Die Bauernfrage - materielle Bedürfnisse der russischen Bauern

Der Zar Alexander III. zeigte sich nicht geneigt, den von Loris-Melikow beschrittenen Weg fortzusetzen; er beeilte sich vielmehr, auf die Bahn der Reaktion und der Repressalien zurückzukehren, auf der er bis zum Ende seiner Regierung verblieb. Einen Punkt jedoch gab es in der Bauernfrage, dessen rationelle Lösung auch er als unaufschiebbar anerkannte. Dies war die materielle Seite der Frage. Die Befriedigung der unabweisbaren materiellen Bedürfnisse der Bauern widersprach ja an sich auch keineswegs dem System einer festen Gewalt und einer allgemeinen administrativen Bevormundung, als deren Anhänger Alexander III. schon in seinem ersten Manifeste sich gab. Er fand jedoch nicht von vornherein in seiner Umgebung hinreichend konsequente Vollbringer des reaktionären Systems, als dessen überzeugter Anhänger er sich offenbarte. Die ersten von ihm eingesetzten Minister, Graf N. P. Ignatiew und N. Ch. Bunge, sind eigentlich nicht als Reaktionäre zu bezeichnen: jener zeigte sich liberal-slawophilen Plänen, so den Beratungen von sachkundigen Semstwomännern gewogen, während Bunge zu humanitär-wirtschaftlichen Maßnahmen neigte, die er jedoch mit so wenig Entschlossenheit in Form von Palliativmaßregeln zu verwirklichen suchte, dass sie dem Volke keinen wesentlichen Nutzen bringen konnten. Bei diesen, die erste Hälfte der achtziger Jahre kennzeichnenden Maßnahmen müssen wir hier etwas länger verweilen. Die erste derselben war das Gesetz vom 28. Dezember 1881 über die obligatorische Ablösung, das zugleich die Ablösungszahlungen der Bauern herabsetzte. Nach der Ordnung vom 19. Februar 1861 sollten die für die Bauernanteile festgesetzten Obroks im Jahre 1881 gemäß den veränderten Getreidepreisen umgeschätzt werden. Im Jahre 1881 hatten indes bereits über 85% der ehemaligen Gutsbauern die Ablösung ihrer Landanteile begonnen, und die Regierung zog es vor, statt einer Umschätzung des Obroks auch bei den übrigen 15% die Ablösung durchzuführen. Da die festgesetzten Ablösungszahlungen auch dem Finanzminister die Kräfte der Bauern bei weitem zu übersteigen schienen, so schlug er eine allgemeine Ermäßigung zu je 1 Rubel für den Seelenanteil in den zentralrussischen und von 16% vom Rubel in den kleinrussischen Gouvernements vor. Es muss jedoch bemerkt werden, dass diese Ermäßigung ohne jedes Opfer für die Staatskasse geschehen konnte, da der Ausfall durch die zu dieser Zeit bereits angesammelten Einkünfte der Ablösungsoperation vollständig gedeckt wurde.

Viel wichtiger ist die ebenfalls von N. Ch. Bunge durchgeführte Steuerreform. Die Frage der Abschaffung der Kopfsteuer, die schon in den sechziger Jahren erhoben wurde, hatte nicht nur eine fiskalische, sondern auch eine gewaltige rechtlichkulturelle Bedeutung, da durch die seit Peter auf den sogenannten Steuerständen lastende Kopfsteuer eine Reihe von Beschränkungen der persönlichen Freiheit für die Angehörigen dieser Stände bedingt war, schon ganz abgesehen von der empörenden Ungleichmäßigkeit dieses Steuersystems, das gerade die am wenigsten leistungsfähigen Bevölkerungsschichten traf. Als im Jahre 1870 zum erstenmal ein Entwurf der Steuerreform aufgestellt wurde, verlangten die Semstwos einmütig die Abschaffung der Kopfsteuer und die Einführung einer Einkommensteuer; das Finanzministerium erachtete es indes damals für richtig, die ganze Angelegenheit unter den Tisch fallen zu lassen. Als nun endlich im Jahre 1883 die praktische Lösung der Frage bevorstand, konnte sich Bunge nicht entschließen, dem Vorschlage der Semstwos zu folgen. Um den jährlichen Ertrag der Kopfsteuer von 55 Millionen Rubel zu ersetzen, schlug Bunge vor, diese Last auf den mit Land am besten ausgestatteten und von Steuern am wenigsten belasteten Teil der Bauernschaft, nämlich auf die ehemaligen Staatsbauern zu übertragen. Seinem Entwürfe zufolge sollte ein Teil dieser Summe durch die Erhöhung der Branntweinsteuer zusammenkommen (die hauptsächlichsten Konsumenten des Branntweins rekrutieren sich jedoch aus denselben Bevölkerungsschichten, welche die Kopfsteuer zu entrichten hatten), während der größere Teil durch die Erhöhung der von den ehemaligen Staatsbauern gezahlten Obroksteuer zu erlangen war. Der Reichsrat stimmte damit völlig überein, fürchtete jedoch, durch ein offenes Vorgehen die betreffenden Bauern zu reizen, und schlug daher eine maskierte Operation vor: statt einer direkten Erhöhung des Obroks sollte der Finanzminister die ehemaligen Bauern, die bereits immer als Eigentümer ihrer Landanteile gegolten hatten, zur Ablösung veranlassen, d. h. sie zur Ablösung der von ihnen gezahlten Obroksteuer unter ganz willkürlicher Erhöhung derselben um 45% zu zwingen. So wurde die Kopfsteuer, statt durch eine gerechte allgemeine Einkommensteuer ersetzt zu werden, tatsächlich in Form von erhöhten Ablösungszahlungen auf den wohlhabenderen Teil der Bauernschaft gewälzt.


An die Abschaffung der Kopfsteuer knüpfte man allseitig die Hoffnung auf die Beseitigung der mit derselben zusammenhängenden Beschränkungen der Freizügigkeit sowie der Solidarhaft. Allein dementsprechende und bei weitem nicht genügende Änderungen in der Paßordnung wurden erst viel später vorgenommen, während die Solidarhaft sogar bis zum Jahre 1904 bestehen blieb. Wenn daher im Journal des Reichsrats zu lesen ist, dass diese Reform allein ausreichend sei, „um den Ruhm der Regierung zu festigen und das Andenken des Kronenträgers im Volksgedächtnis zu heiligen,“ so erinnert diese Übertreibung im Vergleich zur Wirklichkeit an das Wort: Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.

Von gleich guten Absichten eingegeben, aber der Art ihrer Verwirklichung nach ebenso unwesentlich waren auch diejenigen Regierungsmaßnahmen der achtziger Jahre, die auf die Erweiterung des bäuerlichen Grundbesitzes abzielten. In dieser Beziehung hatte bereits die Literatur der siebziger Jahre drei Wege hervorgehoben, auf denen die Regierung im Rahmen der bestehenden sozialen Ordnung den Bauern zu Hilfe kommen könnte. Dies waren: 1. Erleichterung der Pacht für die Bauern; 2. Erleichterung des Bodenankaufs seitens der Bauern vermittelst Kreditgewährung und 3. Übersiedelung der Bauern auf freies Staatsland in den schwach bevölkerten Gouvernements, In allen diesen drei Richtungen sind im Anfang der achtziger Jahre Versuche der Regierung zu verzeichnen. Um die Pacht von Staatsland den Bauern zu erleichtern, wurden die bäuerlichen Gemeinschaften durch das auf Antrag von Graf Ignatjew am 22. Mai 1881 erlassene Gesetz von der für die Teilnehmer der öffentlichen Angebote bestimmten Geldkaution befreit. Dadurch stieg schon im ersten Jahr das durch Bauerngemeinschaften in acht Gouvernements gepachtete Land von 24% auf 66% des gesamten vom Staate in Pacht gegebenen Landes. Zugleich wuchs jedoch infolge der verschärften Konkurrenz der Pachtpreis um 58%. Um der Spekulation und der Konkurrenz von Privatpersonen vorzubeugen, wurde drei Jahre später auf Veranlassung des Apanageministers Ostrowsky ein neues Gesetz erlassen, wodurch die Bauerngemeinschaften das im Umkreise von 12 Werst von ihren Dörfern gelegene Staatsland ohne öffentliches Ausgebot zum Durchschnittspreise der letzten Jahre pachten durften. Diese Maßnahme war von einiger Bedeutung nur für die ehemaligen Staatsbauern. Im Jahre 1901 waren nach offiziellen Angaben von den 9.386 Pachtgegenständen, die im ganzen eine Fläche von 3.826.000 Dessjatin ausmachten, an Privatpersonen nur 1.078 Pachtstücke mit 494.000 Dessjatin Flächenland verpachtet, während aus den übrigen 8.308 Stücken 3277 mit einer Fläche von 1.445.000 Dessjatin an Dorfgemeinschaften, 773 mit 658.000 Dessjatin an bäuerliche Genossenschaften und 4257 mit 1.349.000 Dessjatin an einzelne Bauern verpachtet waren. Im ganzen jedoch erweitert diese Pacht die in der Bebauung der Bauern befindliche Landfläche um 3%. Zur Erleichterung des Landankaufs durch Bauern war nach dem Plane von N. Ch. Bunge die Bauernbank gegründet. Bunge beabsichtigte dadurch ursprünglich, den landarmen oder landlosen Bauern die Möglichkeit zu verschaffen, ihren Bodenbesitz bis zu der von dem Februargesetz angesetzten oder höheren Norm auszudehnen. Der Reichsrat glaubte aber darin eine Gefahr zu sehen, und so bezeichneten die Statuten der Bank als ihren Zweck „die Erleichterung des Landankaufs für die Bauern aller Benennungen in den Fällen, wenn die Gutsbesitzer zum Verkaufe, die Bauern zum Ankauf geneigt sind“. Bei dieser weitgehenden Formulierung ihrer Aufgabe konnte die Tätigkeit der Bank sich nur dann als fruchtbar erweisen, wenn sie über große Geldmittel verfügen würde, während ihr im ganzen jährlich nur 5 Millionen zur Verfügung gestellt worden sind. In den ersten drei Jahren bemühte sich indes die Bank, die ursprüngliche Idee ihres Begründers zu verwirklichen, und gewährte ihre Darlehen vornehmlich landarmen oder kein Land besitzenden Bauern. Die Unpünktlichkeit in der Abzahlung der Darlehen beunruhigte sehr bald die Bankadministration und veranlaßte sie, ihre bisherige Politik aufzugeben; nun wurden Darlehen nur an zuverlässige Bauern gewährt, und es währte nicht lange, da verwandelte sich die Bauernbank in eine ganz gewöhnliche Landkreditanstalt, deren Unterstützung für arme Bauern schon dadurch zur Unmöglichkeit wurde, dass die Darlehen der Bank nicht über 75% des für den mit ihrer Hilfe gekauften Boden bezahlten Kaufpreises hinausgehen durften. Unter dieser Bedingung konnten nur die wohlhabenderen Bauern von ihrer Kreditgewährung Gebrauch machen. Sehr bald folgte eine bestimmte Erklärung des Reichsrats, wonach die Bauernbank keineswegs sich mit der Lösung der sozialen oder Agrarfrage zu befassen, sondern sich auf die bescheidenere Aufgabe der Förderung des Kleingrundbesitzes im Lande zu beschränken hätte. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nach der Genehmigung des neuen Statuts vom 27. November 1895 ist in den Bankgeschäften wieder ein Aufschwung zu verzeichnen; von neuem wandte sich die Bank jetzt der Erweiterung des Grundbesitzes jener Bauerngemeinschaften zu, die an Landmangel litten, und die von der Staatskasse zu diesem Behuf assignierten Mittel waren jetzt viel höher bemessen.

Unter Geltung des alten Statuts von 1882 wurden in den 13 Jahren seit der Gründung der Bank mit ihrer Unterstützung von Bauern verschiedener Kategorien in 44 Gouvernements des europäischen Russlands insgesamt 2.058.000 Dessjatin Land angekauft. Dagegen waren in den ersten fünf Jahren nach Einführung des neuen Statuts, 1896 — 1900, unter Zuhilfenahme der Bank 2.498.000 Dessjatin Land erworben. Im ganzen gingen also bis zum Jahre 1901 in die Hände der Bauern 4.500.000 Dessjatin über, was etwas über 4% der ganzen Nadjel-( Anteil)fläche ausmachte.

Die Erweiterung des bäuerlichen Grundbesitzes ging indes auch unabhängig von der Wirksamkeit der Bank in Privatkäufen vor sich. So stieg schon vor der Gründung der Bank, in der Zeit von 1863 — 1882, die Fläche des bäuerlichen Grundbesitzes um 4.385.500 Dessjatin, während in der folgenden Periode von 1883 — 1897 auch ganz unabhängig von der Bauernbank 4.000.000 Dessjatin hinzukamen.

Teils unter dem Einfluss der Forderungen einiger Semstwos, teils unter dem Zwang der wachsenden elementaren Auswanderungsbewegung wendete die Regierung Anfang der achtziger Jahre der Auswanderungsfrage die ernsteste Aufmerksamkeit zu. Der Drang zur Auswanderung lebt seit langem in den russischen Bauern. In den ersten zwanzig Jahren nach der Emanzipation haben sich jedoch sowohl die Regierung als auch die Gutsbesitzer zu der Auswanderungsbewegung sehr ablehnend verhalten, da sie befürchteten, dass ein bedeutender Abfluß der Bauern nach den landreichen Grenzgebieten die Verteuerung der Arbeitskraft zur Folge haben würde. Erst gegen den Anfang der achtziger Jahre „begann — nach der Äußerung der offiziellen Untersuchung über die Wanderungen — der Gegensatz zwischen der Gesetzgebung und dem Leben immer mehr die Aufmerksamkeit der Regierung und insbesondere der Organe der lokalen Selbstverwaltung auf sich zu lenken“.*)

Im Jahre 1881 wurden im Ministerium des Innern durch eine spezielle, vom Kaiser am 10. Juli 1881 genehmigte Kommission „geheime“ Bestimmungen betreffs Regelung der Auswanderung ausgearbeitet. Diese erleichterten die Umschreibung der Auswanderer in die neuen Orte einigermaßen, machten aber die Erlaubnis zur Auswanderung in jedem besonderen Falle von der Zustimmung zweier Ministerien, dem des Innern und dem der Apanagen, abhängig. Diese Vorschriften wurden seitens der sogenannten „ sachkundigen Männer“, d. h. der zu einer speziellen Beratung vom Grafen Ignatiew im Jahre 1882 eingeladenen Vertreter des Semstwo einer scharfen Kritik unterworfen. Die „Sachkundigen“ gingen von dem Prinzipe aus, dass der Staat der Auswanderung soweit Rechnung zu tragen habe, als das praktische Leben es erforderlich mache, lehnten jede gouvernementale Reglementierung ab, erachteten jedoch die Gewährung gewisser Unterstützungen an die Auswanderer für notwendig.

*) S. die Besiedelung Sibiriens im Zusammenhang mit der „allgemeinen Auswanderungsfrage“, für die Pariser Weltausstellung von 1900 von der Kanzlei des Ministerkomitees herausgegeben.

In der Organisation der Auswanderung wies die Konferenz den Semstwoinstitutionen die weiteste Mitwirkung zu. Die Untersuchungen dieser Beratung, die die Auswanderungsfrage sorgfältig geprüft und beleuchtet haben, sind indes praktisch nicht zur Anwendung gelangt, da der Nachfolger des Grafen Ignatiew, der neue Minister Graf Tolstoi, sich als Anhänger und energischer Verkünder der entgegengesetzten Prinzipien kleinlicher Bevormundung und Reglementierung aller Seiten des Volkslebens erwies.

Den in diesem Sinne gehaltenen Bericht genehmigte Alexander III. am 17. Mai 1884; daran knüpfte sich der Befehl, dass die Regierung die Richtung des Auswanderungswesens zu bestimmen habe. Im Ministerium des Innern wurde unter dem Vorsitz des Ministergehilfen von Plehwe eine neue Kommission eingesetzt, die in ihren Arbeiten von den Bestimmungen von 1881 ausging. Es wurde der Beschluß gefaßt, die ohne Erlaubnis der Regierung ausgewanderten Bauern durch Gewalt nach ihrem früheren Wohnort zurückzuschicken, während für diejenigen, die eine Erlaubnis erwirkt hatten, ein ganzes System von Steuerprivilegien und Geldunterstützungen geschaffen war. Da jedoch die freie Auswanderung trotz aller gegen sie gerichteten Maßregeln fortdauerte, so beschloß man die neuen Bestimmungen zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Am 13. Juli 1889 erhielten sie Gesetzeskraft.

Danach werden den mit vorheriger Erlaubnis ausgestatteten Auswanderern nach dem Einverständnis zweier Minister in den landreichen Gouvernements des europäischen Russlands oder in dem westlichen Sibirien Landparzellen angewiesen. Diese Parzellen können im europäischen Russland nach vorherigen zwölfjährigen Pachtzahlungen in den Besitz der ansässig gewordenen Bauern voll und ganz übergehen; in Sibirien wird das Land für eine dem Obrok der sibirischen Bauern gleichkommende Obroksteuer den Bauern zu ewiger Nutznießung überlassen. Dabei darf die Größe des Anteils nicht mehr als 15 Dessjatin pro männliche Seele betragen. Bei ihrer Niederlassung werden diese mit Regierungserlaubnis versehenen Bauern für die ersten drei Jahre ganz, für die nächstfolgenden zur Hälfte von jeglichen Steuern und Abgaben befreit; die Auswanderer, welche im wehrpflichtigen Alter stehen, bekommen einen Dienstaufschub von zwei Jahren. Sowohl unterwegs als bei ihrer Niederlassung können ihnen staatliche Darlehen gewährt werden, die übrigens Anfang der neunziger Jahre sich auf nicht mehr als einige Dutzend Rubel pro Familie beliefen. Die eigenmächtigen Ansiedler sollten schonungslos vertrieben werden und nach der Heimat zurücktransportiert werden. Trotz alledem fahren die meisten Bauern fort, auf eigene Gefahr hin nach Sibirien zu ziehen.

Die freien zur Besiedlung geeigneten Ländereien des europäischen Russlands waren bereits zu dieser Zeit fast völlig besetzt; in Sibirien ging die Vermessung der Auswandererparzellen ganz langsam und unsystematisch vor sich. Die Genehmigung zur Übersiedelung wurde in jedem einzelnen Fall erst nach langwierigen schriftlichen Unterhandlungen zwischen den zentralen und örtlichen Verwaltungsorganen verschiedener Ressorts gewährt, so dass die Antwort häufig erst nach mehreren Jahren nach Einreichung des Gesuchs erfolgte. Daher ist es erklärlich, dass die Bauern es vorzogen, eigenwillig zu ziehen, um so mehr als die gegen sie gerichteten strengen Bestimmungen de facto in der Mehrzahl der Fälle leere Drohungen blieben, da die Regierung eigentlich über keine Mittel zu ihrer Durchführung verfügte.

Der Strom der Auswanderung stieg von Jahr zu Jahr und erreichte Ende der achtziger Jahre die Zahl von über 60.000 pro Jahr. Im Jahre 1891 wuchs die Zahl unter dem Einfluss der furchtbaren Hungersnot noch mehr an, und dies veranlaßte den Minister des Innern im Frühling 1892, ein Zirkular herauszugeben, wonach künftig die Erlaubnis zur Übersiedelung den Bauern verweigert werden musste, da die für die Auswanderer abgemessenen Parzellen bereits völlig verbraucht worden wären. Aber auch dies Rundschreiben übte auf die Auswanderung nicht den geringsten Einfluß aus, so dass das Jahr 1892 über 90.000 Auswanderer zählte. Der örtlichen Administration blieb nichts anderes übrig, als um die Erlaubnis nachzusuchen, die Auswanderer an die von ihnen gewählten Orte zuzuschreiben. Dasselbe wiederholte sich in den folgenden Jahren. Unterdes hatte man im Jahre 1893 mit dem Bau des kolossalen Schienenweges durch ganz Sibirien begonnen; mit dessen oberster Leitung ward ein besonderes Komitee unter dem Vorsitz des Thronfolgers, des künftigen Zaren Nikolaus II., der auch nach seinem Regierungsantritt Präsident des Komitees blieb, betraut.

Das Streben, Europa mit den Gestaden des Stillen Ozeans zu verbinden, das, zu einer großen historischen, providentiellen Mission erhoben, Russland in die jetzige Krisis hineingebracht hat, bemächtigte sich ganz und gar der Seele des jungen unerfahrenen Herrschers. Er sah darin die nächste Aufgabe seiner Regierung und war bereit, vor keinen Opfern zurückzuscheuen. Und so ist es nicht wunder zu nehmen, dass die Kolonisation der wenig oder gar nicht bevölkerten Strecken längs der projektierten Bahn zu einer der vornehmsten Aufgaben der Regierungszeit Nikolaus II. wurde. Der bisher so verhaßte Drang der Bauern zur Auswanderung nach Sibirien wurde auf einmal, statt verfolgt zu werden, sogar gefördert. Die ohne Erlaubnis der Obrigkeit ausgewanderten Bauern konnten sich jetzt unter gleichen Bedingungen mit den im Besitze einer solchen Erlaubnis Befindlichen niederlassen. Dabei genossen sie nicht nur dieselben Privilegien bei der Entrichtung von Steuern und Abgaben, sondern erhielten auch die gleichen Darlehen und Unterstützungen. Statt der armseligen Mittel, die Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre dem Minister für das Auswanderungswesen zur Verfügung gestellt zu werden pflegten und die sich nur auf Tausende beliefen, wurden jetzt zu diesem Behuf aus dem beim Bau der Sibirischen Eisenbahn vorhanden gewesenen Fonds für Ergänzungsunternehmungen Millionen gewährt.

So war im Jahre 1900 dem Minister der Landwirtschaft zur Bemessung und Abgrenzung von Siedelungsstellen aus den zu Niederlassungen geeigneten staatlichen Ländereien, sowie zur Bewässerung und Anlegung von Wäldern an einigen Steppenstellen 947.000 Rubel und dem Minister des Innern zur Unterstützung der Auswanderer auf dem Wege und zu ihrer Einrichtung in Sibirien 2.055.000 Rubel ausgesetzt. Im Jahre 1901 erhielt der Minister der Landwirtschaft für dieselben Zwecke 810.000 Rubel, der Minister des Innern 2.007.000 Rubel, im Jahre 1902: 1.009.000, bezw. 1.970.000 Rubel, 1903: 1.052.000, bezw. 2.092.000 Rubel; für das Jahr 1904 waren diese Ausgaben mit 926.000 und 3.718.000 veranschlagt. Dieser letztere Satz wurde allerdings angesichts des Ausbruchs des Krieges und des damit verbundenen starken Rückganges der Auswanderung nach Sibirien bedeutend herabgesetzt.

Nachdem der ganze Bestand an freiem, zu landwirtschaftlicher Kultur geeigneten Boden im Westen Sibiriens verteilt war, wurden den Auswanderern die freien Ländereien in den ostsibirischen Gouvernements Jenissejsk und Irkutsk zur Niederlassung eröffnet; hier war jedoch der Vorrat an geeignetem Land verhältnismäßig nicht groß, so dass er schon im Laufe von etwa zehn Jahren fast ganz verbraucht war.

Im Mündungsgebiet des Amur, wo die Kolonisation schon in den sechziger Jahren aus politischen und strategischen Gesichtspunkten eine Begünstigung seitens der Regierung erfahren hatte, war der Landvorrat noch früher erschöpft, so dass bereits in den neunziger Jahren die Bauern, die den Versuch machten, sich dort „niederzulassen“, ohne Erfolg in Massen zurückkehren mussten. Überhaupt kommen in den letzten Jahren auch aus Sibirien die von den Bauern entsandten Kundschafter meistens erfolglos zurück. Nach den offiziellen statistischen Angaben soll die Zahl der Abgesandten, die für ihre Auftraggeber kein freies Land haben finden können, weit mehr als 50% betragen. Die Zahl der heimkehrenden Auswanderer steigt ebenfalls von Jahr zu Jahr, trotzdem die Übersiedelung jetzt mit viel größerer Umsicht unternommen wird. Anfangs der neunziger Jahre betrug der Prozentsatz der Rückwanderer im Vergleich zur gesamten Zahl der Auswanderer etwa 3,4%, während er jetzt über 30,9% beträgt und im Jahre 1901 sogar 42,3% erreicht hat. Die heimkehrenden Auswanderer sind aber fast ausnahmslos endgültig ruinierte und nicht selten durch die dauernde Abgewöhnung von regelmäßiger Arbeit auch völlig demoralisierte Elemente! Die Auswanderung selbst geht trotz ihrer Begünstigung durch die Regierung mit jedem Jahr zurück; während sie noch Ende der neunziger Jahre zwischen 145 und 185 Tausend schwankte, ist ihre Zahl in den Jahren 1901 — 1903 auf 76 — 86 Tausend gesunken.

Allerdings gibt es sowohl in Sibirien als auch in dem asiatischen Steppengebiete reichlich unbevölkertes Land; aber auch abgesehen von den durch Bergketten durchzogenen Strecken, ist der größte Teil des übrigen Landes ebenfalls mit unzugänglichen Wäldern und Morasten bedeckt. Um dies Gebiet in ein bebauungsfähiges zu verwandeln, ist entweder zur Entfernung dieser Wälder und Moraste eine langjährige hartnäckige Arbeit nebst bedeutendem Kapital erforderlich, so dass das Land zur Besetzung durch mittellose, an die örtlichen Bedingungen ganz ungewöhnte Ansiedler völlig ungeeignet erscheint, oder aber es sind kostspielige künstliche Bewässerungen notwendig, während an vielen Stellen kaum hinreichendes Wasser in den Nachbargebieten vorhanden ist. Nach der Ansicht der besten Kenner des Auswanderungswesens ist diese Hilfsquelle zur Befriedigung des Landbedarfs der Bevölkerung der inneren russischen Gouvernements schon jetzt nur von geringer Bedeutung. Bis jetzt sind allerdings aus dem europäischen Russland nach Sibirien etwa 1.500.000, d. h. also nicht über 6% des natürlichen Zuwachses der ländlichen Bevölkerung, übergesiedelt. Während der Jahre, da die Entwicklung der Auswanderung am höchsten war, erreichte die Zahl der Auswanderer 13 — 17% des natürlichen Bevölkerungszuwachses.

So erscheinen alle von der Regierung im Laufe der letzten zwanzig Jahre behufs Erleichterung der auf der Bauernschaft lastenden Steuern und Erweiterung der bäuerlichen Bodenfläche ergriffenen Maßnahmen als Palliative, die schlechterdings zum Ziel nicht führen konnten. Auf Grund der von der sogenannten „Kommission zur Erforschung der Ursachen der Verarmung des Zentrums“ in vierzig Gouvernements des europäischen Russlands gesammelten Daten stellt sich die Lage der bäuerlichen Bevölkerung im Jahre 1901, also vierzig Jahre nach der Abschaffung der Leibeigenschaft, wie folgt, dar:

Die Gesamtzahl der Landbevölkerung ist von 52.004.000 auf 86.582.000 gestiegen, wobei der jährliche Bevölkerungszuwachs, der sich im Durchschnitt der Jahre 1861 — 1865 auf 620.700 belaufen hat, in den fünf Jahren 1896 — 1900 durchschnittlich 1.518.600 beträgt. Von dem gesamten Bevölkerungszuwachs von 34,5 Millionen sind in den Jahren 1861 — 1900 etwa 2.000.000 auf neues Land übergesiedelt.

Das gesamte Anteilland der Bauern aller Kategorien, den privaten Landbesitz der bäuerlichen Grundeigentümer (der freien Ackerbauer) und Kolonisten vor Abschaffung der Leibeigenschaft mitinbegriffen, erstreckte sich nach Berechnung von Professor Janson über 120 Millionen Dessjatin. Eigentliches Nadjelland gab es im Jahre 1860 4,8 Dessjatin pro männliche Seele der bäuerlichen Bevölkerung aller Kategorien; im Jahre 1880 waren es nur 3,5 Dessjatin, im Jahre 1900 2,6 Dessjatin. Durch Ankauf hatte sich der bäuerliche Grundbesitz in den Jahren 1863 — 1897 um 1 1.889.300 Dessjatin vergrößert. Seitdem im Jahre 1896 in der Tätigkeit der Bauernbank ein Umschwung eingetreten war, sind in den fünf Jahren 1896 — 1900 mit ihrer Unterstützung 2.498.300 Dessjatin Land gekauft. Da die Bauern auch ohne Zuhilfenahme der Bank Land erworben haben, so ist anzunehmen, dass in fünfzig Gouvernements des europäischen Russlands der Umfang des bäuerlichen Grundbesitzes bis zum Jahre 1901 um rund 15 Millionen Dessjatin gestiegen ist, was im Durchschnitte etwas über 1/3 Dessjatin pro Kopf der männlichen bäuerlichen Bevölkerung ausmacht.

Die oben erwähnte Kommission „zur Erforschung der Ursachen der Verarmung von Zentral-Russland“ befaßte sich mit der Frage, inwiefern die Landanteile der Arbeitskraft der bäuerlichen Bevölkerung im Jahre 1900 entsprachen, und gelangte zum Ergebnis, dass diese Anteile bloß 20% derjenigen Landmasse ausmachten, die die bäuerliche Bevölkerung durch ihre Arbeitskraft zu bebauen imstande sei. Was das Verhältnis der Anteile zu dem Bedarf der Landbevölkerung im Jahre 1900 anbetrifft, so stellte die genannte Kommission fest, dass eine mittlere Ernte auf dem bäuerlichen Nadjelland um 16% weniger Getreide ergibt, als zur Verpflegung der Landbevölkerung allein notwendig ist, während die Haferernte um 41% unter der Norm der für die bäuerlichen Pferde erforderlichen Futterquantität steht.

Das gesamte Areal, das im Jahre 1861 in den Händen der Gutsbesitzer verblieben war, war fast doppelt so groß als der den ehemaligen Gutsbauern zugewiesene Boden. Indes übertraf das Areal der bebauten Ländereien, die im Besitz der Gutsbesitzer blieben, keineswegs das Anteilland der Bauern. Es ist eher anzunehmen, dass es sogar kleiner war, da in den Obrokgütern fast das ganze bebaute Land in den Händen der Bauern konzentriert war. Angenommen aber, dass es ebenso groß war, wie der bäuerliche Anteilboden, d. h. 35 Millionen Dessjatin umfaßte, so konnte es doch, auch samt den zur Kultur geeigneten 3,8 Mililonen Dessjatin Staatsobrokgebiet und 5 Millionen Dessjatin Apanageland, wovon ein großer Teil (nach den Angaben der obenerwähnten Kommission 19.507.300 Dessjatin) von Bauern gepachtet wird, nur 1/3 der Arbeitszeit beanspruchen, die zur Bebauung des bäuerlichen Grundbesitzes erforderlich ist. Aber selbst vorausgesetzt, dass es die Hälfte dieser Zeit in Anspruch nehmen würde, so gelangen wir doch zum Ergebnis, dass die landwirtschaftliche Arbeit auf eigener Scholle und auf dem gepachteten und fremden Lande nur 0,3 aller bäuerlichen Arbeitskraft verbraucht. Wir schließen daher aus dieser Tatsache erstens, dass Russland in der Gegenwart nicht als ein rein landwirtschaftliches Land anzusehen ist und dass der Wohlstand der russischen Bauern durch die Landwirtschaft selbst auch dann nicht gesichert wäre, wenn das ganze unter Kultur befindliche Land unter den einen oder anderen Bedingungen in den Besitz der Bauern übergehen würde.

Zu demselben Schluß sind viele „Kreis- und Gouvernementskomitees für die Bedürfnisse der Landwirtschaft“ gelangt, die im Jahre 1903 über die Frage der bäuerlichen Landarmut berieten.

Viele dieser Komitees betonten, dass die unzureichende Ertragsfähigkeit der bäuerlichen Wirtschaften nur durch intensivere Wirtschaftsformen gehoben werden könne, die ihrerseits nur durch die Hebung des Kulturniveaus des Volkes und seine Befreiung von der seine Zahlungskraft weit übertreffenden Steuerlast zu erreichen sei. Dieser Gedanke wurde mit beachtenswerter Einmütigkeit fast von allen Komitees ausgesprochen. Andere waren jedoch der Meinung, dass bei dem bekannten minimalen Umfang der Landanteile schon allein aus diesem Grunde die Führung irgendwelcher rationellen Wirtschaft ausgeschlossen sei.

In mehreren Komitees zeigte eine vorgenommene Berechnung, dass bei einem ungenügenden Anteil weder die Arbeitskraft des Besitzers noch die Leistungsfähigkeit des ihm gehörigen Inventars in hinreichendem Maße zur Geltung kommen. In anderen wurde darauf hingewiesen, dass es bei einem unter die Norm herabgesetzten Anteil unmöglich sei, das richtige System der Mehrfelderwirtschaft zur Anwendung zu bringen, bzw. Versuche mit höheren Kulturen und Graspflanzungen vorzunehmen.

So kam es, dass mehrere Komitees, ohne in der Vergrößerung der Bauernanteile ein Allheilmittel zu sehen, es doch für notwendig erachteten, dass das Gebiet der Anteile an verschiedenen Orten einen sofortigen Zuwachs erhalte — namentlich dort, wo die Bauern das unentgeltliche Viertel oder den sogenannten Bettelanteil bekommen hatten. Wo eine solche Vergrößerung durch Kauf von Land mit Hilfe der Bauernbank oder durch Zuweisung von Ergänzungsanteilen aus den freien staatlichen oder Apanageländereien nicht zu erreichen sei, dort erachteten die Komitees die Anwendung des Systems des Zwangskaufs eines Teils der gutsherrlichen und überhaupt des privaten Besitzes als eine unumgängliche Maßregel. Denselben Standpunkt vertrat auch die Konferenz der Semstwokonstitutionalisten, die im Februar dieses Jahres in Moskau sich versammelt hatte. Fast ausschließlich aus Gutsbesitzern bestehend, kam besagte Konferenz zum Schluß, dass die bevorstehende Agrarreform, die unaufschiebbar sei, auf folgenden Grundsätzen beruhen müsse:

„1. Hebung der ökonomischen Lage der landwirtschaftlichen Klasse durch Zwangsankauf der erforderlichen Zusatzlandstücke vom Privatbesitz im Interesse der mit wenig Boden ausgestatteten Gruppen verschiedener Kategorien.

2. Anerkennung der staatlichen und eines Teiles der Apanageländereien als Reichsagrarfonds. Vermehrung dieses Fonds durch Kauf und Ablösung von Privatländereien, sowie durch Ausnutzung desselben im Interesse der arbeitenden Bevölkerung.

3. Regelung der Pachtbedingungen durch Staatseinmischung in die Pachtverhältnisse.“

Neben diesen grundlegenden Beschlüssen fasste die Konferenz einige nebensächliche Resolutionen und beschloß, zur detaillierten Ausarbeitung ihrer Grundsätze eine spezielle Agrarkonferenz abzuhalten. Der nach zwei Monaten einberufenen Konferenz schlug dann eine Gruppe von Nationalökonomen in mehrfachen Vorträgen ein Programm von Maßregeln zur Steuerung des ungenügenden bäuerlichen Landbesitzes vor, wobei diesen Maßnahmen die Beschlüsse der Februarkonferenz zugrunde lagen.

Die Teilnehmer der zweiten Konferenz erkannten zwar im allgemeinen die Beschlüsse der ersten an, kamen jedoch zur Ansicht, dass die Agrarfrage in Russland im Rahmen der bestehenden sozialen Ordnung durch alleinige Maßnahmen gegen den Landmangel der Bauern nicht zu lösen sei. Es wurde darum für notwendig erkannt, der Einführung intensiver Methoden in die bäuerliche Wirtschaft besonders große Aufmerksamkeit zuzuwenden, sowie nach Abschaffung der Hindernisse zu streben, die einerseits im entarteten und absolut ungerechten, den bäuerlichen Wohlstand ruinierenden Finanzsystem, andererseits in den allgemeinen kulturellen und rechtlichen Lebensbedingungen der russischen Bauern enthalten sind.

Von der Steuerlast, welche in Form direkter Abgaben die Bevölkerung trifft, ist bereits oben die Rede gewesen. Wir haben dort auf die Unzulänglichkeit der in dieser Hinsicht in der ersten Hälfte der achtziger Jahre vorgenommenen Reformen hingewiesen.

Allein die direkten Steuern spielen im bäuerlichen Budget eigentlich eine weit geringere Rolle als die indirekten. In dem 1903 dem Moskauer landwirtschaftlichen Komitee überreichten Memorandum von Semstwovertretern ist berechnet, dass eine Bauernfamilie, welche im Jahre bis 70 Rubel direkte und indirekte Steuern entrichtet, darunter an direkten Steuern 22 Rubel 50 Kopeken, an indirekten (für Branntwein, Tee, Zucker, Kattun, Petroleum, Tabak und Streichhölzer) 44 Rubel 21 Kopeken zahlt.*)

*) „Die Bedürfnisse des Dorfes“, Bd. II, S. 557.

Das Kreislandwirtschaftskomitee von Balaschow (Gouvernement Saratow) hat die allgemeinen Einnahmen einer bäuerlichen Familie (von 6,3 Seelen im Durchschnitt) nach Abzug der Verpflegungskosten, der Pachtund Versicherungszahlungen usw. im Jahre 1902 mit 114 Rubel 35 Kopeken berechnet, wobei sie von dieser Summe an direkten und indirekten Steuern 58 Rubel 21 Kopeken zu zahlen hatte. Aus dem Restbetrage von 56 Rubel 14 Kopeken muss nun die Bauernfamilie ihren Bedarf an Kleidern und Schuhzeug decken, die Baulichkeiten reparieren, das Inventar in Ordnung halten, Schulden und Zinsen bezahlen usw.

Der Druck des gegenwärtigen Steuersystems äußert sich in der Anhäufung der fälligen Steuern mit außerordentlicher Deutlichkeit. Zu Beginn der siebziger Jahre betrugen die ausstehenden staatlichen Steuern in den fünfzig Gouvernements des europäischen Russlands weniger als 30% der jährlichen Veranlagung, mit dem Anfang der neunziger Jahre stiegen sie trotz der Herabsetzung der Ablösungszahlungen und der Abschaffung der Kopfsteuer bis zu 50%, während sie nach der Missernte von 1891 — 1892 mit einem Male die Höhe von 101% erreichten und im letzten Jahrfünft des 19. Jahrhunderts sogar 118% bildeten, trotzdem völlig hoffnungslose Ausstände von den Rechnungen immerfort in Abzug gebracht wurden.

Der wachsende Landmangel imd das ruinöse Steuersystem bewirken auch eine Abnahme der Viehwirtschaft. In den Jahren 1899 — 1901 besaßen nach den Angaben der militärischen Pferdestatistik 28,6% aller Bauernhöfe keine Pferde mehr, 32,2% hatten ein Pferd, 21,4% hatten zwei und nur 17,8% drei und mehr Pferde, wobei von der Gesamtzahl der Pferde nur 74% arbeitsfähig waren.

Die Abnahme des Viehs drückt sich in den Bauernwirtschaften in folgenden Ziffern aus: im Jahre 1870 gab es nach den offiziellen Daten bei den Bauern auf 1.000 Dessjatin bebauungsfähigen Landes 664 Stück Vieh, im Jahre 1880: 665, 1890: 631 und schließlich 602 im Jahre 1900. Auf tausend Höfe kamen:

im Jahre 1870 9329 Stück Vieh
im Jahre 1880 8345 Stück Vieh
im Jahre 1890 7294 Stück Vieh
im Jahre 1900 6474 Stück Vieh

Das bestehende Finanzsystem wurde in den meisten, auf Initiative Wittes im Jahre 1902 gebildeten Komitees, welche sich mit den Nöten der Landwirtschaft zu befassen hatten, einer herben Kritik unterzogen. Viele von ihnen stellten die Forderung einer gründlichen Finanzreform auf und wiesen auf die Notwendigkeit der Einführung einer Einkommensteuer statt des vorhandenen Steuersystems hin.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Bauernfrage