6. Auswanderungspolitik
Bei den geschilderten Missständen ist es wohl unbedingt notwendig, dass Staat und Gesellschaft zu der Frage Stellung nehmen, wie diesem Übel abzuhelfen sei. Unklug und ungerecht wäre es, wollte man der Auswanderung keine Beachtung schenken. Gleichzeitig aber musste die Regierung einsehen, dass die Bewegung durch Polizeiliche Maßnahmen nicht unterdrückt werden kann. Das Kulturniveau der Bevölkerung ist gestiegen, der Nahrungsspielraum hat sich nicht vergrößert, ja er ist zum Teil kleiner geworden. Wollte man die Auswanderung gewaltsam verbieten, so müsste das auf Kosten der Lebenshaltung der untersten Schichten der Bevölkerung gehen. Es ist wohl nichts falscher als eine solche Herabdrückung. Will man das nicht, dann muss man versuchen, die Produktivkräfte des Landes so zu steigern, dass genügend bezahlte Arbeitsgelegenheit für die Arbeitskräfte des Landes vorhanden ist. Natürlich lassen sich in Österreich und Russland die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht so schnell umgestalten; solange aber ist es wirtschaftlich notwendig, dass der Überschuss der Bevölkerung in Länder abströmt, in denen er die Möglichkeit hat einen ausreichenden Lohn zu erarbeiten. Jede Gleichgültigkeit oder Hinderung ist von nationalvolkswirtschaftlichem Standpunkte aus von größtem Schaden; denn bei der Ausbreitung der Verkehrsverhältnisse lässt sich die Auswanderung in keiner Weise unterbinden, dagegen züchtet man aber jenes Winkelagententum, das die Auswanderer ausbeutet und die Auswanderung über das wirtschaftlich notwendige Maß bisweilen hinaustreibt. Schließlich schwindet auch dadurch die Verbindung mit den Auswanderern, die auf diese Weise dann der nationalen Volkswirtschaft für immer verloren gehen. Es ist daher gerade für diese beiden Länder die augenblicklich wohl die stärkste Auswanderung und die schwächste Auswanderungsgesetzgebung haben, unbedingt notwendig, von ihren bisherigen Prinzipien abzulassen und eine neue Auswanderungspolitik zu betreiben. Es ist dabei nicht notwendig, die Auswanderung irgendwie zu fördern, aber schützen muss Staat und Gesellschaft im nationalen Interesse die Auswanderer in jeder Weise und solange es möglich ist. Dabei muss man bedenken, dass weit mehr als der dritte Teil der Auswanderer aus diesen Ländern Analphabeten sind, d. h. dass sie auf der Reise hilflos wie Kinder sind. Die vornehmlichste Aufgabe der Regierung beider Länder zum Schutze der Auswanderer wäre demnach wohl die Hebung der allgemeinen Bildung und die Ausbildung der Auswanderungstechnik. Ohne Erfüllung dieser beiden Aufgaben ist an eine Besserung der augenblicklichen Verhältnisse wohl kaum zu denken. Die Länder, die in der letzten Zeit die Lösung der Auswandererfrage versucht haben, können als Vorbild dienen für die Schaffung eines[/b] Auswandererschutzes[/b] in Österreich und Russland. Ich will daher auch die jeweils in Betracht kommenden Länder zum Vergleiche heranziehen und über den Erfolg ihrer Einrichtungen berichten. Ohne Hebung der allgemeinen Bildung wenigstens bis zum Lesen und Schreiben ist es ganz unmöglich, die Auswanderer in sachkundiger Weise über die Länder, nach denen sie auswandern wollen, zu unterrichten. Unbedingt notwendig aber ist es, dass die Auswanderer davor gewarnt werden nach Ländern zu wandern, in denen ihr Leben und ihr Hab und Gut in Gefahr sind. In Deutschland, England, der Schweiz und in Italien bestellen Auskunftsstellen, die über alle Dinge unterrichten, die für die Auswanderung notwendig sind. Die Wirkung dieser Auskunftsstellen sind aber sehr verschieden, und das hängt zum großen Teil davon ab, ob die Auskünfte von Privaten, dem Staat oder von beiden gemeinsam erteilt werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Auswanderung aus Österreich und Russland über die Deutschen Häfen
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