Die Bauernfrage in Russland

Die Bauernfrage in Russland ist eine doppelte, eine wirtschaftliche und eine kulturell-rechtliche. Beide Probleme sind mit der Geschichte der Bauernbefreiung aufs innigste und untrennbar verbunden und wurzeln in den Bedingungen des Leibeigenschaftssystems, das zwar bereits im Jahre 1861 aufgehoben worden ist, uns aber sehr bedeutende Reste vermacht hat, von denen wir uns immer noch nicht freizumachen vermocht haben.

Erst neuerdings sind wir an die definitive Abschaffung der letzten Überbleibsel der ständisch-leibeigenen Vorstellungen und Einrichtungen, welche die kulturelle und rechtliche Absonderung der Bauern bedingt haben, herangetreten und werden wahrscheinlich noch lange gegen die aus der Bauernreform hervorgegangenen drückenden Grundlagen der Bodenund Wirtschaftsverfassung der Bauern ankämpfen müssen.


Die gegenwärtige Bauernfrage ist deshalb auf Grund alleiniger statistisch-ökonomischer Forschungen nicht zu verstehen. Vor allem muss man ihre Geschichte in Betracht ziehen, weil sie selbst eine unmittelbare Fortentwicklung und Fortsetzung jenes großen Befreiungsaktes bildet, der vor nunmehr 45 Jahren im Leben des russischen Reiches und russischen Volkes eine neue Epoche eingeleitet hat.

Im alten Russland hat es ein Leibeigenschaftsrecht nicht gegeben. Es kannte zwar einige Arten der Knechtschaft — so die der Kriegsgefangenen und Schuldner, welche freiwillig Knechte wurden — , aber die ackerbautreibenden Bauern waren ebenso wie die andern Klassen der altrussischen Geseilschaft frei. Die Voraussetzungen für die Entstehung der Leibeigenschaft wurden erst allmählich zur Zeit des tatarischen Joches und mit der Bildung des Moskowiterreiches geschaffen, als die moskowitischen Zaren die oberste Herrschaft über den Boden grundsätzlich an sich gerissen hatten und ihren Dienstleuten Güter zu vergeben begannen, so dass das Institut der Grundherrschaft aufkam und sich entwickelte. Erst im 15. Jahrhundert wurden die Bauern, die auf solchen den Klöstern und Dienstleuten zugewiesenen Ländereien ansässig waren, von gewissen Rechtsbeschränkungen getroffen.

Die vollständige Fessellung der auf gutsherrlichem Boden wohnhaften Bauern an die Scholle fand während der Wirren der russischen Geschichte im 16. Jahrhundert unter Boris Godunow statt. Diese Maßregel erfolgte, als die kleineren und mittleren adligen Gutsherren, welche mit den kaiserlichen Kriegsdiensten belastet waren und dafür besiedelte Ländereien bekommen hatten, sich beim Zaren beschwert hatten, dass reiche und mächtige Leute die Bauern von ihrem Boden an sich lockten und es ihnen sonach unmöglich machten, ihre Wirtschaften erfolgreich zu führen und dem kaiserlichen Dienst vollständig nachzukommen. Obwohl die Bauern durch die Fesselung an die Scholle den Gutsherren noch keineswegs als Leibeigene übergeben waren, so bildete sich doch bei der Schwäche der Zentralregierung die Macht der Gutsbesitzer über die an ihre Güter gebundenen Bauern immer mehr aus und erreichte nicht nur im Herkommen, sondern selbst im Gesetze den Gipfelpunkt,

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde jeder Gutsherr eine Art König auf seinem Gute, der nur des Rechtes auf Tod und Leben seiner Untergebenen bar, sonst tatsächlich über ihr Eigentum, ihre Arbeit und in hohem Maße auch über ihre Person willkürlich zu verfügen imstande war. Er durfte sie mit allen möglichen Korrektionsstrafen belegen, sie hauen, schlagen, selbst nach Sibirien verbannen und in den Soldatendienst schicken oder auch veräußern. Zwar hatte das Gesetz gegen die Willkür der Gutsherren einige Schranken vorgesehen, aber die Anwendung der betreffenden Vorschriften ruhte doch auf schwachen Füßen, da den Leibeignen die Einreichung von Beschwerden gegen die Gutsbesitzer durch das Gesetz verboten war.

Bis 1762 waren die Gutsherren ihrerseits dem Staate gegenüber zum Dienste verpflichtet. Davon sind sie in jenem Jahre, soweit es sich um etwas Obligatorisches handelt, befreit worden, und die Güter, welche sie ehemals unter bestimmten Bedingungen besessen hatten, gingen nebst den auf ihnen angesiedelten Leibeigenen voll und ganz in ihr Eigentum über.

Unter Katharina II., welche die Bauern in KleinRussland an die Scholle fesselte und die Verschenkung besiedelter Staatsgüter an Günstlinge und verschiedene Würdenträger in weitgehendstem Maße übte, erreichte das Leibeigenschaftsrecht die größte Ausbreitung. Es wurde im Leben des Landes von allumfassender Bedeutung. Seine Geltung erstreckte sich nicht nur auf ackerbautreibende Bauern; auch Fabrikarbeiter wurden seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts den Fabriken und Werken zugeschrieben. In dieser Epoche fesselte man viele Leute nebst Nachkommenschaft ohne ihren Willen an solche Institute, wie Druckereien, Laboratorien, Zeichenkammern, Schiffsbauwälder, Wohltätigkeitsanstalten, Postbehörden (Kutscher zur Ausführung von Postdiensten), kaiserliche Ställe usw.

Das Rekrutenaushebungsstatut beruhte auf dem gleichen Prinzipe. Jemand zum Soldaten machen — bedeutete nur eine Umschreibung aus der gutsherrlichen Leibeigenschaft in die militärische. Die Kinder von Soldaten wurden in die Kantonistenabteilungen eingereiht und waren dem Staate zu ewigem Dienste verpflichtet.

Die Staatsbauern waren ebenfalls an den Boden oder an Fabriken gefesselt, nur mit dem Unterschiede, dass statt der gutsherrlichen Willkür auf ihnen die Willkür von Polizeibeamten lastete. Ein Teil von ihnen unterlag der militärischen Disziplin und der Militärgerichtsbarkeit, z. B. die Bergarbeiter. *)

*) über die Leibeigenschaft in Russland gibt es in deutscher Sprache ein Buch von Prof. Engelmann: „Die Leibeigenschaft in Russland. Eine rechtshistorische Studie“, Dorpat 1884.

Braucht man hier erst zu erklären und zu beweisen, dass diese Organisation der Volksarbeit und Volkswirtschaft auf alle Gesellschaftsklassen einen äußerst zersetzenden Einfluß ausgeübt hat? Diese Ordnung förderte das Schmarotzertum und die Trägheit der adligen Seelenbesitzer, gewöhnte sie an Willkür und hochmütiges Betragen gegen Menschen anderer Stände und Klassen und bedingte andererseits den erniedrigenden Zustand der Kaufleute und Gewerbetreibenden. Kombiniert mit einem bureaukratischen System, das die durch völlige Nichtöffentlichkeit und Kanzleigeheimnis geschützten administrativen Willkürlichkeiten und Übergriffe zur Blüte brachte, schuf sie eine drückende Atmosphäre von Lüge und Stillstand, in welcher jeder unabhängige und fortschrittliche Gedanke erstickte.

Wie nachteilig diese Ordnung in ökonomischer Hinsicht wirken musste, kam sehr bald an den Tag, als die wachsende Dichtigkeit der Bevölkerung und die gesteigerten Bedürfnisse des Staates und der Privatpersonen den Übergang zu intensiveren Formen der Bewirtschaftung notwendig machten. Die Produktivität der Leibeigenenarbeit war mindestens um das Doppelte geringer, denn die freigemieteter Arbeiter. Diese Tatsache war vor allem im Fabrikwesen festgestellt, so dass die gutsherrlichen Fabrikanten ebenso wie die Pächter von staatlichen Possessionswerken mit zugeschriebenen Arbeitern schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Ersetzung der unfreien Arbeit durch freie anstrebten. Auf den rein landwirtschaftlichen Gütern drängten die Gutsherren zu dieser Erkenntnis die Mißernten und die aus der Verpflegung der Leibeignen entstandenen gewaltigen Unkosten, da es unmöglich war, die Arbeit derselben bei der Gebundenheit der Leibeigenschaft rationell auszunutzen. So hatten denn schon in den vierziger Jahren zahlreiche Gutsherren in den dichtbevölkerten Gegenden erkannt, wie unvorteilhaft das Wirtschaften mit Hilfe von Leibeigenen sei , und die immer wachsende Verschuldung ihrer Güter ließ viele von ihnen die Liquidierung der Leibeignenordnung herbeiwünschen.

Vom rein menschlichen Standpunkt aus begannen die Einwände gegen dieses System in der russischen Gesellschaft erst von der Zeit an, als die wahrhafte Aufklärung immer tiefer eingedrungen war. Edel und kühn erhoben unter Katharina in diesem Sinne ihre Stimmen Radistschew, Poljenow, Nowikow. Der in den humanen Ideen des 18. Jahrhunderts erzogene Kaiser Alexander I. huldigte selbst dieser Auffassung. Später traten für die Bauernbefreiung zahlreiche Mitglieder des russischen Wohlfahrtsbundes (die nachherigen Revolutionäre vom 14. Dezember) und vor allem der aufgeklärte Publizist und Staatsmann Nikolaus Turgeniew*) ein. Wenn aber Alexander I. die liberalen Ideen seiner Jugend nicht verwirklicht hat, so haben wir es wohl auf die verheerenden Kriege mit Napoleon und Alexanders spätere unglückselige Begeisterung für seine Rolle als Haupt des Legitimismus in Europa zurückzuführen.

*) Nikolaus Turgeniew, mit seinem berühmten Namensvetter, dem Belletristen Iwan Turgeniew, nicht zu verwechseln, ist dem europäischen Publikum durch sein in 3 Bänden in Paris veröffentlichtes Werk „La Russie et les Russes“ bekannt geworden.

Sein Nachfolger Nikolaus I. empfand gleich bei seiner Thronbesteigung die ganze Schwere der Leibeigenenfrage, die sich damals in einer Reihe ernster Bauernwirren und Exzesse fühlbar m.achte. Unter seiner Herrschaft nahmen die materiellen Faktoren, welche die Nachteile der Leibeigenschaft in wirtschaftlicher Hinsicht bedingten, ihre endgültige Gestalt an. Kaiser Nikolaus sah mit voller Klarheit die Abnormität und die Gefahren dieser Ordnung und strebte während der ersten 23 Jahre seiner Regierungszeit unaufhörlich nach einem Ausweg aus dieser Situation.

Die blutigen Ereignisse, welche 1846 in Galizien eintraten, zwangen ihn, unverzüglich eine recht einschneidende Reform in den Beziehungen zwischen den Gutsherren und den Bauern im Königreich Polen vorzunehmen. Zugleich ordnete er die Einführung der von der Regierung bestätigten Inventare im südwestlichen Gebiete Russland an, wodurch auch hier der Willkür der Gutsherren gewisse Schranken gezogen wurden.

Dagegen vermochte er in den innern russischen Gouvernements nicht, den richtigen Weg zum erstrebten Ziele zu finden; daran hinderte ihn die geheime Art und Weise der Diskussion und Erledigung von Staatsgeschäften, wie sie in Russland seit langem praktiziert wird. Selbst Nikolaus blieb trotz seiner selbstherrlichen Natur, trotz seiner großen Charakterstärke in einer gewissen Abhängigkeit von den ihn wie mit einer dichten Mauer umringenden Würdenträgern, die am wenigsten zu irgendwelchen Änderungen geneigt waren. So haben denn alle zehn konfidentiellen Komitees, die nacheinander die bäuerliche Frage unter seiner Regierungszeit beratschlagten, nur erbärmliche Palliative von keiner entscheidenden Bedeutung zustande gebracht.

Unter den Adligen waren, teils unter dem Einfluß der oben gekennzeichneten materiellen Faktoren, teils mit Rücksicht auf die von der Regierung aufgeworfenen Fragen, in den vierziger Jahren einige Projekte einer Aufhebung des Leibeigenenrechtes vermittelst Ablösung und unter Belassung des ganzen Bodens oder des größern Teiles desselben in den Händen der Gutsbesitzer aufgetaucht. Diese Vorschläge kamen jedoch nicht in Fluß, und jeder Gedanke an Emanzipation erstarb ganz und gar in der schwülen Atmosphäre der stumpfsinnigen und grausamen Reaktion, die nach 1848 in Russland überhandnahm.

Es ist schwer zu sagen, wie lange sich dies Regime erhalten hätte, wenn der unglückliche Krimkrieg das Land nicht aus völliger Erstarrung aufgerüttelt und nicht durch mehrfache schwere Mißerfolge und Schläge die Unzulänglichkeit sowohl des Verwaltungssystems, das seit der heiligen Allianz in Russland zu machtvoller Entwicklung gelangt war, als auch der auf der Leibeigenschaft basierten sozialen Ordnung erwiesen hätte.

Die im Krimkriege erlittenen Schläge fielen mit dem Regierungswechsel zusammen. Alexander II., dem die schwere Mission zuteil wurde, die in Jahrhunderten gestaltete soziale Ordnung abzuschaffen, war keineswegs als Reformator geboren; die ihn umgebenden Würdenträger und Hofschranzen waren fast ausnahmslos jeder Metamorphose abgeneigt, und ein Land, in welchem bis dahin jede frische Anregung systematisch verfolgt worden war, konnte naturgemäß solche schöpferischen Kräfte, wie sie zur Durchführung großer Reformen notwendig sind, mit einem Male nicht hervorbringen. So ging man an die Reformen ohne festes Programm heran. Der ganze Plan entwickelte sich ruckweise mit der Ausarbeitung der von der Regierung wider Willen in Angriff genommenen Reformen. Die Emanzipation des Bauers rückte an die erste Stelle nicht nur, weil unter der Leibeigenschaft die andern im Gewerbeleben und in der administrativen Verfassung des Landes erforderlichen Umgestaltungen sich nicht verwirklichen ließen, sondern auch weil die Regierung, wie Kaiser Alexander selbst Moskauer Adligen offen erklärte, befürchten musste, dass die Befreiung der Bauern, wenn sie nicht von oben durchgeführt werden sollte, von unten sich Bahn brechen würde. Bewiesen doch in der Tat die als Begleiterscheinung der Reservisteneinberufung vom Jahre 1855 ausgebrochenen Bauernunruhen, dass diese Gefahr sehr ernst zu nehmen war. Als die Regierung den Entschluß gefaßt hatte, die Bauern zu befreien, versuchte sie anfänglich die Initiative desAdels bei dem Vorhaben zu erwirken. Die diesbezüglichen, mit den Führern der Edelleute gepflogenen Unterhandlungen, die äußerst geheim gehalten wurden, führten lange Zeit zu keinem Ergebnis, zum Teile wohl auch aus dem Grunde, weil die Adligen der Bureaukratie, bei der ein jeder auf willkürliche und oft völlig sinnlose Handlungen gefaßt war, mißtrauten.

Die Presse aber durfte um diese Zeit überhaupt keine — wenn auch noch so gemäßigte — Ansichten über die Bauernfrage zum Ausdruck bringen.

Da gelang es endlich dem Generalgouverneur von Litauen, dem General Nazimow, die litauischen Adligen zur Überreichung einer Adresse zu veranlassen, in der sie die Leibeigenen ohne Zuweisung von Land freizulassen sich bereit erklärten. Die Regierung nahm das halberzwungene Ersuchen gierig entgegen und beantwortete es mit dem Reskript vom 20. November 1857; darin gab sie die Richtschnur an, nach welcher der Adel der litauischen Gouvernements den Befreiungsentwurf abfassen sollte. Diese Grundlagen waren der erste Sieg der Anhänger des Fortschritts und der Verjüngung Russlands über die Leibeigenschaftsschwärmer und Rückschrittler innerhalb der Regierungskreise. Die in zahlreichen handschriftlichen Memoranden und Broschüren, welche, von Männern der denkenden Gesellschaft verfaßt, teils von Hand zu Hand gingen, teils der Regierung selbst überreicht waren, enthaltenen Ideen spiegelten sich im Reskript wieder. Selbstverständlich hatte sich die Regierung keineswegs die radikalsten Ansichten zu eigen gemacht. Gab es doch solche, die schon im Jahre 1856 die Lösung der Bauernfrage durch eine Kreditablösungsoperation für notwendig erachtet hatten und den Bauern alle die Ländereien zugewiesen wissen wollten, über welche sie als Leibeigene verfügten. Dieser Gedanke wurde anfänglich von der Regierung abgelehnt. Selbst denjenigen Vertretern der Regierungsgewalt, welche um das Wohl der Bauern besonders besorgt waren, schien damals eine solche Idee undurchführbar. Die Regierung sah jedoch ein, dass es äußerst gefährlich wäre, die Bauern völlig ohne Land freizulassen, und wählte den Mittelweg. Sie beschloß, den Bauern Anteile, wie sie zur Erhaltung ihres Wohlstandes notwendig sind, zu permanenter Nutznießung zu überlassen, unter der Bedingung, dass sie für die Gutsbesitzer bestimmte Dienste zu leisten hätten. Es war also nach jenem System der Ausscheidung eines besonderen Fonds zu verpachtenden Bodens aus den adligen Gütern, welches das „Bauernland“ in den Ostseeprovinzen geschaffen hatte. Zugleich sollte es den Bauern zustehen, innerhalb einer kurzen Frist (z. B. höchstens 12 Jahre) ihr Gehöftland, d. h. die Höfe nebst den Gemüsegärten, zu vollem Eigentum loszukaufen. Der Autor dieses Vorschlages, der Gehilfe des Ministers des Innern, ging sogar soweit, bei der Berechnung der Ablösungssumme für die Gehöfte in dieselbe auch den Schaden einzuschließen, welchen die Gutsbesitzer durch Einbuße des Rechtes auf eigenmächtige Ausnutzung der Arbeitskraft der ehemaligen Leibeigenen erleiden würden. Mit diesem Kniffe wollte Lewschin eine sehr große Schwierigkeit aus dem Wege räumen. Unter der Leibeigenschaft wurde nämlich der Wert der gutsherrlichen Besitztümer durch absolut ungleichartige Faktoren bedingt. Im Rayon der Schwarzerde war der ganze Wert der Güter im Boden enthalten, so dass in den Gegenden, in welchen die Bevölkerung einen gewissen Dichtigkeitsgrad erreicht hatte, die Käufer von Gütern in den fünfziger Jahren unbewohnte besiedelten vorzuziehen begannen. Dagegen hatte in den industriellen, nicht zur Schwarzerde gehörigen Gouvernements der Boden einen minimalen Wert, da die ganze Einnahme der Gutsbesitzer von den nichtlandwirtschaftlichen Verdiensten und Handwerken ihrer Bauern abhing, und nicht selten überstiegen die Zinszahlungen dieser Bauern bei weitem die Einnahmen aus den fruchtbarsten Ländereien in den reinen Ackerbau treibenden Gegenden des Schwarzerderayons.

Die Regierung konnte sich zum System der regelrechten Ablösung der Bauernverpflichtungen durch eine besondere Kreditoperation nicht entschließen, da sie ihr als etwas völlig Unmögliches erschien, und nahm zu dem Lewschinschen Ausweg ihre Zuflucht. So werde — dachte sie — der Loskauf der Gehöfte von den Bauern selbst ohne Inanspruchnahme des Fiskus vollzogen werden.

Während man also die Ackerländereien den Bauern gegen bestimmte Dienste zu ständiger Nutzung zuzuweisen gedachte, beschloß man die überkommene Polizeigewalt auch ferner den Gutsbesitzern auf ihren Gütern zu überlassen.

Derart waren die Grundprinzipien des Reskriptes vom 20. November 1857. Das Reskript wurde trotz des starren Widerstandes der Hofleibeigenenanhänger in Kopien allen Gouverneuren und Gouvernementsadelsmarschällen zugeschickt und einen Monat nach seiner Unterfertigung sogar in den Zeitungen publiziert.

Diese Veröffentlichung hatte in der Geschichte der Bauernreform eine gewaltige Bedeutung. Sie trug die Emanzipationsfrage aus den Mauern der Kanzleien und geheimer Komitees in die breite öffentliche Arena hinüber; der Presse ward erlaubt, an der Diskutierung der Angelegenheit teilzunehmen, während der Regierung und dem Adel der Rückzug abgeschnitten war.

Am 5. Dezember 1857 erfolgte ein ebensolches Reskript an den Petersburger Generalgouverneur Ignatiew, das auch dem Adel des Gouvernements Petersburg die Erlaubnis gewährte, nach denselben Grundsätzen an die „Besserung des Zustandes“ der leibeigenen Bauern heranzutreten. Kurz darauf wurde dem Adel von Nischni-Nowgorod als Antwort auf sein Ersuchen ein ebensolches Reskript zugeschickt. So blieb denn dem Adel der übrigen Gouvernements bei dem drohenden Hinweis auf das energische Drängen der Regierung hin nichts anderes übrig, als sich der Bewegung anzuschließen.

Nach einigen Monaten wurden in allen Gouvernements die aus gewählten Vertretern des Adels (je zwei auf jeden Kreis) gebildeten Gouvernementskommissionen eröffnet. Sie waren gehalten, im Verlaufe eines halben Jahres auf Grund des Regierungsprogramms einen Entwurf neuer Bauernverhältnisse auszuarbeiten. Allein die von der herrschenden Macht vorgeschriebenen Grundlinien für die Reform befriedigten nur sehr wenige. Die Gutsbesitzer in dem Schwarzerderayon zogen die Emanzipation ohne Landzuweisungen, selbst wenn daran gar keine Ablösungszahlungen geknüpft sein sollten, vor. Dagegen wünschten die Gutsbesitzer in den industriellen Nichtschwarzerdegouvernements die vollständige Liquidation der Leibeigenschaft und waren auch gern bereit, den Bauern Landanteile zuzuweisen, aber von so geringem Umfange, dass sie, ohne vom Boden allein ihre Bedürfnisse decken zu können, trotzdem an die Scholle gefesselt würden und den Gutsbesitzern das erforderliche Kontingent von Arbeitern und Pächtern des übrigen Landes böten. Der Hauptwunsch dieser Gutsbesitzer ging jedoch dahin, dass eine einmalige obligatorische Ablösung der Verpflichtungen mittels einer besonderen von der Regierung garantierten oder durchgeführten Kreditoperation stattfinden sollte. Nur unter solchen Bedingungen erhofften sie eine Entschädigung für die Einbuße an ihren Einnahmen, die durchaus nicht auf der Produktion ihres dürftigen Bodens, sondern auf dem Recht auf die Person und den Verdienst der Bauern beruhte. Die vernünftigsten unter ihnen sahen sehr wohl ein, dass die hohe Einschätzung der Gehöfte ohne Regierungsgarantie ihnen nichts bieten würde, da die Bauern nach solchen Schätzungen ihre Gehöfte nicht loskaufen würden. Pachtzins hingegen von den Bauern zu erheben oder sie zu Fronarbeiten zu zwingen, nach dem ihnen die persönliche Freiheit verliehen worden sei, schien ihnen völlig ausgeschlossen zu sein. Sie betrachteten — und wahrlich nicht ohne Grund — das System der durch keine Endfrist begrenzten Verpflichtungen, die ein Entgelt für die obligatorischen Dienste sein sollten, als eine Art „Belagerungszustand“, der beide Stände in zwei stets einander befehdende Parteien verwandeln würde. Ein einmaliger Loskauf schien ihnen eine sehr erwünschte Maßregel zu sein, da mit der endgültigen Liquidation der Leibeigenschaft und der gänzlichen Lösung der schweren Beziehungen zwischen Gutsbesitzer und Bauer die Gutsherren doch bedeutende Geldkapitalien in die Hände bekommen und so ihre Schulden abtragen, das notwendige landwirtschaftliche Inventar erwerben und zur Farmerwirtschaft mit Hilfe freier Lohnarbeiter übergehen könnten.

Erwägungen dieser Art machten die obligatorische Ablösung und die vollständige Liquidation der Leibeigenschaft unter den aufgeklärtesten Gutsbesitzern der industriellen Nichtschwarzerdegouvernements populär. Ein System aber, welches auch den Bauern volle Freiheit nebst Zuteilung von Land zu gewähren und die erbliche Polizeigewalt abzuschaffen gedachte, erwarb sich naturgemäß auch in der fortschrittlichen Presse die allergrößten Sympathien. Sowie die progressive Journalistik in der Bauernfrage ihre Meinung zu äußern in der Lage war, sprach sie sich mit Bestimmtheit für das Ablösungssystem aus.

Bald gelang es dem Twerer Gouvernementskomitee, dank der Energie seines Führers A. M. Unkowski, die Erlaubnis zu Abweichungen in seinem Projekte von den von der Regierung vorgezeichneten Grundlinien zu erlangen und ein Projekt auf der Grundlage einer einmaligen Ablösung der Verpflichtungen nebst völliger Abschaffung des Leibeigenschaftsrechts und aller seiner Attribute zu entwerfen. Dem Twerer Komitee folgte das Kalugaer, und die Regierung selbst kam endlich zur Überzeugung, dass die Ablösung der Verpflichtungen vermittelst einer Kreditoperation durchaus nicht etwas Undurchführbares sei. Als die Arbeiten der Gouvernementskomitees sich ihrem Ende näherten, gelangte zu dieser Ansicht auch ein Mitglied des Hauptkomitees, der General Rostowzew, ein Mann, der dem Kaiser Alexander selbst nahe stand, und er vermochte es, den Monarchen selbst dafür günstig zu stimmen.

Auch im Ministerium des Innern fand die Idee der Ablösung einen einflußreichen und talentvollen Verfechter in der Person des neuen Ministergehilfen Nikolaus Miljutin.*) Da aber die Arbeiten der meisten Gouvernementskomitees bereits beendet waren, so waren sie nicht mehr in der Lage, diesen Wechsel in den Anschauungen der Machthaber zu berücksichtigen.

*) Es gibt in französischer Sprache eine von Leroy-Beaulieu verfaßte Lebensbeschreibung dieses vortrefflichen Staatsmannes: „Un homme d'etat Russe (Nicolas Milutine) d'apres sa correspondance inedite“, Paris 1884.

Die meisten Komitees hatten, da sie den Rahmen des vorgeschriebenen Regierungsprogramms nicht zu verlassen wagten, ihr ganzes Streben darauf gerichtet, die Interessen der Gutsbesitzer so gut als möglich zu wahren, ohne formell das Programm zu verletzen. Das Endergebnis war, dass die Majorität der Komitees in den Schwarzerdegouvernements sich für die Bestimmung aussprach, dass der Boden den Bauern gegen obligatorische Leistungen nur für die Übergangszeit (etwa 9 — 12 Jahre) überlassen würde; nach Ablauf dieser Frist sollte er ohne irgendwelche Einschränkung ihres Verfügungsrechtes den Gutsbesitzern zurückerstattet werden; außerdem sollten letztere innerhalb ihrer Güter einen beträchtlichen Teil ihrer erblichen Gewalt beibehalten.

In den industriellen Gouvernements des Nichtschwarzerderayons stellten die Komitees, um den Gutsbesitzern eine möglichst große Entschädigung für den Ausfall der Bauernverdienste zu sichern, unglaublich erhöhte Abschätzungen der bäuerlichen Gehöfte auf und proponierten sehr bedeutende Zinszahlungen für die den Bauern zugewiesenen, fast überall zudem recht beschnittenen Anteile.

Die Entwürfe der Gouvernementskomitees gingen dann an das aus den höchsten Würdenträgern zusammengesetzte Hauptkomitee über. Diesem wurde im Jahre 1859 eine besondere Redaktionskommission aus Beamten verschiedener Abteilungen und Experten aus den sachkundigsten und der Reform geneigtesten Gutsbesitzern einer Reihe von Gouvernements angegliedert. Zum Vorsitzenden dieser Kommission wurde bestimmt General Rostowzew, der zu dieser Zeit bereits voll und ganz davon durchdrungen war, dass die Loskaufsoperation möglich und wünschenswert sei, der innerlich nach einer Hebung der Bauernlage strebte, aber zugleich nach Möglichkeit auch die Gutsbesitzer zu befriedigen bemüht war.

Die einflußreichsten Mitglieder der Redaktionskommission waren der Gehilfe des Ministeriums des Innern, Nikolaus Milutin, und seine persönlichen Freunde, Gutsbesitzer aus den Schwarzerdegouvernements, Fürst Tscherkasski und J. F. Samarin, sowie das immerwährende Mitglied der landschaftlichen Abteilung des Ministeriums des Innern J. A. Solowjew.

Als Hauptbedingung für das gedeihliche Fortkommen der Bauern betrachteten sie alle die Belassung von Landanteilen in deren Händen. In der Überzeugung, dass an eine Aufrechterhaltung von Zinszahlungen und namentlich von Frondiensten für längere Zeit nach der Befreiung der Bauern vom Leibeigenenstand absolut nicht zu denken sei, sahen sie den einzigen normalen Ausweg aus der Leibeigenschaft nur im Loskauf der Anteile durch die Bauern selbst mit Hilfe einer von der Regierung gewährleisteten Kreditablösungsoperation. Sie glaubten jedoch nicht an die Möglichkeit der Durchführung dieses Vorhabens durch eine einmalige, für beide Seiten obligatorische Maßnahme. Sie fürchteten, dass eine solche Bestimmung die gutsherrlichen Wirtschaften in eine kritische Situation bringen und zugleich für die russischen Finanzen, die damals in sehr traurigem Zustande waren, eine unaufbringliche Belastung bedeuten würde. So wurde denn von der Redaktionskommission als Basis der Reform das System freiwilliger Loskäufe der Bodenanteile nach Übereinkunft zwischen den Bauern und Gutsbesitzern unter Mitwirkung der Krone angenommen; solange jedoch die Loskaufabmachungen nicht erfolgt seien, proponierte sie, die Bauernanteile zu weiterer, an eine Frist nicht gebundener Nutzung den Bauern zu belassen. Was die Größe der Anteile betrifft, so wurde grundsätzlich der Wunsch ausgedrückt, dass sie dem Status quo zur Zeit der Leibeigenschaft entsprechen sollten. Um jedoch die große Ungleichmäßigkeit, die durch die Willkür der Gutsbesitzer hervorgerufen war, zu vermeiden, bestimmte die Redaktionskommission Maximal- und Minimalsätze, so dass auf Verlangen der Gutsbesitzer Bodenanteile, die den Maximalsatz überstiegen, um die Differenz gekürzt werden mussten. Erreichte umgekehrt der bäuerliche Anteil nicht einmal das Minimum, welches ein Drittel des Maximalsatzes ausmachte, so stand es den Bauern frei, den fehlenden Teil aus dem gutsherrlichen Boden zuerteilt zu erhalten.

Behufs Aufstellung der Anteilnormen wurde ganz Russland in drei Gebiete: Schwarzerde, Nichtschwarzerde, Steppenland eingeteilt. In jedem dieser Gebiete gab es mehrere Unterabteilungen oder verschiedene Ortskategorien, so dass nach den Bestimmungen der Redaktionskommission die Maximalsätze zwischen 2 ¾ und 12 ½ Dessjatin pro Seele schwankten.

Als Gegenleistung für die den Bauern zugewiesenen Anteile setzte die Kommission nach einigem Schwanken fast überall den Zins von 9 Rubeln für den vollen Maximalseelenanteil fest. Nur für wenige Ortschaften wurde diese Leistung bis zu 10 Rubeln und in einigen Ausnahmefällen bis 12 Rubel pro Seele erhöht. Bei Zuweisung von Anteilen unter dem festgesetzten Maximum sank der Pachtzins nicht im Verhältnis zur Verringerung des Anteils, sondern gemäß einer speziellen Gradation. Bei dieser Gradation zog man vor allem den Umstand in Betracht, dass nicht sämtliche Dessjatinen in der Wirtschaft den gleichen Wert hätten. In der Voraussetzung, dass das dem Dorfe näher gelegene Land, namentlich in den Nichtschwarzerdegouvernements, wo solcher Boden gedüngt zu werden pflegte, einen größern Wert repräsentieren, schätzte man die erste Dessjatin des Anteils höher als die folgende und die zweite Dessjatin höher als alle andern.

In die Abschätzung der ersten Dessjatin ward auch das Gehöft eingeschlossen. Aber das an und für sich völlig gerechte Prinzip der Gradation wurde bedeutend weiter ausgedehnt, als dies durch die eben angegebenen Erwägungen bedingt sein mochte. In die Abschätzung der ersten Dessjatin des Anteils wurde nicht nur der Wert des Gehöfts, sondern auch der dem Gutsbesitzer verlustig gegangene nichtlandwirtschaftliche Verdienst der Bauern eingeschlossen.

Das Endergebnis war, dass die erste Dessjatin des Anteils im Nichtschwarzerderayon bei weitem höher als die zweite eingeschätzt wurde, die zweite beträchtlich höher als die dritte usw. So wurde z. B. beim vierten Dessjatinenanteil der Neunrubelr Pachtzins also zerlegt: der Obrok von der ersten Dessjatin wurde mit 4 Rubel, von der zweiten mit 2 Rubel 40 Kopeken, von der dritten und vierten mit je i Rubel 30 Kopeken bestimmt; beim 6-Dessjatinenanteil wurde der Obrok von der ersten Dessjatin mit 4 Rubel, von der zweiten mit 2 Rubel, von allen übrigen mit je 75 Kopeken berechnet. Ein Bauer, der einen Vollanteil von 6 Dessjatin bekam, musste jährlich einen Pachtzins von 9 Rubeln zahlen, während sein Nachbar, der zufällig einen um das Dreifache kleineren Anteil besaß, nicht verhältnismäßig 3 Rubel, sondern 6 Rubel zu entrichten hatte. Dieses Stufensystem, das in der Folge zum Gesetz erhoben wurde und auch bei der Berechnung der Ablösungszahlungen zur Grundlage diente, war für die bäuerliche Wirtschaft eine höchst ungünstige und schädliche Bestimmung, da die Bauern, welche wenig Land besaßen, mit schwereren Zahlungen als die Besitzer von viel Land belastet waren. Im Gesetze hieß es zwar, dass die Bauern den Pachtzins für die ihnen zugewiesenen Anteile bezahlen sollten; in Wirklichkeit aber entsprachen diese Pachtzinszahlungen und Leistungen in den Nichtschwarzerdegouvernements keineswegs dem Werte und den Erträgen der Anteile. In Wahrheit hatten die Bauern nicht so sehr den Boden, als die Abschaffung des gutsherrlichen Rechtes auf ihre Arbeitskraft zu bezahlen. Was die Verwaltungsordnung der Bauern betrifft, so hat die Redaktionskommission die Vorschläge der meisten Gouvernementskomitees von Grund aus geändert. Die Gouvernementskomitees hatten sich noch nach dem Programm gerichtet, das die Regierung zu einer Zeit aufgestellt hatte, als sie das Ablösungssystem und die einmalige und volle Liquidierung der Leibeigenenverhältnisse für etwas Unmögliches betrachtete, und schlugen deshalb in ihren Entwürfen die Beibehaltung eines bedeutenden Teiles der Polizeigewalt in den Händen der Gutsbesitzer vor. Die Redaktionskommission hingegen, die das Ablösungssystem der Reform zugrunde legte, machte es sich zur Aufgabe, die Bauern von der gutsherrlichen Gewalt völlig zu befreien und ihnen in ihrem Dorfleben Selbstverwaltung zu gewähren. So waren denn die Gutsbesitzer jeglicher Gewalt beraubt und von jeder Einmischung in die wirtschaftlichen und administrativen Bauernangelegenheiten völlig ausgeschlossen. Andrerseits war aber auch das Prinzip der Selbstverwaltung der bäuerlichen Gesellschaften gleich am Anfang verzerrt. Die bäuerlichen Gemeinden waren in Wolosten, die eine Bevölkerung von 300 — 3.000 Seelen umfaßten, eingeteilt; wenn nun aber auch alle Wolostund Dorf Verwaltungen durch Wahlen hervorgehen sollten, so waren sie doch mit so vielen Polizeipflichten belastet, bei deren Ausübung sie den Kreispolizeiorganen völlig untergeordnet waren, dass das Selbstverwaltungsprinzip de facto nicht verwirklicht wurde. Statt dessen war eine Reihe gewählter Bauernbeamten geschaffen, welche gewisse Polizeidienste mit völliger Unterordnung unter die allgemeinen Polizeiorgane zu verrichten hatten. Nur in rein wirtschaftlichen Angelegenheiten war den Dorfzusammenkünften Selbständigkeit verliehen, die indes auch darin in der Praxis eingeschränkt werden konnte; war ja den beamteten Personen die Befugnis zuerteilt, jeden Bauer ohne formelle Verhandlung zu bestrafen und zu verhaften.

Das bäuerliche Wolostgericht sollte nach dem Entwürfe der Redaktionskommission eine unabhängige und urwüchsige Anstalt werden, es wurde jedoch aus Bauern, die des Lesens und Schreibens unkundig waren oder jedenfalls ganz ungebildet und von administrativen Einflüssen nicht ganz frei waren, zusammengesetzt; so gewann die einzige des Lesens und Schreibens kundige Person des Gerichts, nämlich der Sekretär, der Wolostschreiber, unwillkürlich einen zu großen Einfluß auf dessen Entscheidungen.

In rechtlicher Hinsicht ist die Bauernreform ein gewaltiger Schritt nach vorwärts. Die Schöpfer und Mitarbeiter der Reform pflegten es mit Vorliebe zu betonen, dass diese zuerst das Volk auf die Geschichtsarena geführt hätte. Auf den ersten Blick schienen auch die Entwürfe des Gouvernementskomitees und der Redaktionskommission außerordentlich radikal; in Wirklichkeit waren im Entwürfe der Redaktionskommission viele Beschränkungen geblieben, welche der Freiheit des Volkes stark beengten und der Idee der bürgerlichen Gleichberechtigung der Bauern mit den übrigen Ständen zuwiderliefen. Im Bestreben, die Bauern von der gutsherrlichen Gewalt möglichst vollständig zu befreien, und sie nach dieser Seite hin vor jeder Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu schützen, unterwarf sie statt dessen die Redaktionskommission der despotischen Gewalt des Mir (der Gemeinde) und der Vormundschaft der Beamten. Die Mehrheit der Mitglieder der Redaktionskommission bestand aus aufrichtigen und überzeugten Emanzipationsfreunden; aber in ihren Erwägungen ließen sie sich nicht durch die Anerkennung der menschlichen und bürgerlichen Rechte für alle leiten, sondern vom Bewußtsein, dass die Reform aus staatlichem, patriotischem und, wenn man will, volkstümlichem Gesichtspunkt erforderlich sei. Jedenfalls waren in ihren Erwägungen die Fragen persönlicher Freiheit einerseits durch die Fragen des bäuerlichen Wohlstandes, andrerseits durch die staatlichen Interessen bei weitem zurückgedrängt. So waren denn die ständischen Vorrechte mit dem Fall der Leibeigenschaft nicht aufgehoben; der Entwurf der Redaktionskommission machte die Bauern nicht den privilegierten, sondern nur andern „Steuerzahlenden“ Ständen gleich.

Die Steuer zahlenden Stände waren kraft des damaligen Besteuerungssystems keineswegs frei. Da das Steuerobjekt damals nicht im Eigentum, sondern in der Person enthalten war, so hatte der Staat ein natürliches Interesse daran, dass Leute, die mit Abgaben belastet waren und Naturalsteuern zu leisten hatten, sich dem nicht entzögen. Deshalb war das Verlassen eines besteuerten Standes nicht frei und selbst der Übergang aus einem besteuerten Stande in den andern nur unter mehrfachen, mehr oder weniger einschränkenden Bedingungen gestattet. Ferner: da, wie gesagt, das Steuerobjekt nicht das Eigentum, sondern die Persönlichkeit war, so konnte auch das richtige Einfließen der staatlichen und landschaftlichen Steuern nicht durch das Eigentum garantiert werden. Statt dessen diente die gegenseitige obligatorische Haft der zu einer bestimmten Gruppe von Besteuerten gehörigen Personen. So erfolgte die Einbürgerung der solidarischen Haft aus Staatsgründen. Eine solche Haftbarkeit konnte jedoch nur durch Statuierung einer bestimmten Gewalt, welche die verantwortliche Gruppe über jede besteuerte Person auszuüben vermochte, durchgeführt werden. Diese Gewalt ging nach der von der Redaktionskommission ausgearbeiteten Ordnung so weit, dass die Dorf Versammlungen unregelmäßige Steuerzahler unter ihren Mitgliedern zur Leistung von Arbeiten zwingen und deren Eigentum unter Kuratel stellen konnten. Das gleiche Steuersystem führte in Verbindung mit der Unzulänglichkeit der Polizeiorganisation zu großen Beschränkungen in den Freizügigkeitsrechten. Da schließlich dem Staate daran lag, die Zahlungsfähigkeit der Steuereinheiten aufrecht zu erhalten, so konnte er ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Daraus entstand die Regierungsbevormundung, welche den Bauer in seinem Rechte, auf den Landanteil zu verzichten, beschränkte und ihn so in der Auswahl seiner Beschäftigung wesentlich behinderte.

Solcher Art waren die Einschränkungen der persönlichen Freiheit der Bauern, welche die Mitglieder der Redaktionskommission als unabwendbares zeitweiliges Übel betrachteten. Die allmähliche Abschaffung dieser Beschränkungen stellten sie als eine Aufgabe der nächsten Zukunft hin, ohne zu ahnen, dass von der nächsten Zukunft ab eine langdauernde Reaktion fast ohne den geringsten hellen Punkt eintreten würde.

Die Arbeiten der Redaktionskommission wurden von der nach Petersburg zwecks Überreichung ihrer Gutachten berufenen Abgeordneten des Gouvernementskomitees einer erbitterten und schonungslosen Kritik unterworfen. Geärgert durch die Tatsache, dass die Redaktionskommission den Willen des Adels überhaupt nicht berücksichtigt und die Entwürfe der Gouvernementskomitees lediglich als nützliches Nachschlagematerial behandelt hatten, und verletzt durch eine gewisse Verachtung und ein gewisses Mißtrauen seitens der Petersburger Bureaukratie, suchten diese Abgeordneten die völlige Unzulänglichkeit des Projektes der Redaktionskommission darzulegen und verlangten, dass die Sache unter ihrer Mitwirkung im Hauptkomitee einer nochmaligen Umarbeitung unterliegen sollte. Zweimal waren solche Abgeordneten nach Petersburg berufen worden. Die Abgeordneten der „ ersten Einberufung“ übten ihre Kritik am Entwürfe der Redaktionskommission vornehmlich vom sozialen und liberalen Standpunkte. Die meisten von ihnen wiesen auf die Unzweckmäßigkeit der Festsetzung von zeitweiligen Verpflichtungen für die Bauern den Gutsherren gegenüber hin und richteten ihre Angriffe insbesondere gegen die von der Redaktionskommission geplante polizeiliche Bauernverwaltung, die zu einer Isolierung der Bauern führen musste und der Einmischung der polizeilichen und administrativen Behörden in ihr inneres Leben den weitesten Spielraum eröffnete. In der schroffen und bissigen Kritik der Abgeordneten der ersten Einberufung äußerte sich der im Laufe von Jahrhunderten in den Vertretern der landschaftlichen Bevölkerung angesammelte Haß gegen die Bureaukratie und die administrative Willkür. Die kühnsten und überzeugtesten unter ihnen sagten es offen heraus, dass sie Befreiung von der Leibeigenschaft und der polizeilichen Bedrückung nicht nur für die Bauern, sondern auch für das ganze russische Volk herbeisehnen. Diese Forderungen waren in einer besonderen, von fünf Abgeordneten dem Kaiser überreichten Adresse zusammengefaßt. Darin hieß es, dass die Bauernfrage nur vermittelst einer obligatorischen Ablösung auf der Grundlage einer vom Staate garantierten Kreditoperation gerecht und zur Zufriedenheit beider Stände zu lösen sei. Überhaupt aber könne der Wohlstand des Volkes erst durch eine ganze Anzahl von Reformen erreicht werden, vor allem durch Gewährung lokaler allständischer Selbstverwaltung und öffentlicher, für alle Stände gemeinschaftlicher Geschworenengerichte, sowie durch Hintanhaltung der Beamtenwillkür, zu welchem Zwecke auf Beschwerden oder Klagen von Privatpersonen die Beamten vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden sollten. Diese Forderungen fanden bei vielen der folgenden ordentlichen Adelsversammlungen lebhafte Unterstützung und erschienen der an freie und unabhängige Meinungsäußerung nicht gewöhnten Regierung als außerordentliche Vermessenheit. Aber neben diesen liberalen und demokratisch angehauchten Stimmen gab es auch andere Kundgebungen: so erhielt die Regierung zugleich Gesuche von oligarchischer Färbung, die nur für den Adel eine beratende Stimme in staatlichen Angelegenheiten verlangten. Solche Forderungen gingen von einer kleinen aristokratischen Gruppe aus, an deren Spitze die Brüder Besobrasow, Graf Orlow-Dawidow, General Malzow u. a. standen. Alle diese Kundgebungen schrieb die Regierung in gleicher Weise auf Rechnung der Adelsfronde und zeigte zum erstenmal seit der Thronbesteigung Alexanders II. ihre Krallen. Alle beteiligten Personen erhielten einen feierlichen Verweis, und einige von ihnen traf die Strafe administrativer Verbannung nach den östlichen Gouvernements. Als die Abgeordneten der zweiten Einberufung nach Petersburg kamen, war gerade in der Zusammensetzung der Redaktionskommission eine wichtige Veränderung eingetreten. Am 6. Februar 1860 war der Vorsitzende der Kommission, General Rostowzew, ein aufrichtiger und einflußreicher Freund der Bauernbefreiung, der das volle Vertrauen des Zaren Alexander II. genoß, gestorben. Er wurde durch den Grafen Panin, einen Anhänger des alten Regimes, ersetzt. Trotzdem Panin sich dem Kaiser durch Ehrenwort verpflichtet hatte, die Arbeit in derselben Richtung weiterzuführen, die ihr Rostowzew gegeben hatte, schöpften doch die Gegner der Reform bei seiner Ernennung neuen Mut, und die Abgeordneten der zweiten Einberufung, die aus den landwirtschaftlichen Gouvernements, meistenteils sogar aus dem Schwarzerderayon kamen, richteten alle ihre Bemühungen darauf, in den Augen der Regierung die Tendenz der Arbeiten der Redaktionskommission zu kompromittieren. Sie selber stellten sich auf den Boden gutsherrlicher Klasseninteressen und verteidigten die völlige Unantastbarkeit des gutsherrlichen Grundeigentums. Die Mitglieder der Redaktionskommission hingegen suchten sie in den Verdacht republikanischer, sozialistischer, ja kommunistischer Absichten zu bringen. Alle diese Versuche hatten jedoch ebensowenig Erfolg, wie die Intriguen verschiedener hochgestellter Anhänger der Leibeigenschaft, selbst solcher aus den Hofkreisen, und die Entwürfe der Redaktionskommission passierten dank der energischen persönlichen Unterstützung des Kaisers Alexander II. ohne wesentliche Änderungen sowohl das Hauptkomitee als den Reichsrat.

Die folgenschwerste Ergänzung erfuhr der Entwurf der Redaktionskommission durch das auf Antrag von Graf Gagarin den Gutsbesitzern aller Gouvernements gewährte Recht, nach freiwilliger Übereinkunft mit den Bauern statt des vollen für bestimmte Abgaben gewährten Bodenanteils ihnen unentgeltlich einen vierten Teil der maximalen Norm anzuweisen, was später als „Bettelanteir' bezeichnet wurde.

Am 19. Februar 1861 genehmigte Alexander II. die neuen Bestimmungen betreffs der von der Leibeigenschaft befreiten Bauern und unterschrieb noch an demselben Tag das Manifest, das dem Volke die Abschaffung der Leibeigenschaft feierlich verkündete.

Zwei Jahre später, im Jahre 1863, wurden die Grundsätze des Gesetzes vom 19. Februar auf die Apanagenbauern ausgedehnt, jedoch mit dem Unterschiede, dass für sie die Ablösung der Bodenanteile obligatorisch wurde. Im Jahre 1866 wurden die gleichen Prinzipien auch auf die Staatsbauern ausgedehnt, wobei die ihnen früher angewiesenen Anteile für eine ständige Pacht (Obrok) zu fristloser Nutznießung überlassen wurden.

Werfen wir nun einen kurzen Blick in die Verhältnisse, welche durch die neuen Gesetzesbestimmungen für die verschiedenen Bauernkategorien geschaffen wurden.

Die Bauern aller Kategorien waren persönlich frei erklärt; diese Freiheit erfuhr jedoch bei den ehemaligen gutsherrlichen Bauern insofern eine Einschränkung, als sie in den ersten neun Jahren auf die ihnen zugewiesenen Anteile nicht verzichten durften. Auch in der spätem Zeit war die Ausscheidung der Bauern aller Kategorien von der Zustimmung der Dorfinsassen und von einer vorherigen Bescheinigung ihrer Aufnahme in eine andere Gemeinde abhängig gemacht, von den zahlreichen Formalitäten zu schweigen, mit denen ein solcher Schritt verbunden war. Die Freizügigkeit der Bauern war durch die Paßordnung geschmälert, die für jedes Verlassen des Heimatsortes auf längere Zeit die Erlaubnis der lokalen Gemeindegewalt erforderlich machte. Für Ungehorsam und dergleichen unbedeutende Vergehen konnten die Bauern nach dem Gesetz vom 19. Februar durch die Dorf-, bzw. Wolostobrigkeit verschiedenen Disziplinarstrafen unterworfen werden, und das Wolostgericht verfügte über das Recht, gegenüber den Bauern selbst die für alle andern freien Stände abgeschaffte Körperstrafe anzuwenden. In administrativer Hinsicht wurden die Bauern zu Gemeinden vereinigt, wobei alle Mitglieder jeder Dorfgemeinschaft, ganz gleichgültig, ob der eine über Gemeindebesitz verfügte, der andere Individualeigentum hatte, in der Leistung aller staatlichen Abgaben, sowie des Obroks und der Ablösungszahlungen für die zugewiesenen Bodenanteile für einander solidarisch haften. In den Gegenden, in welchen während der Leibeigenschaft Gemeindebesitz *) vorherrschte, wurde dieselbe Besitzform auch nach dem Gesetz vom 19. Februar aufrecht erhalten, die Dorfversammlung konnte jedoch mit 2/3 aller Stimmberechtigten den Beschluß fassen, das Gemeindeland in Individualbesitz überzuführen. Kraft solchen Beschlusses zerfiel der Gemeindebesitz in einzelne Höfe, aber die solidarische Haft für die Leistung der Abgaben und Steuern wurde dadurch keineswegs beseitigt. Die Dorfgemeinden bildete man nach den Gütern, und ihre Grenzen fielen sehr oft mit den wirklichen Dorfgrenzen nicht zusammen. Gehörten die Bauern eines und desselben Dorfes verschiedenen Gutsbesitzern, so wurden aus ihnen in entsprechender Weise die Gemeinden gebildet. In jeder Gemeinde hat die Verwaltung über alle wirtschaftlichen Angelegenheiten und Bedürfnisse nach dem Gesetz vom 19. Februar die Dorfversammlung, der auch das Recht der Selbstveranlagung und der Wahl von Dorfbeamten, nämlich des Dorfschulzen (Starosta), des Steuereinnehmers und des Dorf Schreibers, zusteht (die beiden letzteren sind übrigens nicht obligatorisch).

*) über die russische Bodengemeinde siehe in deutscher Sprache außer der alten Arbeit von Haxthausen neuere ausführUche Arbeiten von J. v. Keußler „Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Russland“, Dorpat, 3 Bände, und Alex. Tschuprow „Die Feldgemeinschaft“, Straßburg 1902.

Der Starosta ist der Vorsitzende und zugleich das exekutive Organ der Dorfversammlung. Außerdem liegen ihm alle polizeilichen Pflichten in seiner Gemeinde ob, und in dieser Beziehung ist er dem Wolostvorsteher und der Kreispolizeibehörde untergeordnet, deren Anordnungen er unverzüglich zu erfüllen hat. Die benachbarten Gemeinden bilden eine Wolost, die ausschließlich zu administrativen Zwecken ins Leben gerufen worden ist. Die wirtschaftlich anordnende Gewalt in der Wolost steht laut Gesetz der Wolostversammlung zu, die aus Vertretern der Gemeinden, je einem auf zehn Hausbesitzer, besteht und über das Recht der Selbstbesteuerung zur Befriedigung der Wolostbedürfnisse und der Wahl von Amtspersonen, des Wolostvorstehers, der Besitzer der Wolostbehörde, der Wolostrichter und des Wolostschreibers verfügt (letzterer kann jedoch auch von der Wolostbehörde selbst bestimmt werden). In der Praxis erwiesen sich die Wolostgemeinschaften als künstliche Verbände; es gibt eigentlich keine gemeinsame wirtschaftliche Angelegenheit außer der Selbstbesteuerung zu Zwecken, die den Bauern von der Regierung oder der Obrigkeit wider Willen auferlegt werden. Die Wolostverwaltung ist ihren Funktionen nach ein rein polizeiliches Institut, das auf Kosten der Bauern erhalten wird, eigentlich aber zur Ausführung mannigfacher polizeilicher und administrativer Anordnungen der verschiedenen Kreisbehörden dient. Angesichts des Umstandes, dass die meisten Wolostvorsteher des Lesens und Schreibens unkundig sind oder jedenfalls nur sehr schwache Kenntnisse darüber besitzen, ist die Hauptperson in der Wolostverwaltung der Schreiber (Wolostpissar). Die bureaukratische Ordnung in den Kreis- und Gouvernementsregierungsanstalten übte sehr bald ihren Einfluß auch auf den Geschäftsgang in den Wolostverwaltungen, in denen die Kanzleikorrespondenz so ungeheure Dimensionen annahm, dass in einzelnen die Zahl der einund ausgehenden Papiere viele Tausende beträgt*): in vielen Fällen, in denen ein Schreiber die Arbeit nicht mehr bewältigen kann, sieht sich die Wolostverwaltung gezwungen, sogar mehrere Hilfskräfte und zwar auf Rechnung der Bauern anzustellen. Die Wolostverwaltungen führen mannigfache statistische und Rechnungsregister, Steuer-, landwirtschaftliche, sanitäre und andere Verzeichnisse, sowie Register über Erfüllung der Wehr- und Pferdegestellungspflicht, Listen der Geschworenenbeisitzer usw. In den größern Kirchspielen erscheinen die Wolostverwaltungen schon seit langem ansehnlichen Kanzleien ähnlich.**)

*) Der Verfasser hat in Sibirien eine Wolostverwaltung gekannt, die jährlich 25.000 eingehende und ebenso viel ausgehende Akten zählte.

**) In Sibirien gibt es Wolostverwaltungen, die ihrem Pissar ein jährliches Gehalt von mehreren Tausend Rubeln zahlen und ihm 5 — 6, zuweilen auch 10 Hilfskräfte zur Verfügung stellen.


Die von der Regierung unmittelbar eingesetzten Verwalter und Leiter der Bauerninstitutionen waren nach dem Befreiungsgesetz vom 19. Februar die Friedensvermittler, denen die vollständige Durchführung der Bauernreform am Orte anvertraut war.

Nach dem Entwurf der Redaktionskommission sollten die Friedensvermittler von den Bauern aus der Mitte des Ortsadels gewählt werden; dieser Antrag fand jedoch im Reichsrat keine Zustimmung. Es galt nun die Vorschrift, dass die Friedensvermittler von den Gouverneuren in Übereinkunft mit den Adelsmarschällen aus der Mitte des Adels zu ernennen und vom Senat zu bestätigen sein sollten. Dem Senat lag es ob, sie zur Verantwortung zu ziehen oder ihres Amtes zu entsetzen, wodurch ihre Unabhängigkeit von der Willkür der Gouverneure und der zentralen Administration gesichert war. Ihre Hauptaufgabe war die Liquidierung der Leibeigenschaft. Unter ihrer unmittelbaren Aufsicht wurden auf jedem Gute Urbarialurkunden verfaßt, eine Art Dorfcharte, die genau bestimmte, welche Anteile den Bauern zu überlassen waren und welche Verpflichtungen die Bauern gegen die Gutsbesitzer zu übernehmen hatten. Die Friedensvermittler waren außerdem mit der Aufgabe betraut, die neuen Institute, welche die Bauern durch Wahl aus ihrer eignen Mitte bilden sollten, zu eröffnen und in der Anfangszeit zu leiten. Die Verfasser der Befreiungsordnung hatten diesen Zustand also nur als vorübergehenden betrachtet. In der Praxis jedoch nahm die Einmischung der Friedensvermittler und der später an ihre Stelle getretenen Tschinowniks mit der Zeit nicht nur nicht ab, sondern erhielt im Gegenteil den Charakter einer ständigen und kleinlichen Bevormundung und Reglementierung, nur mit dem Unterschied, dass die Auswahl der ersten Friedensvermittler in den meisten Ortschaften sehr glücklich ausgefallen war und in bester Erinnerung geblieben ist. Die Arbeiten an der Bauernreform lockte überhaupt damals die ausgezeichnetsten Männer an sich, die vom aufrichtigen Wunsch beseelt waren, dem Wohl des Volkes zu dienen. Die meisten Friedensvermittler der ersten Einberufung hatten nicht nur redlich ihre Pflicht erfüllt, sondern auch mit echtem sozialem Mut im schweren Kampf mit den reaktionären Stimmungen ihren Mann gestanden. Denn schon zwei Monate nach dem Erlaß der Ordnung vom 19. Februar begann im Ministerium des Innern der Geist des Rückschrittes sich stark zu regen, als an die Spitze dieses Ressorts zwecks Aussöhnung des Adels mit der Regierung P. A. Walujew, der sich als Liberaler geberdete, in Wirklichkeit aber nur die Interessen der Gutsbesitzer zu verteidigen suchte, berufen wurde.

Was die materiellen Ergebnisse der Reform anbetrifft, so zeigten sie sich erst allmählich in ihrer vollen Bedeutung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Bauernfrage