Die Lebensbedingungen der russischen Fabrikarbeiter

Nachdem wir das Wachstum des russischen Kapitalismus und die Zahl der Arbeiter in Russland, die sehr beträchtlich ist und mit jedem Jahre anwächst, ins Auge gefaßt haben, wollen wir die Lebensbedingungen der russischen Fabrikarbeiter betrachten. Beginnen wir mit dem durchschnittlichen Arbeitslohne. In den 80er Jahren berechnete Dementjew den durchschnittlichen Monatslohn des Arbeiters im Moskauer Gouvernement auf 11 Rubel 89 Kopeken. Man kann sich nun leicht einen Begriff davon machen, wie die Lebensverhältnisse eines Menschen beschaffen sein müßten, der zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse nur über 40 Kopeken täglich verfügen konnte. Der Durchschnittsverdienst des englischen Arbeiters zu derselben Zeit betrug 26 Rubel 64 Kopeken, und der des amerikanischen (in Massachusets ) 56 Rubel 97 Kopeken. Die Durchschnittszahlen für die einzelnen Industrien waren folgende:

Arbeitslohn männlicher Arbeiter
Moskauer Gouv England Massachusets


Baumwollspinnereien 15,58 41,48 52,11
Kattunfabrikation 13,88 33,92 55,42
Tuchwolleproduktion 14,87 42,14 42,34
Maschinenbau 23,34 44, 50 66,48

Trotz der größeren Anzahl von Feiertagen ist in Russland die Zahl der Arbeitsstunden im Monat infolge der längeren Dauer des Arbeitstages viel größer als in den obengenannten Ländern und zwar:

im Gouvernement Moskau: 284,6 Stunden
in England: 234,7 Stunden
in Massachusets: 255,7 Stunden

Somit wurde in Russland die Arbeitsstunde mit etwas mehr als 5 Kopeken bezahlt, während sie in England mit 20 Kopeken und in Amerika mit 26 Kopeken bezahlt wurde. Zwar sind einige Rohprodukte im Auslande kostspieliger als bei uns, aber diese Preisunterschiede sind laut den Angaben Dement jews nicht allzu hoch anzuschlagen. Wenn wir nämlich das Rindund Schweinefleisch und die Eier, die dem russischen Volke nur selten zur Nahrung dienen, beiseite lassen, so wird sich herausstellen, dass nur die Kartoffeln bei uns billiger sind, der Preis des Brotes aber derselbe, und dass das Weizenbrot bei uns sogar teuerer ist als in England und Massachusets. Speck ist in Amerika billiger, in England etwas teuerer, Milch in diesen beiden Ländern billiger als in Russland, von Kleidungsstücken, Hausgerätschaften Zucker, Seife usw. schon gar nicht zu reden. Die späteren Forschungen ergaben, dass der durchschnittliche Arbeitslohn bei uns gestiegen, dass aber gleichlaufend damit eine Verteuerung der zum Leben notwendigen Gegenstände eingetreten ist. Der gegenwärtige jährliche Durchschnittsverdienst des russischen Fabrikarbeiters wird auf ungefähr 194 Rubel bemessen, bei Schwankungen von 89 bis 606 Rubel (am Ende der 90 er Jahre). Den höchsten Lohn bekommen die Arbeiter der Maschinenbaubranche — durchschnittlich 525 Rubel jährlich. Was die einzelnen Rayons betrifft, so ist es am schlimmsten um den Kiewer Rayon bestellt, wo der jährliche Durchschnittslohn 134 Rubel beträgt; dann kommt der Wolgarayon mit 156 Rubel, der Moskauer mit 170, das Weichselgebiet mit 228 und endlich der Petersburger Fabrikrayon mit 265 Rubel Durchschnittslohn. Die Hauptnahrungsmittel des mittleren russischen Fabrikarbeiters sind wie die der Bauern Brot, Speck und Öl. Fleisch verzehrt der Arbeiter jährlich höchstens 4 Pud für 15 Rubel, während sein englischer Genosse Eier, Milch, Butter, Tee und Zucker in beträchtlichen Quantitäten genießt.

Wenn wir nun nach den Ursachen des geringen Arbeitslohnes der russischen Arbeiter fragen, so müssen wir die allgemeinen und industriellen Lebensbedingungen Russlands in Betracht ziehen. Die Regierung kann nicht direkt auf die Lohnerhöhung einwirken, sie besitzt aber, wie M. Bernatzki sagt, mächtige indirekte Mittel. Die Erfahrung aller Länder und darunter auch die Russlands zeigt, dass je höher die Bildung des Arbeiters ist, desto produktiver seine Arbeit, desto erfolgreicher seine Mühe und desto größer seine Belohnung sein können. Die moderne Fabrikindustrie basiert auf einer vervollkommneten Technik, und bessere Maschinen fordern auch verständigere Menschen. Einem Unwissenden, einem Analphabeten wird kein gewissenhafter Techniker den Umgang mit einer Maschine anvertrauen. Und doch es ist bekannt, wie niedrig in Russland durch die Schuld der Regierung die Volksbildung im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern steht: über ¾ der russischen Bevölkerung sind Analphabeten. In den Fabriken des Weichselgebietes machen die des Lesens und Schreibens kundigen Arbeiter weniger als die Hälfte, in den besten Moskauer Fabriken weniger als ein Drittel der gesamten Arbeiterzahl aus.

Eine andere anormale Erscheinung, die den Arbeitslohn des russischen Arbeiters herabsetzt, ist die Einrichtung der Fabrikläden, der Fabrikkasernen, ferner die Geldstrafen, die die Fabrikanten den Arbeitern oft auferlegen, und schließlich die seltene Auszahlung der Löhne. Die auch ohnedies niedrigen Arbeitslöhne verlieren, wie Prof. Issajew sagt, einen Teil ihrer Kaufkraft durch die Ausbreitung der Fabrikläden, besonders in Zentral-Russland, die von manchen Fabrikbesitzern fälschlich für Konsumgenossenschaften ausgegeben werden, und in denen die Preise der Gebrauchsgegenstände sehr hoch sind. In den Berichten der Fabrikinspektoren findet man eine vergleichende Zusammenstellung der Preise von Waren, die in den kleinen Krämerläden, und derjenigen, welche in den Fabrikläden verkauft werden, und man ersieht daraus, dass die letzteren um 20 — 40% teuerer sind. Um sich von der Ausbeutung durch die Fabrikbesitzer einerseits und durch die Krämer andererseits zu befreien, haben die Arbeiter eine besondere Art Konsumvereine, nämlich Küchen oder sogenannte Speisungsgenossenschaften gegründet. Von den 28 Genossenschaften (Artels), die von Dementjew in seinem Buch „Die Fabrik“ angeführt werden, in denen sich auch jugendliche Arbeiter befinden, betrugen in 18 Genossenschaften die Nahrungskosten nicht mehr als fünf Rubel monatlich, die Durchschnittskosten, die als das arithmetische Mittel ausgerechnet worden sind, betrugen 4 Rubel 94 Kopeken. Ebenso sind die durchschnittlichen Nahrungskosten für ältere und jüngere Arbeiterinnen 4 Rubel, für Minderjährige 3 Rubel 7 Kopeken monatlich. Wenn wir nun diese Zahlen der Nahrungskosten, wie sie die Arbeiter bezahlen, mit den ursprünglichen Kosten, wie sie die Fabrikanten zahlen, vergleichen, so ergibt es sich, dass die Nahrungskosten der Minderjährigen hier wie dort in der Tat auch gegen 3 Rubel monatlich betragen, während in den Kosten der erwachsenen Männer ein großer Unterschied bemerkbar wird. Im ersten Falle betragen sie nämlich 5 Rubel, im zweiten 6 Rubel 20 Kopeken, so dass die Fabrikanten die Arbeiter 1,20 Rubel, d. h. etwa um 24% mehr, monatlich bezahlen lassen. Wenn man nun in Betracht zieht, dass die Ernährung auf Fabrikkosten sich keineswegs durch bessere Qualität oder größere Quantität von der Nahrung der sich selbständig beköstigenden Arbeiter unterscheidet, dass sie oft der Qualität nach sogar hinter der letzteren zurücksteht, da im Artel „Zufälle“, wie verfaultes Mehl oder verdorbenes Fleisch unmöglich sind, dass die Waren infolge der Einführung des Zwangskaufes in den Fabrikläden, den Arbeitern zu unverhältnismäßig hohen Preisen verkauft werden, und dass die Fabrikbesitzer die Waren zu billigeren Preisen bekommen — kann man dann aus dieser Tatsache der Differenz von 24% einen anderen Schluß ziehen als den, dass die Form der Arbeitermiete mit Verköstigung bloß eine indirekte Preisherabsetzung, eine Art Profit ist, der nicht aus der Produktion, sondern direkt von den Arbeitern, und zwar in einer sie geradezu schädigenden Weise gezogen wird? Das ist dieselbe grobe Arbeiterausbeutung von Seiten des Fabrikbesitzers, wie der Zwang es ist, bloß in seinem Laden zu kaufen oder in einem andern, der dem Fabrikanten ein gewisses Prozent für die „Arbeitsvermittlung“ garantiert. Aber diese Ausbeutung ist eine verschleierte und deshalb kaum kontrollierbare. Auch die Fabrikkasernen setzen die Arbeitslöhne herab, besonders wenn die Fabrikanten dafür Mietgeld eintreiben. Die Arbeiterwohnungsfrage beruht in Russland auf ganz andern Voraussetzungen als in Westeuropa und Amerika. Weder in England noch in Amerika leben die Arbeiter in Wohnungen, die ihnen von den Fabrikanten zur Verfügung gestellt werden. Sie mieten ihre Wohnungen selbst außerhalb der Fabrik, wogegen die meisten russischen Arbeiter in den Fabriken selbst wohnen. Bloß in Fabriken, die noch nicht ganz die Entwicklung zu industriellen Manufakturen durchgemacht haben, also in solchen, wo noch Handarbeit verwendet wird, leben die Arbeiter unabhängig von der Fabrik in Mietwohnungen; in allen großen Fabriken dagegen überwiegend in den Fabriken selbst. Obwohl die Fabrikanten oft kein Mietgeld verlangen, wirkt dieser Umstand dennoch auf die Höhe des Arbeitslohnes ein. Die Fabrikanten aber, die Mietgeld erheben, das manchmal höher, manchmal niedriger als die gewöhnliche Wohnungsmiete ist, ziehen daraus große Vorteile. In den großen Fabriken bilden die Wohnungen, die von den Fabrikanten eingerichtet werden, große, vielstöckige Kasernen mit zentralen dunklen, schmalen und schiefen Gängen und Zimmerchen oder „Kämmerlein“, die voneinander durch Bretterverschläge, die schlecht zusammengefügt sind und nicht einmal bis an die Decke reichen, geschieden werden. Manche Kasernen sind in Kämmerlein geteilt, in denen Arbeiterfamilien und alleinstehende Arbeiter wohnen. Die Zahl solcher Kämmerlein ist gewöhnlich sehr beschränkt, und der größte Teil der Arbeiter, darunter auch ganze Familien, wohnen in gemeinsamen Schlafräumen. Die Einrichtung der Kämmerlein entspringt dem Wunsche, die Familie doch irgendwie abzusondern. Aber es wäre verfehlt zu glauben, dass in jedem Kämmerlein sich tatsächlich nur eine Familie befindet. Dies ist nur äußerst selten und nur in den besonders kleinen Kämmerlein der Fall. Gewöhnlich aber wohnen in jedem Kämmerlein zwei, drei oder sogar bis zu sieben Familien, und außerdem werden in vielen Fabriken alleinstehende Arbeiter, Männer oder Frauen, in diese Kämmerlein gesteckt, so dass auch diese schließlich zu gemeinsamen Dormitorien werden, die sich von den eigentlichen Schlafräumen nur durch ihre geringere Größe unterscheiden. Allgemeine Normen für die Einteilung der Arbeiterwohnungen gibt es beinahe in keiner einzigen Fabrik, die einzige Schranke bildet wohl die physische Unmöglichkeit, noch einen alleinstehenden Arbeiter oder eine Familie mehr hineinzupferchen. Einer der Gründe, die die russischen Fabrikanten bewogen haben, solche Kasernen zu bauen, war der Wunsch, den Arbeiter vom Boden loszureißen. Unter den in Russland herrschenden agrarischen Verhältnissen war es begreiflich, dass jede größere Fabrik, die sogar im Dorfe selbst gegründet wurde, ihren Arbeitern Wohnräume sichern musste, die sie in den Dörfern nicht finden konnten. Wo die Fabrikanten keine Fabrikkasernen bauen wollen — das ist gewöhnlich bei den Besitzern kleinerer Fabriken der Fall — und aus irgendwelchem Grunde keine lokalen, sondern eingewanderte Arbeitskräfte verwenden, wohnen diese in den Fabriken selbst. Häufig verdingen sich in solchen Fabriken die Arbeiter für die Beköstigung, die sog. „Jahresbeköstigung“, und bekommen dann auch eine Gratiswohnung. Dann schlafen sie in denselben Räumen, in denen sie arbeiten, und wählen sich die wärmsten und trockensten Stellen, z. B. in den Ofenräumen der Färbereien, in den Trockenräumen der Lederfabriken usw. als Schlafstatt aus. Einen besonders ausgeprägten Typus dieses Werkstattlebens bildet das Leben in den Mattenfabriken. Als der Fabrikinspektor Dementjew eine solche Fabrik betrat, geriet er, wie er sich ausdrückt, „in einen Wald“. Er musste die überall auf Stäben und an Stricken umherhängenden Binsen auseinanderschieben und, umsichtig sich langsam vorwärts bewegend, mühsam die in einer zolldicken Schmutzschicht klebenden Füße vom Boden heben, wobei er jedesmal in schmutzerfüllte Löcher geriet und auf Wasserkübel stieß, die von Wasserlachen umgeben waren, jeden Moment Gefahr laufend, die kleinen Kinder, die am Boden krochen, zu zertreten; so konnte er endlich zu einem der Fenster, an dem die Arbeit vor sich ging, gelangen.

Auf die Arbeitslöhne der russischen Arbeiter wirken auch die Geldstrafen*), die ihnen auch jetzt noch von den Fabrikanten wegen jeder Kleinigkeit auferlegt werden, speziell wegen verspäteter Ablieferung von Stückarbeit, obwohl der Arbeiter seine Verspätung schon dadurch büßt, dass er weniger verdient. In den vorgeschritteneren Teilen des russischen Reiches, z. B. im Weichselgebiet, ist das Strafsystem nach dem Zeugnis des Inspektors W. Swiatlowski weniger verbreitet als in den übrigen Industrierayons. So z. B. haben 40 Zuckerbrennereien mit ungefähr 17.000 Arbeitern am Ende der 80er Jahre je 1 ½ Tausend Rubel an Strafgeldern von den Arbeitern eingenommen, die dann zur Unterstützung der Arbeiter verwendet wurden. Die große Baumwollmanufaktur der Aktiengesellschaft Scheibler in Lodz hat bei einer Zahl von 6000 Arbeitern und 1.903.807 Rubel jährlicher Arbeitslöhne im Jahre 1886 8.100 R. 97 Kop. an Strafgeldern eingenommen. Diese Gelder werden von der Gesellschaft dann dem Arbeiterunterstützungsfonds überwiesen. Die Strafen werden für Ruhestörung in den Fabrikkasernen, für Verspätung, für rohes und freches Benehmen gegenüber den Meistern und den Kameraden und für die Beschädigung der Waren (nach einer gewissen Taxe) zuerkannt. In manchen Fabriken bemerkte Swiatlowski einen unsympathischen Brauch, der darin bestand, dass namentlich ein Teil der Strafgelder demjenigen zufiel, der einen Kameraden denunzierte. Solche Fälle kamen in einer Baumwollmanufaktur und in einer Zuckerfabrik vor. Der letztere Fall muss besonders hervorgehoben werden. Als Grund zur Straferteilung betrachtet man in den Zuckerfabriken meistensteils das Stehlen von Zucker. Um diesem Unfug nun entgegenzuarbeiten, belohnt die Fabrik den Arbeiter, der seinen Kameraden denunziert hat. Aber wäre es denn da nicht einfacher, jedem Arbeiter wenigstens ein Pfund des Produktes, das er tatsächlich im Schweiß seines Angesichtes gewinnt, von vornherein zu geben? Der Arbeiter verschwendet sein Leben und seine Kräfte in der Zuckerfabrik, ist über und über mit Zuckerstaub bedeckt und darf trotzdem nicht einige Stückchen dieses Stoffes, den er buchstäblich mit den Füßen tritt, mit nach Hause nehmen! Finden doch auch die Bierbrauereien die Möglichkeit, ihren Arbeitern täglich einige Krüge Bier zu verabreichen! Das Strafgeld für verdorbene Waren wird oft vom Fabrikanten demjenigen gegeben, der das Verdorbene wieder gut macht. Überhaupt werden die Strafgelder in den meisten Fabriken des Weichselgebietes entweder zu Nutz und Frommen der Arbeiter selbst verwendet, oder es werden von den Fabrikanten damit die Unkosten für Heilmittel bestritten. Manchmal treiben die Fabrikanten mit den Strafgeldern einen solchen Mißbrauch, dass sie sie sogar der Kirche spenden. Wie gering auch der Prozentsatz der Strafgelder sein mag, so ergeben sie dennoch sogar bei mäßiger Ausübung dieses Rechts seitens der Fabrikanten, wie es im Weichselgebiet der Fall ist, bloß im Warschauer Rayon mit seinen 150.000 Arbeitern am Ende der 80er Jahre nach der Berechnung Swiatlowskis 125.000 Rubel jährlich, die den Besitzern der industriellen Etablissements zuflössen. Wenn wir nun die Durchschnittsnorm des Arbeitslohnes auf 150 Rubel einschätzen, so können die Fabrikanten für diese Summe noch unentgeltlich 800 Arbeiter halten. In den übrigen Industrierayons sind die Summen der Strafgelder noch bedeutender und werden vollständig von den Fabrikanten mit Beschlag belegt. So lesen wir im Protokoll der Versammlung der Moskauer Maschinenarbeiter vom 21. Juli 1901, dass in Moskau allein sich mehr als 200.000 Rubel an Strafgeldern angehäuft hatten, und in der Fabrik von Weichelt schätzen sie die Arbeiter auf 20.000 Rubel. Bei der Besprechung dieser Angelegenheit in der besagten Versammlung hat ein Arbeiter die Frage aufgeworfen, ob „man nicht die Summen des Straf gelderfonds für die Errichtung billiger Arbeiterwohnungen verwenden könnte. Aus eigenen Mitteln können wir schwerlich derartiges tun. Wir wüßten sonst nicht, für welche Bedürfnisse der Arbeiter die Summen eigentlich verwendet werden.“

Eine schlechte Wirkung auf den Verdienst der russischen Arbeiter hat auch das Bestreben der Fabrikanten, mit den Arbeitern so selten als möglich abzurechnen. Dagegen hätte der Brauch, den Arbeitern so oft als möglich ihren Lohn auszuzahlen, wenigstens einmal wöchentlich, das Gute, diese der Notwendigkeit zu entheben, bei den Kleinkrämern die Waren auf Kredit zu nehmen und sie darum teurer zu bezahlen. Die russischen Fabrikanten sind auch deshalb bestrebt, die Löhne so selten als möglich auszuzahlen, weil sie die Arbeiter an die Fabrikläden binden wollen. Infolgedessen sucht der Arbeiter, der Ware anstatt Geld bekommt, diese Ware an die benachbarten Krämer für die Hälfte des Preises wieder zu verkaufen, um in den Besitz von Bargeld zu gelangen. Somit bereichern sich auf Unkosten des Arbeiters zugleich der Fabrikant und der Kleinkrämer. Die Arten der Arbeitslöhne sind in Russland sehr verschieden — es gibt Gehälter, Stück- oder Pudlohn und Taglohn. Sämtliche Arbeiter, die Gehälter beziehen, heißen „Jahresarbeiter“, obwohl die Verdingung mit Jahresgehalt sehr selten ist. Häufiger als diese ist aber die Saisonverdingung, die jedoch im Verhältnis zur großen Arbeitermasse ziemlich selten und nur in vereinzelten Industrien vorkommt. Die Saisonlöhne haben ihren Ursprung in der verschiedenen Schätzung der Arbeit im Winter und im Sommer. Wiewohl es gegen das Grundgesetz der politischen Ökonomie verstößt, sind dennoch in den russischen Fabriken hie und da die Winterlöhne niedriger als die Sommerlöhne, obwohl die Bedürfnisse der Arbeiter während der Winterszeit infolge des rauhen Klimas viel größer und komplizierter sind, als im Sommer. Die Erklärung dieser eigentümlichen Erscheinung liegt in der Tatsache, dass ein gewisser Teil der russischen Arbeiter sich noch nicht gänzlich vom Ackerbau losgerissen hat, wie auch in der Sitte der russischen Fabriken, den Arbeitern freie Wohnung zu gewähren, wodurch eigentlich die theoretische Regel des Verhältnisses zwischen dem Arbeitslohn und den Bedürfnissen der Arbeiter paralysiert wird. In Russland kostet es auch jetzt noch vielen Fabrikanten Mühe, die Arbeiter in der Hauptzeit der Feldarbeiten in den Fabriken zurückzuhalten, besonders aber in der sogen. „tollen“ Mahdezeit. Der Lohnunterschied, der früher beinahe in allen Fabriken existiert hatte, verschwindet mehr und mehr und hat sich zur Stunde nur noch in wenigen Industriebranchen erhalten, beinahe ausschließlich in solchen Fabriken, wo die Sitte der Saisonlöhne sich bewahrt hat.

Wir wollen jetzt zur Frage nach der Dauer des Arbeitstages übergehen. Wie viel Stunden täglich arbeitet der russische Arbeiter? Bis zur Veröffentlichung des Gesetzes von 1897, das die Dauer des Arbeitstages auf 11 ½ Stunden beschränkte, war die Arbeitsdauer laut Berichten übermäßig lang. Jetzt könnte es wohl scheinen, dass die Erschöpfung des Arbeiters durch die Fabrik unmöglich gemacht worden. Das Gesetz von 1897, das schon an und für sich den Arbeitstag zu hoch normierte, wurde leider durch das Rundschreiben des Finanzministers vom Jahre 1898, welches die Überstunden im unbeschränkten Maße gestattet, beinahe ganz aufgehoben. Durch dieses Zirkular ist, wie die Praxis zeigt, der Arbeitstag an vielen Orten gar nicht kleiner geworden, da die Fabrikanten diejenigen Arbeiter, die keine Überstunden machen wollen, entlassen. Aus der „Sammlung der Berichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1902“ erfahren wir, dass in jenem Jahre 3273 Beschwerden eingebracht wurden „wegen des Zwanges, Überstunden zu machen“. Angesichts dieser Sachlage werden wir wohl nicht der Wahrheit untreu werden, wenn wir behaupten, dass die gewöhnliche Arbeitsdauer wie früher 12 — 14 Stunden täglich beträgt, und dass ungeachtet der großen Zahl der Feiertage die russischen Arbeiter mehr arbeiten als die westeuropäischen. In den 90er Jahren betrug die jährliche Stundenzahl in den russischen Fabriken 3.484 bis 3.588, in den amerikanischen 3.070, in den englischen 2.810. Im Vergleich mit den englischen und amerikanischen Fabriken ist die Arbeitsquantität in jeder russischen Fabrik eine viel größere. Wenn wir zur Vergleichseinheit die Fabriken mit Maschinenproduktion nehmen, so ergibt sich, dass in den amerikanischen Fabriken die Arbeitszeit um 15%, in den englischen beinahe um 22% kürzer ist. Die große Anzahl von Feiertagen verkürzt gewissermaßen die übermäßige Arbeitszeit in unseren Fabriken; ist aber eine derartige Abkürzungsmethode auch vernünftig? In Amerika und England ist die Arbeitszeit der Fabrikarbeiter nicht bloß kürzer, als bei uns, sondern auch regelmäßiger und besser eingeteilt, sowohl nach der Abwechslung der Arbeitszeit und der Ruhepausen als auch nach den Jahresund Tageszeiten.

Wenn wir uns nun von den allgemeinen Daten über die Dauer des Arbeitstages in Russland den detaillierteren Zahlenangaben zuwenden, so werden wir in der vergleichenden Tabelle über die Dauer des Arbeitstages und die Höhe des Arbeitslohnes in den verschiedenen Teilen des Reiches, die im Jahre 1896 vom Handels- und Industriedepartement herausgegeben wurde, folgende Daten finden: Von 827 Fabriken, die im Jahre 1896 im Warschauer Gouvernement funktionierten und 53.324 Arbeiter beschäftigten, lassen nur 24 die Nachtarbeit zu; im Petrikauer Gouvernement, wo sich die beiden polnischen Hauptzentren der Manufaktur, Lodz und Sosnowice, befinden, existiert die Nachtarbeit überhaupt nicht. Anders verhält es sich in den echt russischen Gegenden, vornehmlich aber in den Zentral-Gouvernements: Moskau, Twer, Wladimir u. a. Wenn wir von den dem Jahre 1880 unmittelbar folgenden Jahren, als die Verkürzung der Nachtarbeit die Folge einer andauernden Krise war, die die Industrie der russischen Industrierayons, besonders aber die Moskaus und der Umgebungen, durchgemacht hat, absehen, so finden wir überall zwei Arbeiterschichten, die einander ablösen, und deren Arbeitszeit so berechnet ist, dass die Fabrik 18 Stunden täglich ununterbrochen arbeiten kann. In den Webereien, Spinnereien und Färbereien lösen sich diese Schichten zweimal im Laufe von 24 Stunden ab. Die eine arbeitet von 6 Uhr früh bis Mittag und von wieder 6 Uhr Nachmittags bis Mitternacht, die zweite von 12 Uhr Mittags bis 6 Uhr Nachmittags und von 12 Uhr Mitternacht bis 6 Uhr früh. Hie und da bemerkt man kleine Abweichungen, so z.B. beginnt in manchen Fabriken die Arbeit um 7 oder um 8, oder sogar um 9 Uhr früh. Nach der Ansicht der Fabrikinspektoren ist die für die Arbeiter gesundheitswidrigste und unproduktivste Arbeitseinteilung die, welche die Nachtruhe unterbricht, was besonders bei häufigen Ablösungen, die alle 3 oder 4 Stunden stattfinden, empfindlich wird. Die meisten Moskauer Fabriken arbeiten 18 Stunden mit zweimaligem Arbeiterwechsel, so dass jede Schicht 9 Stunden täglich arbeitet. Die Arbeit ruht von Mitternacht bis 6 Uhr früh. Aber es gibt auch solche Fabriken, die infolge einer besonderen Einrichtung der Maschinen, in erster Linie der Öfen, ununterbrochen arbeiten müssen. Dann wird mit zwei Ablösungen Tag und Nacht gearbeitet. In der großen Nikolsker Baumwollmanufaktur von Sawwa Morosow wurde 24stündige Arbeit mit Erfolg durch die 18stündige mit zwei Ablösungen ersetzt. Wie die Fabriksadministration behauptet, ist die Arbeit ergiebiger geworden. Jetzt produziert der Arbeiter in einer Stunde mehr als früher. Im Gouvernement Twer arbeiten die beiden Gruppen ungleichmäßig. Die Tagesschicht 12 Stunden, die Nachtschicht 6 Stunden. Von den 11.688 Fabriken des Moskauer Gouvernements haben 4.548 erst vor kurzem volle 24 Stunden täglich gearbeitet. Von den 101.000 Arbeitern (1896) des Gouvernements Petersburg leisten 80% keine Nachtarbeit mehr. Aber in den übrigen Gouvernements, z. B. im Charkower, arbeiten von 26.000 Arbeitern, 15.309 Tag und Nacht. Diese Ziffern sind den offiziellen Berichten, die die Fabrikinspektoren dem Finanzminister erstatteten, entnommen. Aus denselben Berichten ersieht man, dass der Arbeitstag in Polen überhaupt kürzer ist als in Russland. In der Tat, im Warschauer Gouvernement wird in den Zuckerfabriken 11 bis 14 Stunden täglich gearbeitet, in den Branntweinbrennereien 7 — 9 Stunden, in den Metallfabriken 10 Stunden, in den Montanindustrien 10 — 12 Stunden (in 60% der Bergwerke 11 — 12 Stunden, in 40% 10 — 10 ½ Stunden). In den Webereien, Spinnereien und sonstigen Fabriken von Lodz, Zgierz (im Gouvernement Petrikau) dauert der Arbeitstag in 43 Fabriken; 10 — 10 ½ St., in 288: 11 ½ —12 St., in 245: 12 ½ — 13 St. Diese Arbeitszeit wäre eigentlich sehr groß, wenn sie nicht um eine oder zwei Stunden für Frühstück und Mittagessen verkürzt wäre. In 57% der Spinnereien, in denen 83% sämtlicher Arbeiter beschäftigt sind, dauert die Arbeitszeit bloß 11 Stunden, von 6 Uhr früh, bis 7 Uhr abends, mit einer Unterbrechung von 2 Stunden für das Mittagessen. Im russischen Industrierayon ist der Arbeitstag im allgemeinen länger. In den meisten Fabriken des Moskauer Gouvernements dauert er von 5 Uhr früh bis 8 Uhr abends, mit einer Unterbrechung von 1 ½ — 2 Stunden. Das macht nun 13 — 13 ½ Stunden wirklicher Arbeit aus. Der Arbeitstag ist dort kürzer, wo zwei Arbeiterschichten einander ablösen. Dann dauert er 12 oder sogar nur 9 Stunden. In den Druckereien währt die Arbeit 12 — 13 Stunden mit einer Unterbrechung für Frühstück und Mittagessen, oder 11 Stunden ohne Unterbrechung. In den Metallfabriken wird 13 ½ Stunden im Tage gearbeitet. Diese Ziffern sind den letzten Berichten der Fabrikinspektoren entnommen. Sie decken sich mit den Angaben des gewesenen Fabrikinspektors Janshul für die Jahre 1884 und 1885. Wir lesen bei ihm, dass in 151 Fabriken unter 217 die Arbeiter 11 — 14 Stunden täglich arbeiten. In den Woll-, Seide- und Baumwollspinnereien und -Webereien, ebenfalls in den Tapeten- und Kosmetikenfabriken, in Glashütten und Nagelfabriken erreichte der Arbeitstag das Maximum von 13 — 13 1/3 oder sogar 14 Stunden. Einen längeren Arbeitstag finden wir in den Mattenfabriken, den kürzesten (11 bis 12 Stunden) in Druckereien, Maschinenbauund Porzellanfabriken, in Tabakfabriken und in den Werkstätten der Gold- und Silberarbeiter.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Arbeiterfrage