris-Melikow wandte die Regierung diesen Vorschlägen zum ersten Male eine gewisse Aufmerksamkeit zu. Die Landschaften wurden damit betraut, die Grundlagen zu einer Reform der administrativen Ordnung der Bauern zu beraten. Aber noch ehe sie der Regierung die Ergebnisse ihrer Arbeiten mitzuteilen vermochten, kam die Katastrophe vom 1. März 1881, die liberale Strömung verflog mit einem Male, und Loris-Melikow verließ seinen Posten.

Die vollständige Reaktion trat indes, wie wir schon erwähnt haben, nicht sofort ein. Die Schlußfolgerungen der Semstwos nebst den Ergebnissen der Revisionen, welche Senatoren im Auftrage von Loris-Melikow vornahmen, wurden einer besonderen Kommission unter dem Vorsitz des Staatssekretärs Kochanow übergeben, und die Kommission wurde beauftragt, den Entwurf einer Reform der lokalen Verwaltung und der administrativen Ordnung der Bauern anzufertigen.


Aus dieser Kommission heraus wurde eine besondere Beratungsinstanz ausgeschieden, welche die Entwürfe einer Umwandlung der Dorfgemeinde und Wolost aus abgesonderten ständischen Institutionen in nichtständische ausarbeitete. Man gedachte, die Dorfgemeinde nach Selbstverwaltungsgrundsätzen zu organisieren und sie zur Urzelle der ganzen lokalen Selbstverwaltung zu machen, die Wolosten aber in einfache territorielle Unterabteilungen des Kreises umzuwandeln und an ihre Spitze besondere, in den Kreissemstwoversammlungen zu wählende Amtspersonen — Wolostele — zu stellen, um verschiedene landschaftliche Wirtschaftsinstitute zu verwalten. Alle diese Pläne sind indes nicht in die Wirklichkeit umgesetzt worden. Als deren Ausarbeitung im Jahre 1884 beendet war, stand bereits an der Spitze des Ministeriums des Innern der unbeugsame Reaktionär Graf D. Tolstoi, so dass der Kachanowschen Kommission neue Mitglieder mit bestimmten ständisch-konservativen Tendenzen beigefügt wurden.

Die Vorschläge, welche die spezielle Beratungsinstanz ausgearbeitet hatte, fanden nicht die volle Zustimmung der Kommission. Eines ihrer Mitglieder, der Simbirsker Gutsbesitzer A. D. Pasuchin, kam mit einem Projekt hervor, in dem er gegen die demokratischen Tendenzen der Reform der sechziger Jahre auftrat und zur Rettung Russlands und zur Festigung der erschütterten Grundfesten des Reiches die Wiederherstellung und Stärkung der Ständeordnung forderte. Diese Ideen fanden den vollen Beifall Tolstois und des Kaisers Alexander III. selbst. Pasuchin wurde zum Leiter der Kanzlei des Ministeriums des Innern und mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes über die neue administrative Verfassung der Bauern betraut. Das Endergebnis war die Einführung der Landhauptmänner. Nach dieser Ordnung wurde jeder Kreis in aus mehreren Wolosten bestehende Bezirke eingeteilt, an deren Spitze die Landhauptmänner gestellt wurden. Diese wurden nach den Vorschlägen des Gouverneurs, der sich mit den Adelsmarschällen darüber zu beraten hatte, aus den örtlichen Adligen designiert. Der Landhauptmann bekam eine große Macht und übte eine gewisse Vormundschaft über alle Bauern und Bauernanstalten seines Bezirkes aus. Er ward befugt, sich in die Angelegenheiten der Dorf- und Wolostzusammenkünfte einzumischen, ihre Beschlüsse zu kontrollieren und diejenigen von ihnen, welche er für ungesetzliche oder den Bedürfnissen und dem Wohle der Bauern nicht entsprechende hielt, der Kreiszusammenkunft der Landhauptmänner zur Annullierung zu unterbreiten. Die Bauern seines Bezirkes durfte der Landhauptmann für Ungehorsam gegen seine Befehle, für Trunksucht und Unfug auf disziplinarischem Wege mit Haft- und Geldstrafen belegen. Zugleich war in seinen Händen eine bedeutende zivilund kriminalgerichtliche Macht konzentriert; denn mit der Einsetzung der Landhauptmänner war das Institut der Friedensrichter abgeschafft, und ein erheblicher Teil ihrer Kompetenz ging an jene über.

Neben der Ordnung über die Landhauptmänner, deren Einführung Alexander III. entgegen der Meinung von 3/4 der Staatsratsmitglieder genehmigt hat, bestand auch die Absicht, die Semstwos völlig umzugestalten, sie auf ständischer Grundlage zu reorganisieren und der Ortsverwaltung vollständig unterzuordnen. Ehe indes dieser Plan verwirklicht wurde, starb Tolstoi. Die Semstwos wurden darum nicht mehr so verunstaltet, wie es der reaktionäre Minister gewünscht hatte, aber die Anteilnahme der Bauern an denselben wurde bis auf ein Mindestmaß beschränkt. Die Verordneten der Bauern waren nicht mehr von ihnen gewählte Vertreter, sondern wurden vom Gouverneur ernannt.

Auch abgesehen von der Ordnung über die Landhauptmänner, wurde das System der Bevormundung und der kleinlichen Einmischung in das innere Leben der Bauern und Bauerngemeinden um diese Zeit in einer Reihe anderer Gesetzentwürfe durchgeführt. Die Familienteilungen der Bauern wurden von den Dorfzusammenkünften abhängig gemacht und von denselben Landhauptmännern kontrolliert. Desgleichen mussten in den Dörfern, in welchen der Gemeindegrundbesitz sich erhalten hatte, die Umteilungen der Pertinenzen unter den Gemeindegenossen derselben Kontrolle unterliegen. Das Anteilland der Bauern erklärte man für unveräußerlich. In den Wolostverwaltungen bekamen die Landhauptmänner uneingeschränkte Herrschaft. Mit einem Wort, im Institut der neuen Machthaber sollte nach der Absicht seiner Schöpfer die Idee einer „dem Volke nahestehenden und festen Gewalt“ verwirklicht werden.

Es braucht kaum gesagt zu werden, dass diese Gewalt in der Praxis zu einem organisierten Willkürsystem ausgewachsen ist, das zudem in deutlicher Weise die Interessen der adligen Gutsbesitzer zu schützen suchte. Bereits nach Verlauf eines kurzen Zeitraumes machten die zahlreichen Missbräuche und die verschiedensten Heldentaten der Landhauptmänner dieses Institut in den Augen sowohl der bäuerlichen Bevölkerung als auch aller unabhängigen und ehrlichen Leute verhaßt. Trotz alledem existiert es nicht nur bis auf den heutigen Tag, ist nicht nur unangetastet, sondern hat noch vor kurzer Zeit — erst vor drei Jahren — einen neuen Verwaltungszweig, nämlich das Verpflegungswesen, erhalten, das früher dem Semstwo unterstanden hatte.

Der Bauer gilt zwar in der Gegenwart als frei, in Wirklichkeit jedoch ist er nach demselben Gesetze in seinem Leben und in seiner Wirksamkeit durch eine ganze Reihe mehr oder minder beschränkender Vorschriften und Maßnahmen gebunden. Die Kopfsteuer ist wohl schon im Jahre 1885 abgeschafft, aber die aus der Voremanzipationszeit übernommene Auffassung von den Steuerständen, d. h. von den nicht bevorrechteten und also in Wirklichkeit unfreien Ständen, kann noch nicht als aufgegeben gelten. Die Naturalsteuern, namentlich die Instandhaltung der Wege, wo sie in natura geschieht, fallen noch immer den nichtprivilegierten Steuerständen zur Last. Bis 1904 unterlagen diese Stände der solidarischen Haft, und jede Person, die nicht einem der bevorrechteten Stände angehörte, musste dieser oder jener Gemeinde zugeschrieben werden. Die Ausscheidung aus einer Gemeinde in eine andere war an eine ganze Reihe von Formalitäten und Schwierigkeiten geknüpft; dazu muss der Bauer bis heute die durch einen besonderen Beschluß erteilte Einwilligung sowohl der Gemeinde, aus der er austritt, als derjenigen, in welche er eintritt, haben. Nach Abschaffung der Solidarhaft sollte man glauben, dass der Aufhebung dieser beschränkenden Bestimmungen nichts mehr im Wege liegt, aber sie bestehen noch fort.

Dies ist nicht genug. Selbst ein zeitweiliges Sichentfernen eines Bauern aus dem Dorfe hängt nach dem gültigen Paßsystem bis jetzt von den Dorfund Wolostgewalten ab.

In den großund weißrussischen Gouvernements, in denen der Gemeindegrundbesitz herrschend ist, besitzt ein Bauer, wenn er auch Dutzende von Jahren die Ablösungszahlungen für seinen Anteil entrichtet hat, nicht das Recht auf Veräußerung seines Bodens. Der Anteil verfällt der Gemeinde, und die bezahlten Lösegelder werden nicht zurückerstattet.

In der Ordnung vom 19. Februar 1861 gab es einen Artikel, der jedem einzelnen den Loskauf des Bodens vor Ablauf der Ablösungsfrist zuließ. Die Gemeinde war verpflichtet, solchen Bauern die losgekauften Bodenstücke in Einzelbesitz zu überlassen. Im Jahre 1893 aber wurde dieser Artikel aufgehoben. So kann der Bauer den Anteil, für den er die Ablösungssummen vor Ablauf der Ablösungsoperation voll und ganz ausbezahlt hat, nur mit Zustimmung der Gemeinde herausbekommen. Nun muss man dessen eingedenk sein, dass der Gemeindebesitz fast immer mit Gemenglage und Zersplitterung der Landstücke verbunden ist und deswegen stets zum Flurzwang führt, dass ferner die periodischen Umteilungen der Pertinenzen, welche die Bauernversammlungen zu bestimmen haben, in der Praxis ein unabwendbares Hindernis gegen jede Art von Meliorationen sind.

Von großem Übel ist auch die Unterordnung der Bauern unter das spezielle ständische Wolostgericht. Dieses soll sich zwar nach der Sitte richten, aber in Wirklichkeit verfährt es oft ganz willkürlich. Mißbräuche sind dort fortwährend zu konstatieren, da unter den Analphabeten oder den kaum des Lesens und Schreibens Kundigen der Wolostschreiber eine besondere Rolle spielt, der nach freiem Vertrag angestellt und meist nach Gutdünken des Landhauptmanns in seiner Stellung verbleibt oder abgesetzt wird. Diese Unterordnung beraubt den Bauer bei zahlreichen geringfügigen, aber für sein Leben höchst wichtigen Umständen des Schutzes einer unabhängigen und niemand vorziehenden allgemeinen und gleichen Gerichtsbarkeit.

Bis zum Jahre 1904 konnte dieses Gericht jeden unter sechzig Jahre alten Bauer der erniedrigenden Prügelstrafe unterziehen.

Die Abnormität einer solchen Rechtslage der Bauern war und ist bis auf den heutigen Tag naturgemäß ein gewaltiges und fast unbezwingbares Hindernis jedes landwirtschaftlichen Fortschrittes.

Die Presse und die im Semstwo verkörperte Gesellschaft haben diese Übelstände oft gerügt. Nach der durch eine zweijährige Mißernte in vielen Gouvernements hervorgerufenen Hungersnot von 1891 — 1893 begannen auch verschiedene Männer aus den höchsten Verwaltungskreisen die Notwendigkeit mancher Reformen im Rechtsleben des Dorfes einzusehen.

Im Jahre 1893 sprach sich der Staatsrat dafür aus, dass die Bauernordnung einer abermaligen Durchsicht bedürfe. In Anbetracht der völligen Passivität und Unbeweglichkeit des bureaukratischen Mechanismus, der das Schicksal des russischen Reiches bestimmt, ist indes dieser Hinweis einige Jahre hindurch ohne jegliches Resultat geblieben. Allein im Jahre 1898, als eine neue große Missernte eingetreten war, begann auch der Finanzminister Witte mit Rücksicht auf die immer wachsenden Steuerrückstände die Notwendigkeit zu betonen, dass die im Dorfe herrschenden Rechtsverhältnisse umzugestalten seien. Zugleich kam er mit dem Gedanken, dass eine spezielle und unabhängige Kommission zur Aufklärung der Ursachen des Landwirtschaftsverfalls in Russland zu bilden sei.

Nach langjährigem Zweifel und Schwanken ward eine solche Kommission unter dem Vorsitz von Witte selbst endlich im Jahre 1902 gebildet. Indes zugleich mit dieser Kommission und gleichsam im Gegensatz zu ihr wurde innerhalb des Ministeriums des Innern eine andere Kommission zur Durchsicht der Bauernordnung unter dem Vorsitz des Ministers des Innern Ssipjagin eingesetzt. Ssipjagin wurde kurz darauf ermordet, und sein Nachfolger W. K. von Plehwe war der kräftigste Gegner von Wittes Plänen und der eifrigste Verfechter der Prinzipien der herrschenden Gesetzgebung in Bezug auf die Bauern.

Ohne die Durchsicht der Ordnung vom 19. Februar als ganz unnötig zu bezeichnen, behauptete er jedoch, dass die Grundlagen unangetastet bleiben müssen. Als solche Hauptpunkte betrachtete er: die Abgesondertheit und den ständischen Charakter der bäuerlichen Verwaltung, die Unveräußerlichkeit der Bauernländereien und die Erhaltung der Gemeindeordnung. Obwohl alle diese Merkmale in der Bauernverfassung erst zur Reaktionszeit die vorherrschenden geworden waren, gelang es Plehwe trotzdem, diese Prinzipien zur Grundlage der Arbeiten der von ihm beeinflußten Kommission zu machen.

Als nun die auf Antrag einer speziellen, von Witte geleiteten Konferenz gebildeten Kreisund Gouvernementskomitees laut und einmütig diese Grundsätze zu verurteilen und die Notwendigkeit einer Erneuerung der ganzen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Russland zu betonen anfingen, scheute Plehwe nicht davor zurück, gegen die Kühnsten unter ihnen zu äußerst schroffen Repressalien zu greifen. Erst nach dessen gewaltsamem Tode versuchte Witte wiederum die Frage einer Ausgleichung der Bauern in allen Rechten mit den übrigen Bürgern des Reiches aufs Tapet zu bringen.

Diese von Witte in einer besonderen Denkschrift ausgesprochenen Ideen fanden im bekannten Ukas vom 12. Dezember 1904 eine gewisse Verwirklichung. Darin hieß es, dass die Bauernfrage die Hauptsorge des Monarchen bilde. Die Revision der bäuerlichen Rechtsverhältnisse solle — so wurde bestimmt ausgesprochen — „ diese mit der allgemeinen Gesetzgebung des Reiches in Einklang bringen und mit dazu beitragen, dass die dem Bauernstande vom Zaren-Befreier (Alexander II.) verliehene Stellung von vollberechtigten freien Dorfinsassen sich einbürgere.“

Darauf begann jedoch die Regierung von neuem zu schwanken. Der Minister des Innern Swjatopolk-Mirsky suchte sogar durch besonderes Zirkular zu beweisen, dass zwischen dem Erlasse vom 12. Dezember und den Prinzipien, welche der Arbeit der Kommission des Ministeriums des Innern zugrunde gelegen hatten, kein Widerspruch bestehe. Diesem Rundschreiben hat natürlich niemand Glauben geschenkt. Aber die Frage bleibt bis auf den heutigen Tag ungelöst.

Ebenso unentschlossen und ausweichend sind die Schritte, welche die Regierung in der letzten Zeit auch auf dem Gebiete der Agrarfrage unternommen hat.

In Anbetracht der Bauernunruhen, welche in verschiedenen Gouvernements stattgefunden, und der Erklärungen, welche die Semstwoleute andererseits abgegeben hatten, sah sich die Regierung gezwungen, auch in dieser Frage in diesem oder jedem Sinne eine Entscheidung zu treffen.

Gegen die Bauernunruhen, welche 1902 in den Gouvernements Poltawa und Charkow ausgebrochen waren, traf sie die strengsten Repressivmaßregeln, indem sie unter anderem die bäuerliche Bevölkerung mit Militäreinquartierungen behelligte. Die Schäden, welche die Gutsbesitzer davongetragen hatten, wurden ihnen von der Regierung ersetzt, während sie die Bauerngemeinden, die an der Plünderung des gutsherrlichen Eigentums teilgenommen hatten, mit einer Kontribution belegte, die von ihnen unter Anwendung der Solidarhaft eingezogen wurde.

Im laufenden Jahre 1905 haben sich ähnliche Wirren wiederholt, die in einigen Gegenden zu Plünderungen von Gutshöfen und zu massenhaften Fällungen von Gutsbesitzerwäldern geführt haben. Durch Befehl vom 10. April 1905 ward angeordnet, dass zur Erforschung dieser Unruhen und zur Feststellung der Personen, die an den Ansammlungen der Exzedenten beteiligt gewesen waren, in den Kreisen besondere Kommissionen, bestehend aus lokalen Beamten und Gutsbesitzern, unter Vorsitz der Kreisadelsmarschälle gebildet werden sollten. Dieselben Kommissionen wurden beauftragt, den von den Gutsbesitzern erlittenen Schaden zu bestimmen und vom beweglichen und unbeweglichen Eigentum aller Mitglieder der Dorfgemeinden, die den Ansammlungen der plündernden und raubenden Exzedenten beigewohnt hatten, einzuziehen.

Dieser Ukas stellt demnach für alle diese Fälle die eben aufgehobene Solidarhaft in ihrer ungerechtesten Form wieder her. Was außerdem diesen Erlaß zu einem außerordentlichen stempelt, ist die Aufhebung aller gesetzlichen und regelrechten Wege und Formen der gerichtlichen Verfolgung. Statt des üblichen Rechtsweges werden temporäre Gerichte von Leuten eingesetzt, die offenbar nicht imstande sind, objektive und leidenschaftslose Urteile zu fällen. So wurden sie neulich von einem hervorragenden Semstwomann als organisierte Willkürgerichte bezeichnet.

Im Bestreben, den in der Bauernschaft überhandnehmenden aufrührerischen Geist zu bannen, sucht jedoch die Regierung den Bauern ihr Wohlwollen für deren materielle Bedürfnisse zu zeigen. Zu diesem Behufe ist vor kurzem eine spezielle Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Ministers des Innern Goremykin, der in den höheren Sphären als „ patentierter Kenner“ der Bauernsache gilt, niedergesetzt worden.

Durch Reskript erhielt Goremykin den Auftrag, in diesem Ausschusse alle möglichen Maßnahmen zur Festigung des bäuerlichen Wohlstandes zu beratschlagen, mit dem Vorbehalt jedoch, dass die Bodenbesitztümer von Privatpersonen unangetastet bleiben und die den Bauern früher zugewiesenen Ländereien von ihnen gänzlich geschieden werden sollten... Die Kommission hatte die Aufgabe, die Bauern bessere Methoden der Ausnutzung ihrer eigenen Anteile zu lehren (!):

in Fällen aber, wo diese Anteile sich entschieden als unzureichend erweisen sollten, empfahl die Regierung die schon oft erprobten Mittel der Auswanderung, der Verteilung der Bevölkerung und des Bodenankaufs nach freiwilliger Vereinbarung mit den Besitzern vermittelst der Bauernbank in Anwendung zu bringen.

Wir haben oben gesehen, was von allen diesen Methoden zu erwarten ist. Es wäre darum zu naiv anzunehmen, dass das an Goremykin gerichtete Reskript bei den Bauern, die den Glauben an solche Palliative verloren haben und an vielen Orten erbittert sind, eine günstige Aufnahme finden könnte.

Eine gründliche Bauernreform ist tatsächlich unaufschiebbar; aber nicht die jetzige bureaukratische Regierung vermag sie zu verwirklichen. Nur freigewählte Vertreter des Volkes werden dies Problem zu lösen imstande sein.

Ein Teil dieser Aufgabe — die Abschaffung jeder ständischen Absonderung der Bauern und deren völlige Gleichstellung mit allen Bürgern des russischen Reiches — wird im verjüngten Russland keine Hindernisse finden. Anders steht es mit dem agrarwirtschaftlichen Problem, das viel komplizierter ist und bei seiner Lösung unbedingt auf eine Reihe von entgegengesetzten Privatinteressen und Vorurteilen stoßen wird. Trotzdem glauben wir, dass auch diese Seite der Frage eine befriedigende Lösung finden wird. Unsere diesbezügliche Überzeugung beruht nicht nur darauf, dass die rationelle Lösung des agrarwirtschaftlichen Problems von den elementarsten Forderungen der Gerechtigkeit diktiert wird, sondern auch deswegen, weil die Festigung des bäuerlichen Wohlstandes für die normale Entwicklung aller Volkswirtschaftszweige notwendig ist. Dies werden die freigewählten Vertreter des Volkes zweifellos einsehen und sicherlich die Begriffe der Bevormundung und Reglementierung, die bei unserer Bureaukratie so beliebt und ihr so vorteilhaft sind, ganz und gar ablehnen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Bauernfrage