Wachstum des russischen Kapitalismus

Bevor die russische Industrie die Form der kapitalistischen Produktion, die wir jetzt bereits vorfinden, angenommen, hat sie dieselbe Entwicklung durchgemacht wie die der übrigen Industriestaaten. Wenn wir den Entwicklungsgang der russischen Industrie mit dem der westeuropäischen vergleichen, so sehen wir neben mancher Verschiedenheit eine durchgängige Analogie. Die Verschiedenheit besteht darin, dass die russische Industrie infolge der späteren Entwicklung zum Kapitalismus noch nicht in allen ihren Produktionsbranchen die Form der Fabrikproduktion angenommen hat, und dass zugleich mit wirklichen Fabriken auch Übergangsformen wie Fabriksbureaus vorkommen, die sich nicht mit der Produktion selbst befassen, sondern die Arbeit den in den Dörfern wohnenden Arbeitern vermitteln, wie es einst in Manchester in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts üblich war, ferner auch die völlig primitiven Produktionsformen wie die Hausindustrie, die jedoch rasch abwärts und in der Fabriksproduktion aufwärtsgeht, wo der Arbeiter, wie Marx sagt, jede Selbständigkeit, jeden Zusammenhang mit der produzierten Ware verliert und aus dem Eigentümer derselben ein untergeordnetes, einer außerhalb seiner Kontrolle stehenden Organisation zugehörendes Atom wird, ein Lohnarbeiter, der seine Arbeit verkauft. Nach der Ansicht des kompetentesten Kenners des ökonomischen Lebens Russlands, Prof. G. v. Schulze-Gaevernitz, besteht noch ein weiterer Unterschied zwischen der russischen und der westeuropäischen Industrie. Im Westen haben sich die großen industriellen Unternehmungen allmählich aus den kleinen und mittleren entwickelt. In Russland aber ist die Großindustrie zum größten Teil mit einem Schlag „von Gnaden der Großkapitalisten“ entstanden. Somit hat die Entwicklung der russischen Industrie bereits nach einer beträchtlichen Konzentration des Kapitals begonnen. Wenn wir sogar die größte Baumwollspinnerei der Welt, nämlich die Kränholmer in Narwa außer Acht lassen, so ist immerhin die Durchschnittszahl der Spindeln in Moskau und Wladimir größer als in England und Deutschland. In Russland bemerkt man auch zugleich kein so rasches Wachsen der Großindustrie wie in Westeuropa. Die Entwicklung der kapitalistischen Industrie in Russland zog nicht in gleichem Maße die Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit nach sich, noch war sie von den großen Erscheinungen auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens begleitet, welche die westeuropäischen Volkswirtschaftler veranlaß ten, das Ende des XVIII. Jahrhunderts die Epoche der Umwälzung der Industrie zu nennen. Als die Grundursache des Zurückbleibens Russlands hinter dem Westen betrachten Dementjew und SchulzeGaevernitz die Leibeigenschaft. Ihr zufolge hat die Periode der Hausproduktion in der russischen Industrie unverhältnismäßig lange gedauert. Erst seit dem Jahre 1861 kam diese in die Lage, die Produktionsform sich anzueignen, welche die westeuropäische Industrie bereits vor anderthalb Jahrhunderten angenommen hat. Die Befreiung der Bauern hat die Geldwirtschaft ins Leben gerufen, die eine unumgängliche Bedingung für die Entwicklung jeder Industrie ist. Erst von diesem Jahre an datiert der rasche Verfall der Hausindustrie und die Verwandlung derselben in den Fabriksbetrieb. Die Befreiung der Bauern machte ungeheure Kapitalien aus den Ablösungsgeldern flüssig, die sofort in der Industrie und im Handel des Landes Verwendung fanden. Aber die Ablösung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit hatte bereits früher begonnen. Sie ging sehr langsam und unmerklich vor sich; die Leibeigenenarbeit in den Gutsherren- und Possessionsfabriken*), die nicht den Gutsherren gehörten, war zu billig, als dass sie die ersten Fabrikanten, ob sie Kaufleute oder Adelige waren, zu bewegen vermocht hätte, ihr die Maschinenarbeit, die mit größeren Geldkosten verbunden war, vorzuziehen. Nichtsdestoweniger hat der Prozeß der Ablösung der Handarbeit durch die Maschinenindustrie schon im ersten Viertel des XIX. Jahrhunderts begonnen; in der Periode der rascheren Entwicklung der kapitalistischen Produktion, die seit dem Jahre 1861 die billigen Arbeitskräfte der früheren Leibeigenen ausbeuten konnte, hat er ein noch viel rascheres Tempo angeschlagen.

*) Unter Possessionsfabriken verstand man solche Fabriken, die von der Regierung subsidiert wurden oder von ihr die Erlaubnis bekamen, Bauern zu kaufen, wenn auch die Fabrikbesitzer ihrem Stande nach dazu nicht berechtigt waren.


Als die russische Industrie die der westeuropäischen ähnliche ökonomische Entwicklungsbahn betreten hatte, musste sie auch dieselben Formen annehmen, welche die des Westens hatte, und hat dies auch tatsächlich getan. Der Stützpunkt, den die Volksmassen im Boden finden, der von manchen russischen Ökonomisten als Argument gegen die Möglichkeit der Bildung einer besonderen Arbeiter- oder Proletarierklasse in Russland, die immer die Begleiterscheinung des Kapitalismus ist, angeführt wurde, ist noch jetzt ein Hemmnisfaktor, wenn auch nicht in so hohem Grade, als man gewöhnlich annimmt. Die häufige Unzulänglichkeit der Bodenparzelle und der Verfall der Landwirtschaft einerseits, die gesteigerte Begünstigung der Industrie seitens der Regierung andrerseits, schmälern die Bedeutung des Bodeneigentums für die Arbeiter in hohem Maße. Die Folge dieser Sachlage ist die Bildung einer eigenen Klasse von Fabrikarbeitern, die wie zuvor als „Bauern“ gelten, die aber mit den eigentlichen Ackerbauern nichts zu tun und nur einen verschwindend geringen Zusammenhang mit dem Dorfe haben, dem sie seit Generationen den Rücken gekehrt und wo sie auch bloß juridische, in der Tat aber absolut unrealisierbare Eigentumsrechte besitzen.

Diese Entwicklung ist vor sich gegangen, ohne dass sie ausschließlich vom Protektionismus bedingt war. Schulze-Gaevernitz behauptet sogar, die jetzige industrielle Entwicklung Russlands wäre überhaupt undenkbar ohne die relative Handelsfreiheit in den 60er und 70er Jahren. Es wäre sonst unmöglich gewesen, in einer verhältnismäßig kurzen Zeit die unübersehbare Oberfläche des russischen Reiches mit einem Netz von Eisenbahnen zu bedecken, die sowohl die Zufuhr von Rohstoff als auch die Organisation des Absatzes erleichtert haben und somit die Grundbedingung des Bestandes der Industrie in Russland geworden sind. Der Ausgangspunkt der bezeichneten Entwicklung war die Entstehung eines ländlichen Proletariats, weil die Leibeigenen nach ihrer Befreiung keinen Bodenanteil bekommen haben, und die zahlungsunfähigen, abgabepflichtigen Bauern von der Dorfgemeinde gezwungen wurden, ihre Grundstücke an die vermögenderen Dorfgenossen abzutreten. Dazu kamen noch die Bodenumteilungen, die die Grundstücke der Gemeindebauern so parzellierten, dass diese vom Ertrage des Bodens absolut nicht leben konnten. Außerdem hat das russische Dorf, wie M. Kowalewski sagt, trotz der relativ spärlichen Bevölkerung einen Überschuß an Arbeitskräften, die auswandern müssen. Nach den amtlichen Berechnungen für das Jahr 1894, die in einem nördlich von Moskau gelegenen Rayon gemacht wurden, ist ein Ackerbauer imstande, 4 ½ Dessjatin jährlich zu bebauen. In der Mittelzone, wo die Sichel durch die Sense ersetzt ist, kann ein Arbeiter 6 Dessjatin, in den südlichen Provinzen aber, wo die Erntezeit länger anhält, kann er ungefähr 8 Dessjatin bebauen. Auf Grund dieser Daten sind die russischen Statistiker, besonders die von den Semstwos, die als die besten russischen Statistiker gelten, zum Schluß gelangt, dass die Zahl der Arbeiter, die für den Ackerbau in den 50 Gouvernements des europäischen Russlands erforderlich sind, nicht größer als 13.481.864 sein dürfe, da wir aber mit 15 ½ Millionen rechnen, so haben wir einen Überschuß von 2.074.756 Arbeitern. Die größte Zahl der unbeschäftigten Hände befindet sich in der dichter bevölkerten industriellen Zone, wo sie ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dann folgen die Schwarzerde-Gouvernements und besonders die drei östlichen — das Kasaner, Nischni-Nowgoroder und Simbirsker. Die statistischen Forschungen ergeben, dass die Zahl der Personen, die keine Beschäftigung bei der Feldarbeit finden, 15% der Gesamtbevölkerung des Gouvernements Nischni-Nowgorod, 14 ½% des Kasaner und 20 ½% des Simbirsker ausmacht. In den sieben Gouvernements, die den nördlichen Teil der Schwarzerdezone bilden, also in den Gouvernements Pensa, Orel, Tambow, Tschernigow, Rjasan, Tula und Kursk, beträgt der Überschuß der Agrikulturbevölkerung mehr als eine halbe Million, d. h. 20% der Gesamtbevölkerung. Die Zahl derjenigen, die keinen Feldbesitz haben, schwankt zwischen 3,7 und 5 — 6%. In Ukraine bildet die Zahl der unbeschäftigten Arbeitskräfte in den Gouvernements Charkow, Woronesch, Poltawa 24% der Gesamtbevölkerung, in den drei kleinrussischen Gouvernements (Kiew, Podolien und Wolynien) werden sie auf 386.000 geschätzt. Gegenwärtig finden wir die größte Anzahl von Arbeitslosen, die auswärts ihren Erwerb suchen müssen, gerade in der fruchtbarsten Zone, in der sogenannten Kornkammer Russlands. Ihre Zahl beträgt 1% Millionen, d. h. ¾ aller arbeitslosen Ackerbauern. Darunter sind auch Bauern, die 1 Dessjatin pro Kopf besitzen. Noch im Jahre 1878 zählten sie in der Schwarzerdezone, außer den Steppen Neu-Russlands (Bessarabien), gegen eine halbe Million, d. h. 2/3 der Bauernbevölkerung. In demselben Rayon finden wir viele Bauern, die gar keinen Grundbesitz haben. Im Gouvernement Kursk gibt es deren 37.000, in Poltawa über 20.000 usw. Somit gibt es im europäischen Russland mehr Proletarier, als seine Fabriken verwenden können. In der Tat hat es laut den amtlichen Daten von 1892 in Russland kaum 1.132.000 Fabrikund sonstige Industriearbeiter gegeben. Und zwar verteilte sich diese Million folgendermaßen: 1. auf Polen 150.000; 2. auf die russischen Fabriken und Betriebe, die eine Jahresproduktion von mehr als tausend Rubel haben: 519.686 Arbeiter, 177.092 Arbeiterinnen und 22.761 Minderjährige, die noch nicht 16 Jahre alt waren; 3. auf die Fabriken mit geringerer Produktion — 95,673 Arbeiter beiderlei Geschlechts; 4. auf industrielle Unternehmungen, deren Produkte mit einer Accise belegt sind, wie Spiritus, Tabak, Bier — 148.860, und 5. in den Bergwerken 131.592 Arbeiter. Also — sagt M. Kowalewski — beschäftigt die Industrie bislang bloß die Hälfte der Arbeiter, die keinen Ackerbau treiben. Auch W. Iljin bezeugt es, dass es eine große Zahl von solchen Arbeitern gibt, indem er bestätigt, dass es in Russland und zwar bloß in den „inneren“ fünfzig Gouvernements, noch in den 90er Jahren des verflossenen Jahrhunderts nicht weniger als 3 ½ Millionen Lohnarbeiter und Taglöhner gegeben hat. Außer den besitzlosen Bauern, die weder Haus noch Feld haben, gab es noch vor 10 Jahren in den genannten Gouvernements von 10 Millionen Bauernwirtschaften über 3 Millionen, die keine Pferde hatten. Somit sind diese Bauern nur nominell Ackerbauer. In der letzten Zeit ist die von uns angegebene Arbeiterzahl natürlich gewachsen. Nach den Berechnungen M. Tugan-Baranowskis vom Jahre 1897 bildeten die Arbeiter in den russischen Großindustrien, darunter auch die Eisenbahner, gegen 8 % der erwachsenen männlichen Bevölkerung, die Kleinproduzenten, d. h. die Hausarbeiter und die städtischen Handwerker aber 12% (3 Millionen) der Einwohnerschaft. Derselbe Forscher hat auf Grund von Zahlenangaben, die in den Handelsdokumenten enthalten sind, festgestellt, dass der Handel nicht weniger als 1 Million erwachsener Männer, d. h. gegen 4% der der erwachsenen männlichen Bevölkerung des Landes beschäftigt. Vom Jahre 1882 bis 1895 ist bei uns die Steinkohlenproduktion von 891.000 Waggons auf 3.348.000 gestiegen, wobei in den großen Steinkohlengruben, die jährlich 5000 oder noch mehr Waggons exportieren, die Ausbeute von 388.000 Tonnen auf 2.641.000 gestiegen ist, d. h. sich etwa um das Siebenfache vergrößert hat. In den Kohlenwerken jedoch, die 1.000 — 5.000 Waggons exportieren, ist sie nicht gestiegen. Die Zahl der Baumwollspinnereien, die über 50 Arbeiter beschäftigen, stieg in den 50 Gouvernements Russlands in der Zeit vom Jahre 1866 bis 1894 von 168 auf 224, d. h. sie vermehrte sich um 25%. Die Zahl der dort beschäftigten Arbeiter wuchs von 82.004 (1866) bis auf 234.506 (1894), was einen Zuwachs von etwa 300% bedeutet. Im Jahre 1866 gab es keine einzige Baumwollspinnerei, die 5000 Arbeiter oder noch darüber beschäftigt hätte, im Jahre 1879 gab es eine einzige derartige Fabrik, 1894 deren 8 mit zusammen 54.981 Arbeitern. Die Anzahl der Arbeiter in den großen Baumwollspinnereien hat sich im Laufe von 15 Jahren (1879 — 1894) um mehr als das Sechsfache vergrößert. Nach den Angaben Dementjews, die wir im Sammelwerk „Russland am Ausgange des XIX. Jahrhunderts“ finden, betrug die Gesamtzahl der Arbeiter in den Fabriken, Bergwerken und sonstigen Industrien (zusammen 39.029) des russischen Reiches, außer Finnland, 2.100.000. Die größte Zahl der Arbeitshände wird von den zwei großen Industriezweigen — der Textilund Montanindustrie — in Anspruch genommen, und zwar beschäftigt die erstere 643.000, die zweite 548.000 Arbeiter. Eine große Anzahl von Arbeitern beschäftigt auch die Produktion der Nahrungsmittel (255.000), dann die Metallbearbeitung (214.000) und die Keramik (143.000). In der Textilindustrie nimmt den ersten Platz die Bearbeitung der Baumwolle ein, die 316.000 Arbeitern Arbeit verschafft, dann folgen die Bearbeitung der Wolle mit 137.000 Arbeitern, die Flachsspinnerei mit 52.000 und die Seidenproduktion mit 38.000 Arbeitern. In der Nahrungsproduktionindustrie steht an erster Stelle die Zuckerproduktion, die in 258 Fabriken 101.000 Arbeiter beschäftigt. Verhältnismäßig große Industriebranchen sind auch die Müllerei mit 48,000 und die Branntweinbrennerei mit 30.000 Arbeitern. Mehr als die Hälfte aller Arbeiter, der Gruppe der Metallbearbeitung angehörend, nämlich 120.000 Mann, arbeitet in den mechanischen und Maschinenbaufabriken. In der Gruppe der keramischen Industrie beschäftigt nach den Ziegelbrennereien, die mehr als 66.000 Menschen Arbeit verschaffen die Glashüttenbranche die größte Anzahl von Arbeitern, nämlich 37.540. Die Gesamtzahl der Arbeiter, die gegenwärtig in den Fabriken, Bergwerken, Steinkohlengruben beschäftigt sind, beträgt 3 Millionen. Außerdem gibt es noch gegen 500.000 Arbeiter und Angestellte an den russischen Eisenbahnen. Die Zahl der im Handel beschäftigten Arbeiter und Angestellten erreicht ungefähr die Höhe von 525.000, wobei auf Odessa allein gegen 33.000 Handelsangestellte kommen. Endlich gibt es 300.000 Transportarbeiter außer den Eisenbahnern, von denen im Wolgabecken allein mindestens 30.000 Beschäftigung finden. Die größte Zahl der Industriearbeiter — 302.000 — entfällt auf das Moskauer Gouvernement, wo sich nach dem Zensus von 1902 in Moskau allein 120.606 Fabrikarbeiter befanden. Dann folgen die Gouvernements: Perm, Wladimir, Petersburg, wovon die Stadt Petersburg gegen 150.000 Fabrikarbeiter, das Gouvernement Petrikau, in dem Lodz allein ungefähr 100.000 Arbeiter beschäftigt, das Gouvernement Kiew, wo es nach den Angaben des Fabrikinspektors Mikulin 196.465 Arbeiter gibt, die Gouvernements Warschau, Wjatka und dann Livland, dessen Hauptstadt Riga 40.000 Fabrikarbeiter zählt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Arbeiterfrage