Die Artuslegende

Eine Legende aus dem Mittelalter
Autor: Ueberlieferung
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König Artus hatte einen schweren Krieg mit den Pikten und Schotten bestehen müssen und hatte nun die Ritter seiner Tafelrunde zur Siegesfeier um sich versammelt. Jener riesige Tisch gab einhundertundfünfzig Gästen Platz; durch geheimnisvollen Zauber paßte er sich in seiner Größe immer genau ihrer Zahl an. Aber darüber hinaus hatte Artus viele hundert Gäste geladen. Sie kamen alle, die Könige und Fürsten, die Grafen und Ritter, die Damen und Edelfräulein, in Scharen herbei, aus Britannien und aus Irland, aus Holland und aus Deutschland. Reichbesetzte Tafeln erwarteten die Erschienenen, und in bunten Reihen ließen sie sich zum fröhlichen Festmahle nieder, um sich an Speise und Trank und an heiterer Kurzweil zu erfreuen.

Da geschah plötzlich etwas ganz Seltsames, das ihre Festesfreude in Bestürzung und Unwillen kehren sollte. Ein Bote betrat nämlich den Festsaal, ein hochgewachsener, stattlicher Jüngling im schmucken seidenen Gewand. In seiner Hand hielt er ein Trinkhorn, das an einer Schnur an seinem Halse hing. Keiner der Gäste hatte bisher solch ein kostbares Stück gesehen: Es war ungewöhnlich groß und aus Elfenbein, mit vier goldenen Bändern umwunden und mit reichem Schmuck verziert; den oberen Rand umschloß ein silberner Ring, an dem erklangen wunderbar süß bei jeder Bewegung hundert winzige Glöckchen aus purem Golde, wohl schöner als Harfenton und Mädchengesang.

Der Bote hob das wunderbare Horn – eine kunstfertige Fee hatte es einst zu Lebzeiten des frommen Kaisers Konstantin gefertigt und ihm Zauberkräfte verliehen – in die Höhe und ließ die Glöckchen schwingen, daß sie wohl eine Wegstunde weit vernehmbar waren. Urplötzlich war lautlose Stille im Festsaal: Die Gäste vergaßen Speise und Trank und fröhliche Unterhaltung, die Knappen, die den Fisch auftrugen, standen wie gebannt, und die Mundschenken erstarrten auf ihren Plätzen und vergaßen, den köstlichen Wein zu kredenzen; Herr Keu, der Seneschall, ließ die Schüssel, die er in der Hand hielt, zu Boden gleiten, und der Brotschneider gab nicht acht auf sein Tun, so daß ihm das spitze Messer in die Hand fuhr; auch dem König Artus selber erstarb das Wort auf den Lippen.

Eine drückende Stille lag über dem Festsaal.

Freimütig trat der Fremde vor den König und grüßte ihn mit höfischer Ehrerbietung. „Der Herr des Himmels segne Euch, König Artus, und erhalte Euch mitsamt den edlen Rittern, die ich hier um Euch versammelt sehe!“

König Artus erwiderte den Gruß sehr freundlich.

„Geruhet mich anzuhören“, fuhr der Sendbote fort: „Euch, sendet Herr Mangon, der edle König von Moraine, dieses kostbare Trinkhorn. Er läßt Euch bitten, ihm dafür weder Dank zu zollen noch ihm böse zu sein.“

König Artus gestand ihm seine Bitte zu, nahm das kostbare Geschenk entgegen und lud den Boten zum Mahle. „Als Zeichen meines Dankes werde ich Euch zum Ritter schlagen“, sagte er, „und Euch morgen reichlich mit Gold entlohnen.“

„Einem Knappen würde es unziemlich anstehen, an der Rittertafel zu sitzen“, versetzte der Bote mit bescheidenem Anstand. „Lasset mich in meine Herberge gehen, mich auszuruhen; in festlichem Gewande, so wie es der Würde des heutigen Tages entspricht, werde ich sodann zu Euch zurückkehren und Euren königlichen Lohn entgegennehmen.“

Damit schied der Bote – doch er begab sich nicht in die Herberge, sondern verließ in aller Eile heimlich die Stadt Carlion.

In tiefem Sinnen hielt König Artus das kostbare Trinkhorn in der Hand. Er zeigte es den Gästen, Herrn Gauvain, Herrn Giflet und Herrn Yvain und den Baronen und Rittern ringsum an der Tafel.

Dabei bemerkte der König, daß die goldenen Bänder, die das Horn umschlossen, Schriftzeichen trugen. „Eilet zum Schloßkaplan“, gebot er sogleich einem seiner Kammerherren, „und lasset ihn ergründen, was diese silbernen Zeichen bedeuten!“

Diensteifrig ging der schriftkundige Mann an die Entzifferung. Alsbald trat er vor König Artus. „Gewähret mir Gehör“, sagte er mit höfischer Verneigung und konnte sich dabei doch eines Lächelns nicht erwehren. „Was ich hier soeben gelesen habe, will ich Euch leise ins Ohr sagen, denn mir erscheint nicht ratsam, es dieser ehrenwerten Festversammlung vorzutragen. Etwas so Seltsam–Wunderbares hat bis heute noch kein Mensch vernommen.“

König Artus winkte unwillig ab. „Ich wünsche“, sagte er, „daß Ihr die Inschrift des Trinkhorns vernehmbar meiner gesamten Ritterschaft vorleset; auch die Damen und Edelfräulein sollen davon Kenntnis haben!“

Voller Spannung wartete nun jeder der Gäste auf die Neuigkeit; sie ahnten nicht, daß sich für viele von ihnen sehr bald die Freude in Betrübnis und in Zorn verwandeln sollte.

„Lasset mich Euch noch einmal warnen“, begann der kluge Kaplan wohlmeinend von neuem, aber als König Artus wiederum ungehalten abwinkte, fuhr er fort: „Wolltet Ihr meinen Worten Glauben schenken, so würdet Ihr nicht darauf bestehen, die Inschrift kennenzulernen. Ist es aber Euer Wille, alles zu erfahren, so höret, was König Mangon, der König von Moraine, Euch entbietet:

Dieses Trinkhorn hat eine Fee in rachsüchtigem Spott geschaffen. Auch der wackerste, klügste Mann, so sagt sie, wird nicht imstande sein, daraus zu trinken, wenn er in seiner Ehe eifersüchtig ist oder es mit der ehelichen Treue nicht ernst nimmt. Jeder Trunk aus dem Horn wird ihm unmöglich sein, denn er wird den Wein trotz aller Vorsicht verschütten und sein Gewand damit beflecken. Wer aus diesem Horn trinken will, muß eine Frau haben, die nicht Untreue noch Gewinnsucht oder Hoffart kennt und keinen Mann als ihren eigenen liebt. Nur wer eine solche Frau besitzt, wird ruhig den Wein aus dem Horn trinken können.“

So lautete die Inschrift. Etwas zweifelnd blickte der Kaplan, der sie verlesen hatte, in die Runde. „Wenn diese Zeilen die volle Wahrheit sprechen“, schloß dann der gelehrte Mann, „so glaube ich nicht, daß es hier bei uns und weit im Umkreise einen einzigen verheirateten Ritter gibt, dem das Trinkhorn auch nur einen kleinen Schluck gewähren wird...“

Für manche Edeldame, die voller Vorfreude an den Königshof gekommen war, verdüsterte sich urplötzlich der strahlende Tag. Kaum eine Ehefrau – mochte sie ihrem Manne noch so treu sein – war unter den Gästen, die jetzt nicht den Kopf hängen ließ. Selbst die Königin saß mit niedergeschlagenem Blick da. Und die verheirateten Herren am Hofe? Auch sie verrieten ihre Unruhe, denn wer wollte sich der Gefühle und der Herzensempfindung seiner Ehefrau so völlig sicher sein?

Mit Scherz und beißendem Spott dagegen steckten die Edelfräulein flüsternd die Köpfe zusammen und blickten in die Runde; „heute wird es sich erweisen, wer an Eifersucht leidet und wer auf die Treue seines Ehegemahls nicht bauen darf“ dachten sie voller Schadenfreude.

Selbst König Artus war voller Unruhe und Ärger, doch er suchte es zu verbergen und trug heitere Miene zur Schau. „FüII das prächtige Horn bis zum Rande!“ befahl er dem Seneschall Keu. „Ich will selber als erster die Probe machen.“

Herr Keu tat nach seinem Geheiß. Alle blickten auf König Artus, als er das dargereichte Trinkhorn zum Munde führte. Aber o weh! Aus dem guten Schluck, auf den er gehofft hatte, wurde nichts, denn er verschüttete den Wein; an seinem kostbaren Gewande troff er bis zum Boden hinab.

Da packte den König grimmiger Zorn. Er ergriff ein Messer, und hätten die Ritter in seiner Nähe ihn nicht gehindert, so wäre es wohl um die Königin geschehen gewesen.

„König Artus“ sagte Herr Yvain in heftigem Tadel, „so mäßigt Euch doch in Eurem Zorn! Glaubt Ihr, es gäbe irgendeine verheiratete Frau auf der weiten Welt, die nicht irgendeinmal einem törichten Gedanken nachgegeben hätte? Eure Probe mußte mißlingen. Lasset alle verheirateten Herren hier im Saale den gleichen Versuch machen! Erst wenn er anderen Erfolg zeigt, habt Ihr ein Recht, unsere holdselige Frau Königin zu tadeln. Wir alle wissen, daß Ihr ein hochgesinnter Herr und König seid und daß unsere königliche Herrin ein Vorbild der Redlichkeit und Treue ist. Wohl niemand hat bisher vernommen, daß sie etwas Unrechtes begangen hätte.“

Voller Unwillen blickte jetzt auch die Königin auf ihren Gemahl. „Herr Yvain“, wandte sie sich an den Recken, der so ritterlich für sie eingetreten war, „mein Gewissen ist rein. Mag mein Herr und Gemahl ein Gottesurteil herbeiführen und mich auf einen Scheiterhaufen aus Dornenholz werfen! Wird mir dabei auch nur ein Haar auf meinem Kopfe oder der Saum meines Kleides versengt, so darf er mich von wilden Pferden zu Tode schleifen lassen! Niemals habe ich einen andern Mann als ihn, meinen mir ehelich angetrauten Gemahl, geliebt, und auch künftig werde ich nicht anders handeln. Zugegeben sei, und darin zeigt das Horn die Wahrheit an, daß ich im vergangenen Jahre einem jungen Edelknappen einen Ring schenkte, weil er einen bösen Riesen, der Herrn Gauvain verleumdet hatte, im Kampfe niederwarf. Bei seinem Abschied erzeigte ich ihm diese Huld, denn ich hoffte, ihn für König Artus' Tafelrunde zu gewinnen. Wer aber will mir vorwerfen, ich hätte in meinem Leben je gegen die gute Sitte verstoßen? Niemals würde ich einem andern Manne, und sei er der reichste oder mächtigste Herrscher auf Erden, mein Herz schenken. Nein, wer uns dieses Trinkhorn überreichen ließ, hat sicherlich nie eine edle Frau geliebt. Mir aber hat er schmähliches Unrecht angetan; nie wieder werde ich heiter und froh sein, bis mir Genugtuung geworden ist.“

„Lasset solche Rede!“ rief König Artus. „Keinem meiner Gäste bin ich fürderhin zugetan, der einen Rachefeldzug unternimmt gegen den, der uns das zauberkundige Trinkhorn sandte. Habe ich dem Boten nicht vor allen Rittern mein Königswort verpfändet, ich würde ihm keinen Dank für sein Geschenk wissen, ihm aber auch niemals grollen? Unrecht und ehrlos wäre es also, mein Wort zu brechen. Ein König, der nicht zu seinem Versprechen steht, verdient kein Lob mehr.“

Die Königin drängte ihren Gemahl, von seinem Vorhaben abzulassen. „Mein Herr Gemahl“, beschwor sie ihn, „seit ich mit Euch verlobt bin, führe ich ein glückliches Leben; den besten von den drei mächtigsten Königen dieser Erde habe ich zum Gatten. Wie sollte ich da wohl auf einen anderen mein Verlangen richten? Ihr tut großes Unrecht, mir zu zürnen. Aber in gleicher Weise solltet Ihr auch davon absehen, von irgendeinem hochgesinnten Ritter Eurer Tafelrunde eine solche Probe zu verlangen, denn damit gefährdet Ihr die Ehre seiner Frau!“

Doch König Artus wollte diese wohlmeinenden Worte nicht gelten lassen. Er verlangte vielmehr, daß alle seine Gäste aus dem Horn trinken sollten, damit er nicht als einziger beschämt dastehe.

Der König von Sinadone war der erste, dem er das Horn reichen ließ. Aber schon als dieser es zum Munde führte, verschüttete er den Wein. Nicht besser erging es dem König Nut Aguisset. Der König von Schottland wollte die Weinprobe mit Gewalt erzwingen, doch bei ihm stellte sich der gleiche Mißerfolg ein; voller Ärger setzte er das Horn ab. Vergebens hofften auch der König von Cornwall und vier andere Könige auf ihr Glück; auch dem König Caraton floß der Wein den Bart hinab und auf sein Gewand. Zwei irische Könige, dazu dreißig Grafen mußten sich desgleichen von der Tischrunde verhöhnen lassen, weil sie das Horn nicht an die Lippen brachten, ohne ihr Gewand zu beflecken. Aber keiner dieser vielen adligen Herren, der über den Mißerfolg anderer gelacht hatte, konnte selber auch nur einen Schluck unbeschadet zu sich nehmen.

Mit zornigen Verwünschungen setzte einer nach dem andern das zauberkräftige Horn ab.

Nicht ohne Freude sah König Artus das Mißgeschick seiner Gäste.

„Jetzt brauche ich nicht länger allein den Spott zu tragen, ihr Herren“, sagte er lächelnd. „Der Übersender dieses Trinkhorns hat mir fürwahr ein großes Geschenk gemacht. Für alles Gold in der Welt wollte ich es nicht wieder aus der Hand geben. Jeder Ehemann soll künftig die Probe mit dem Horn machen.“

Artus warf einen Blick auf die Königin, die vor Erregung über diesen wundersamen Zauber ganz rot geworden war; dabei erblühte sie lieblicher als eine Rose. Dem König erschien sie so schön, daß er sie an sich zog und sie vor allen Rittern dreimal küßte. „Ich zürne Euch nicht mehr“, sagte er liebevoll.

„Ihr seid mein gnädiger Herr und Gemahl“, antwortete sie ergeben.

Der Reihe nach erprobten alle Gäste dieses höchst wundersame Trinkhorn. Keiner von ihnen war in der Lage, es bis auf den Grund zu leeren.

Es war da auch Ritter Caradoc, ein liebenswerter, feingebildeter Herr, waffentüchtiger als alle, es sei denn Herr Gauvain, mit seiner Frau; in ihrer Jugendschönheit, dem langwallenden Blondhaar und dem reizenden Gewand glich sie einer Fee. Mit blanken, fröhlichen Augen ergriff Caradoc das Trinkhorn und blickte seine Gattin an; sie erwiderte seinen Blick und sagte ohne alle Verlegenheit:

„Lieber Freund, Ihr braucht keine Bedenken zu haben, aus dem Horn zu trinken, nein, mir zur Ehre sollt Ihr den Versuch wagen. Ihr wißt, daß ich Euch gegen keinen Herrn, und wäre er noch so hochgeboren, eintauschen würde und daß ich nie auch nur einen einzigen Gedanken gehegt habe, der mich von Euch entfernte!“

Da hob der junge Ritter das Trinkhorn, das man mit edlem Wein bis an den Rand gefüllt hatte, und – leerte es bis auf den Grund!

Voller Staunen sprangen die Gäste von ihren Sitzen auf. Caradoc aber schritt fröhlich auf den König zu und zeigte ihm das geleerte Horn; nicht einen Tropfen hatte er verschüttet!

„Ihr seid ein wackerer Ritter!“ rief König Artus froh bewegt aus. „Wirklich, vor mehr als hundert Augenzeugen habt Ihr die Probe bestanden. So höret: Vor zwei Jahren habe ich Euch Cirencestre als Lehen gegeben. Jetzt übertrage ich es Euch und Euren Nachkommen für alle Zeit. Und weil Ihr eine so treffliche Ehegattin habt, so überlasse ich Euch das kostbare Trinkhorn, das an die hundert Pfund Gold wert ist, als Lohn für Eure schöne Tat zu dauerndem Besitz! Möge es Euch Glück bringen Euer Leben lang!“

Ritter Caradoc dankte dem König für diese Beweise seiner gnädigen Gesinnung und nahm wieder neben seiner schönen Gemahlin an der Tafel Platz.

Als dann bald darauf das festliche Gastmahl zu Ende ging, nahmen alle Abschied voneinander und zogen in die Heimat zurück. Wer aber später in Cirencestre einkehrte, konnte dort auf dem Ehrenplatz an der Wand das zauberkräftige Trinkhorn bewundern. Herr Caradoc und seine Nachkommen hielten das kostbare Wertstück in hohen Ehren.