3. Ursachen der Auswanderung aus Österreich und Russland

Bei der Größe und Ausdehnung der hier in Betracht kommenden Länder ist es kaum möglich, alle Gründe, die zur Auswanderung veranlassen, zu untersuchen. Wir wollen hier nur in kurzer Übersicht die Frage beleuchten.

Zum großen Teil sind wohl die Grundmotive, die zur Übersiedlung in die Stadt, in ein Industriezentrum und über See führen, die gleichen. Es ist die Wanderung von den Orten hohen nach den Orten geringen sozialen Drucks. Den Geburtenüberschuss, den die Landwirtschaft nicht mehr ernähren kann, nimmt das Gewerbe, nehmen die Städte auf. Dieses Abströmen können wir immer beobachten, wenn die Landbevölkerung nicht an die Scholle gebunden ist. Neben die Wanderung in die Städte, die Staubecken des Bevölkerungsüberschusses waren, trat die Kolonisation neu entdeckter Länder, also die Auswanderung über See. Zunächst gingen natürlich nur die Mutigsten hinaus ins Ungewisse. Als aber dann ihre Nachrichten von den Schätzen der neuen Länder berichteten, als man von den Goldfeldern Kaliforniens hörte, da begann allmählich der Auswandererstrom zu ungeahnter Größe anzuschwellen. Das Ziel der Auswanderung war zunächst Nordamerika, für Italien und Spanien daneben in überwiegendem Maße Südamerika. Österreich-Ungarn und Russland traten, wie schon oben erwähnt, erst verhältnismäßig spät als Auswanderungsländer auf. Noch anfangs der 60er Jahre konnte Legoyt (Émigration européenne) mit Recht sagen, dass die Bewohner Österreichs im ganzen keine einigermaßen bemerkenswerte Neigung zur Auswanderung zeigten.


Als Ursache führt er an die Maßnahmen der Regierung, welche den Auswanderern Hindernisse in den Weg legen, den ziemlich befriedigenden ökonomischen Zustand namentlich der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die größere Entfernung vom Orte der Verschiffung, sowie das Vorhandensein fruchtbarer noch unbebauter Landstriche im Innern. Ungefähr das Gleiche gilt wohl für die damalige Zeit für Russland. Hier standen weite Gebiete der Kolonisation offen im europäischen und besonders im asiatische Russland, in Sibirien. In letzter Zeit wird wieder der Versuch gemacht, diese Gebiete zu kolonisieren und die Auswanderung nach der Richtung zu leiten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber nahm die Bewegung einen ungeahnten Verlauf. Man kann jetzt wohl behaupten, dass der Schwerpunkt der amerikanischen Einwanderung sich nach Russland und Österreich verschiebt. Dementsprechend sind auch die Ursachen, die Legoyt anführt, ganz und gar nicht mehr stichhaltig. Die Maßnahmen der Regierung und die Reise zum Ort der Verschiffung will ich weiter unten schildern. Hier will ich nur sagen, dass die anderen Faktoren, die zur Auswanderung treiben, so stark sind, dass selbst Gegenmaßregeln der Regierung und die Beschwerden der Reise nur einen ganz geringen Einfluss ausüben können. Sie üben diesen Einfluss nur insoweit, dass der Auswanderer, wenn er dazu in der Lage ist, sich natürlich denjenigen Weg wählt, auf dem diese Schwierigkeiten am geringsten sind.

Die Umwälzung der Wirtschaftsordnung musste die Auswanderung hervorrufen. Die Auswanderungsfreiheit, die die Mitte des vorigen Jahrhunderts brachte, ermöglichte es der bedrückten Landbevölkerung, dem auf ihr lastenden wirtschaftlichen Drucke auszuweichen. Wie stark dieser Druck war und noch ist, das zeigt uns die Verteilung des Bodens. Die Agrarverfassung krankt auf der einen Seite an einer oft bis zur Unglaublichkeit fortgeschrittenen Bodenzersplitterung, während wir auf der anderen Seite die maßloseste Latifundien Wirtschaft haben. In einer Monographie Dr. Bujaks über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Dorfes Maskienice, das für die Verhältnisse des österreichischen Auswanderungsgebietes typisch sein soll, lesen wir: von 543 Besitzungen hatten 193 weniger als 1 Joch, 253 1 — 4 Joch, nur 54 mehr als 4 Joch.

Nach Kryzanowski, Die Grundbesitzverteilung in Galizien, entfielen von der ganzen Landfläche mit 13,64 Millionen Joch 7,38 Millionen auf Besitzungen unter 200 Joch. Eine Erhebung in 249 typischen Gemeinden hat ergeben, dass von 8.102 Besitzungen nur 1.503 d. i. l,68% einen Umfang von mehr als 25 Joch gehabt haben. 1.107 Eigentümer hatten dagegen 4,45 Millionen Joch, 32,64% des ganzen Landes. Auch die Betriebszählung ergibt, dass in Galizien nur 5% der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe über 10 ha groß sind.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Trzcinski (russisch-polnische und galizische Wanderarbeiter). „Alljährlich werden gegen 30.000 neue Katastralparzellen geschaffen. In der Umgegend von Krakau sind manche Parzellen so klein, dass sie auf der Katasterkarte im Maßstabe von 1 : 2.880 nicht mehr eingezeichnet werden können“. Soweit kann zwar in Russland die Zersplitterung nicht gehen, da nach russischem Gesetz die Teilung in Parzellen unter 4 Morgen verboten ist. Der Erfolg ist aber nur der, dass ein stets wachsender Teil der Bevölkerung dadurch schneller vom Boden gelöst und mittellos gemacht wird, da eine Ausdehnung des Bauernstandes innerhalb des vorherrschenden Latifundienbesitzes natürlich unmöglich ist. Bei den hohen Geburtenziffern, die gerade Russland und Österreich haben, muss diese Zersplitterung immer weiter gehen *) denn bei der geringen Entwicklung der Industrie und bei dem niedrigen Stande der Volksbildung ist die Nachfrage nach Arbeitskräften klein und schnell befriedigt. Es bleibt dann nur der Bodenbesitz als einzige Nahrungsquelle. Da der Nahrungsspielraum innerhalb der Staatsgrenze zu eng ist, bleibt die Auswanderung als einziges Mittel, um zu lohnender Arbeitsgelegenheit zu gelangen. Auch auf den großen Gütern der Heimat ist an eine wirklich lohnende Arbeit nicht zu denken. Nach einem Bericht der Bezirkshauptmannschaft in Trembowla betrugen die Löhne im Jahre 1896 8, 10 — 12, höchstens 15 — 20 Kreuzer täglich. Nach der Denkschrift eines Priesters in der Budweiser Diözese aus dem Jahre 1906 zahlen Grundbesitzer einer Frau im Winter 25 Kreuzer, einem Mann 35 Kreuzer; im Sommer der Frau 35 Kreuzer, dem Mann 50 höchstens 60 Kr. ohne Verpflegung oder Lieferung von Naturalien. Nun sind die Löhne inzwischen wohl infolge der starken Auswanderung gestiegen, aber, da die Arbeiter nur sehr kurze Zeit im Jahre beschäftigt werden, steht der Jahreslohn auch jetzt noch weit hinter dem in anderen Ländern verdienten zurück. Das erklärt auch Professor Dr. Pilat:

„Sie Arbeiter haben in Deutschland die Gewissheit, vom Frühjahr bis zum Spätherbst ohne Unterbrechung ständigen Verdienst zu haben, wogegen sie bei uns (Österreich) nur auf den größeren Gütern ständig, auf anderen aber bloß zeitweilig oder auf unbestimmte Zeit und zumeist nur in dem Zeiträumen Beschäftigung finden, in welchem die Feldarbeiten drängen. Vor und nach dieser Zeit ist die Aussicht auf Erlangung von Arbeiten nur mini mal“.

*) Geburtenziffern der Jahre 1905/06 pro mille der Bevölkerung: Russland 47,9, Österreich 33,5, Deutschland 33, England 27,1, Frankreich 20,5.

Die Parzellenbesitzer werden allmählich gezwungen ihren Besitz zu verkaufen, da sie keine Möglichkeit haben, ihn zu vermehren, und auch keinen Nebenerwerb haben und der Latifundienbesitz dehnt sich auf diese Weise immer noch weiter aus. So waren in den Jahren 1901 — 1906 in Österreich von 65.603 Liegenschaften, die öffentlich versteigert wurden, 43.530 kleiner Besitz. Nun können natürlich diese mittellosen Menschen meistens nicht gleich über See auswandern, um sich eine neue Heimat zu gründen, sondern zunächst ziehen sie als Lohn- oder Saisonalarbeiter aus. Wir haben gesehen, in welchem Maß dass der Fall ist. Durch diese Wanderungen aber werden auch ihre Lebensbedürfnisse größer, der Drang einen möglichst auskömmlichen Lebensunterhalt zu gewinnen, immer stärker, und das treibt dann umso mehr zur Auswanderung über See, Das zeigt uns auch die Statistik. In den 60er Jahren fing die Wanderung an, in den 80er Jahren ist nach Annahme Buzeks bereits mehr als die Hälfte der durch die Auswanderung verursachten Menschenverluste auf die überseeische Auswanderung zurückzuführen, in den 90er Jahren ungefähr dreiviertel.

Dass die Wanderung das einzige Mittel ist, um zu ausreichendem Lebensunterhalt zu gelangen, erklärt auch Dr. Bujak in seinen schon oben erwähnten Untersuchungen. Er sagt: „Der bodenständige Bauer stirbt ohne sein Vermögen gemehrt zu haben, während der wandernde für seine alten Tage besser aufgehoben ist und außerdem Mittel zur Ausstattung seiner Kinder besitzt“.

Ein großes Kontingent zur Gesamtauswanderung aus Russland und Österreich stellt die jüdische Bevölkerung, Die Gründe der Auswanderung der Juden aus Russland sind wohl nicht schwer zu finden. Man braucht nur an die Gräueltaten der letzten Jahre zu denken, an die vielen Tausenden, die in den Pogromen ihr Leben lassen mussten, um ihre Landflucht mehr als erklärlich zu finden. Aber nicht das allein zwingt sie zur Auswanderung, dass sie in solch unruhigen Zeiten ihr Leben aufs Spiel setzen, auch in ruhigen Tagen führen sie ein freien Menschen unwürdiges Leben. Rechtlich sind die Juden in ihrer wirtschaftlichen Expansion völlig eingeengt. Sie dürfen in Russland nur in bestimmten Teilen des Landes wohnen, und diese Freistätten werden immer kleiner, immer enger werden sie zusammengedrängt. Auch die meisten Berufe sind ihnen verschlossen, Grund und Boden dürfen sie nicht erwerben. Außerdem sind die Geburtenüberschüsse der jüdischen Bevölkerung fast doppelt so groß wie die der christlichen. Ist nun auch die rechtliche Lage der Juden Österreichs (hier kommt als Auswanderungsland hauptsächlich Galizien in Betracht) wesentlich besser, wirtschaftlich wird sie bei den auch hier so starken Geburtenüberschüssen und außerdem durch die starke Einwanderung russischer Juden fast auf denselben Tiefstand gebracht. Die Juden ernähren sich fast ausschließlich vom Kleinhandel und Kleingewerbe, da sie im Durchschnitt hierin der christlichen Bevölkerung überlegen sind, und ihnen auch eine andere Arbeitsmöglichkeit kaum gegeben ist. Durch intensive organisatorische Arbeit brachte die polnische Landbevölkerung hauptsächlich in Galizien einen bedeutenden Teil des Detailhandels und Kleingewerbes an sich, und es entstand dadurch eine noch größere Übervölkerung in diesen Gewerben, als sie vorher war.

Auch die kräftigen deutschen Kolonisten Südrusslands wandern mehr und mehr ab. Der Grund dafür ist auch hier die kleinliche, rücksichtslose Einengung in bestimmte Gebiete. Die Kolonisten dürfen weiteres Land, als das, das ihre Vorfahren bei ihrer Einwanderung in Russland erhielten, aus russisch-slawischem Besitz nicht erwerben, trotzdem sie sich seit ihrer Einwanderung vor 200 Jahren bedeutend vermehrt haben. In neuester Zeit werden sie auch zum Militärdienst, von dem sie bisher befreit waren, herangezogen. Auch das drängt sie aus ihrer sonst so unfreundlichen Heimat.

Das sind wohl in kurzer Übersicht die Hauptgründe der Auswanderung aus Österreich und Russland. Daneben wirken natürlich in einzelnen Gebieten und in einzelnen Jahren noch besondere Gründe mit. Doch diesen Einzelfällen können wir hier nicht weiter nachgehen. Ob und in welcher Weise bei der Auswanderung Agenten und Reklame mitwirken, ob sie den Auswandererstrom künstlich im Übermaß vergrößern, das wollen wir später untersuchen. Auf die Fülle von Ursachen, die zur Auswanderung treiben, hat auch schon Sa dl er in seinen Untersuchungen über das Bevölkerungsgesetz hingewiesen: „Es ist kaum möglich irgend eine Ursache zu denken, welche die Handlungen menschlicher Wesen beeinflusst, die nicht auch zugleich auf die Auswanderung der Menschen Einfluss genommen hätte“.
Aus dem russischen Volksleben

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Heiratsmarkt im Petersburger Sommergarten

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In Moskau kam es zu großen Studentenunruhen

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Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

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Ganz privat - Teestunde am Samowar

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Bauernhochzeit

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Ein Sommertag auf dem Lande

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Bäuerinnen warten auf den Briefträger

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Im Innern einer Bauernwohnung

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Heuernte in Volhynia

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