Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit

Eine Ansprache, gehalten auf der Liebfrauen-Haide am 25. Juli 1869
Autor: Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr von (1811-1877) katholischer Bischof von Mainz, Politiker. Er wurde der Arbeiterbischof genannt., Erscheinungsjahr: 1869
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Arbeiterbewegung, Arbeiterstand, Arbeiterrinnen, Arbeitsbedingungen, Unternehmensbeteiligung, Streiks, Arbeitskampf, Arbeiterforderungen, Religion, Arbeiterführer, Sittlichkeit, Trades-Unions, Gewerkschaften, Frauenrecht, Gleichstellung, Gleichberechtigung, Familie, Kinderarbeit, Lohn- und Freizeit, Sittlichkeit,
Bei meiner letzten Visitation des Dekanats Seligenstadt habe ich die Gläubigen, insbesondere aber den in jener Gegend zahlreich vertretenen Arbeiterstand zu einer Schlussandacht in der, unweit Offenbach gelegenen Kapelle auf der Liebfrauen-Haide eingeladen. Die auch in dortiger Gegend zunehmende Arbeiterbewegung gab mir Anlass, vor den in großer Anzahl erschienenen Arbeitern das Verhältnis der gegenwärtigen Forderungen und Bestrebungen der Arbeiter zu Religion und Christentum zu besprechen.
Um den dort versammelten Arbeitern eine Erinnerung an jenen Tag zu geben, habe ich die Ansprache drucken lassen und widme sie allen christlichen Arbeitern meiner Diözese.
Mainz, den 5. August 1869

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Nachdem ich über vierzehn Tage unter euch, liebe Bewohner dieser Maingegend, verweilt, habe ich euch zu einer großen Versammlung noch einmal hierher eingeladen. Namentlich habe ich euch Arbeiter gebeten, heute hier zu erscheinen. Es ist ein lieblicher und heiliger Ort. Er liegt im Mittelpunkte eurer Gemeinden, tief in der Einsamkeit des Waldes. Hierher sind eure Voreltern seit langer Zeit in allen ihren ernsten Lebensangelegenheiten gegangen, um Trost, Kraft und Hilfe zu finden. Die neuerbaute Kapelle mit dem schönen Altare, auf dem das alte Gnadenbild der schmerzhaften Gottesmutter nunmehr angebracht ist, beweist, dass ihr diesen Ort nicht weniger liebt wie eure guten Voreltern. Ich danke euch, dass ihr meiner Einladung so zahlreich gefolgt seid. Ich sehe einen großen Teil der zahlreichen Arbeiterbevölkerung dieser Fabrikgegend vor mir und mit ihr die Glieder ihrer Familien. Es ist mir eine große Freude, euch noch einmal vor meinem Abschiede alle vereinigt zu sehen.

Wenn ich aber insbesondere euch Arbeiter hierher eingeladen habe, so hatte ich dazu vielfachen Grund. Ihr bildet den größten Teil der Gesamtbevölkerung dieser Gegend. Entweder sind eure Dörfer vielfach in Fabriken umgewandelt, oder ihr zieht in großer Zahl nach den Fabrikstädten, die in eurer Nähe liegen. Ich nehme daher auch den innigsten und wärmsten Anteil an Allem, was eure Wohlfahrt betrifft. Dazu treibt mich schon die innige Liebe, welche ich zu euch allen habe und die durch die Reihe von Jahren, seitdem ich euer Bischof bin und euch kenne und euch besuche, nur immer mehr gewachsen ist. Dazu treibt mich aber insbesondere der Gedanke, dass ich in eurer Mitte die Stelle dessen vertrete, der selbst ein Arbeiter, des Zimmermanns Sohn sein wollte, um sich der Menschen in ihrer Not zu erbarmen. Die Mutter dieses göttlichen Zimmermannskindes, deren Bild wir hier verehren, die mit ihrer mütterlichen Liebe den Arbeitern und Arbeiterinnen in allen ihren Anliegen so nahe steht, wird es daher gewiss billigen, wenn ich in dieser Stunde das, was man die Arbeiterfrage nennt, in Beziehung zur Religion bespreche.

Der Gesichtspunkt, unter dem ich den Gegenstand behandeln will, stellt sich mir von selbst dar. Der Arbeiterstand, namentlich der Fabrikarbeiterstand ist in unseren Tagen von einer Bewegung ergriffen, die immer stärker wird. Ihr aber steht mitten in dieser Bewegung. Auf der einen Seite seid ihr treue Kinder der katholischen Kirche. Das habe ich auch jetzt wieder, wie schon so oft, mit unbeschreiblicher Rührung und Freude wahrgenommen, als ich mich in euren verschiedenen Gemeinden aufhielt. Weder die Erntezeit, noch der Lohn in den Fabriken, auf den ihr verzichten musstet, hat euch abgehalten, an allen Festlichkeiten euch zu beteiligen. Auf der anderen Seite könnt ihr diesen Bewegungen gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Da tritt also die Frage an jeden katholischen Arbeiter, an jeden von euch heran: Was ist an allen diesen Bewegungen, die durch den ganzen Arbeiterstand in Europa, ja über Europa hinaus, gehen, berechtigt, was ist an ihnen unberechtigt, was gefährlich? In wieweit kann ich mich an denselben als Christ, als Katholik, ohne meine Religion und mein Gewissen zu verletzen, beteiligen, in wieweit nicht? Vor welchen Gefahren habe ich mich zu hüten? Darüber muss ein gewissenhafter katholischer Arbeiter mit sich vollkommen im Reinen sein. Diese Fragen will ich nun so kurz wie möglich, aber mit vollkommener Offenheit, euch beantworten; mit jener rücksichtslosen Offenheit, welche die Wahrheit fordert und die allein dem Verhältnisse, in dem ich als Vertreter dessen, der die Wahrheit selbst ist, zu euch stehe, würdig und entsprechend ist. Ihr werdet aus dieser Erörterung zugleich sehen, dass, was an den Arbeiterbewegungen unserer Tage gut und berechtigt ist, nur in der innigsten Verbindung mit der Religion und Sittlichkeit erreicht werden kann. Ohne Religion, ohne Sittlichkeit bleiben alle Bemühungen für die Hebung und Besserung der Lage der Arbeiter ohne Erfolg. Diese Einsicht ist aber von der höchsten Wichtigkeit.

Gehen wir nun zum Einzelnen über. Ich werde zuerst die Hauptbestrebung der Arbeiter und die Forderungen, welche sie geltend machen, ins Auge fassen, dann ihr Verhältnis zur Religion und Sittlichkeit nachweisen und endlich auf einige Gefahren aufmerksam machen.

Die Grundrichtung, welche der ganzen Bewegung im Arbeiterstande ihre Bedeutung gibt und ihr eigentliches Wesen ausmacht, ist auf Verbindung, auf Vereinigung der Arbeiter gerichtet, um so mit vereinter Kraft die Interessen der Arbeiter geltend zu machen.

Diese Richtung der Arbeiter ist nun in Folge der volkswirtschaftlichen Grundsätze, die seit der französischen Revolution zur Geltung gekommen sind und in allen Staaten die unbedingte Herrschaft mehr und mehr erlangt haben, eine wahre Naturnotwendigkeit geworden und die Religion hat daher gegen diese Bestrebungen an sich nichts zu erinnern; sie kann sie nur segnen, ihnen zum Heil des Arbeiterstandes Erfolg wünschen und sie unterstützen. Die unbedingte Freiheit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft — das kann Niemand leugnen, selbst der nicht, welcher sie für notwendig hält und die Überzeugung hegt, dass sie in ihrem letzten Erfolge heilsam ist — diese unbedingte Freiheit hat zunächst den Arbeiterstand in eine ganz verzweiflungsvolle Lage gebracht. Durch Auflösung aller alten Verbindungen wurde der Arbeiter gänzlich isoliert und lediglich auf sich angewiesen. Jeder Arbeiter stand mit seiner Arbeitskraft, die sein ganzes Vermögen ausmacht, allein da. Ihm gegenüber aber stand die Geldmacht, welche in demselben Maße dem Arbeiter gefährlich wird, wie ihr Inhaber ohne Gewissen, ohne Religion ist und sie daher nur zur Befriedigung des Egoismus benutzt. Die Grundsätze der modernen Volkswirtschaft hatten die entgegengesetzte Wirkung bezüglich der Menschenkraft in dem Arbeiter und der Geldmacht in der Hand des Kapitalisten. Der Arbeiter mit seiner Kraft wurde, wie ich vorher sagte, isoliert, die Geldmacht dagegen wurde zentralisiert. Der Arbeiterstand wurde in lauter vereinzelte Arbeiter aufgelöst, wo jeder gänzlich ohnmächtig war; die Geldmacht verteilte sich aber nicht in mäßige Kapitalanteile, sondern im Gegenteil sammelte sich zu immer größeren und übermäßigen Massen. Ein Rothschild, der seinen Kindern 1.700 Million Franken hinterlässt, ist so recht ein Produkt dieser volkswirtschaftlichen Richtung. Der Menschenverband wurde zerstört und an dessen Stelle trat der Geldverband in furchtbarer Ausdehnung. Daraus entstanden nun überall, wo sich diese Verhältnisse schrankenlos entwickeln konnten, für den Arbeiterstand die fürchterlichsten Zustände. Vor etwa vierzig Jahren war dadurch ein großer Teil des Arbeiterstandes in England in den tiefsten Sumpf des sittlichen und physischen Elendes geraten.

Gegen diese Isolierung des Arbeiterstandes, gegen dieses Zertreten der Menschenkraft durch die Geldmacht ist nun von demselben England, von welchem das Verderben ausgegangen ist, der mächtige Antrieb zur Verbindung, zur Organisation der Arbeiter gegeben worden. Von dort aus hat er sich dann über den ganzen Arbeiterstand, auch über Deutschland verbreitet. Und diese Richtung, die Arbeiter zu organisieren, um mit gemeinschaftlicher Anstrengung ihre Interessen und Rechte geltend zu machen, ist daher berechtigt und heilsam, ja selbst notwendig, wenn der Arbeiterstand nicht ganz erdrückt werden soll von der Macht des zentralisierten Geldes.

Aber auch hier zeigt sich schon, wie diese Bestrebungen, den Arbeiterstand zu vereinigen, ohne Religion keinen bleibenden Erfolg haben werden. Die Arbeiter bedürfen bei diesen Bestrebungen vielfacher Hilfeleistungen. Sie können nicht alle diese Vereinsangelegenheiten einzeln besorgen. Sie haben Führer und Leiter nötig, welche die gemeinschaftlichen Angelegenheiten des Arbeiterstandes besorgen. Wer gibt dem Arbeiterstand die Garantie, dass diese Führer und Leiter nicht ihre Verführer und Betrüger werden, wenn sie keine Religion haben? Eben diese Führer reden beständig davon, wie die großen Kapitalisten oft den Arbeiterstand für ihren Egoismus unbarmherzig ausbeuten. Aber diese Arbeiterführer sind selbst Menschen mit derselben Natur, wie die Kapitalisten sie haben. Wenn ein Mensch, der die Macht des Kapitales zu seiner Verfügung hat, seine Arbeiter rücksichtslos zu seinem Vorteile ausnützt, sofern er ohne Religion und ohne Gott ist; wer gibt diesen Arbeitern die Gewissheit, dass nicht auch ein sogenannter Volksfreund und Volksführer sie ebenso ausbeuten werde lediglich zu seinem Interesse, wenn er ein gewissenloser, ein gottloser, ein religionsloser Mensch ist? Gerade wie die Geldmacht sie ausgebeutet hat, so werden solche Volksführer sie ausbeuten, so lange sie das Christentum verachten, ja von Hass dagegen erfüllt sind.

Ihr seht es ja vor euren Augen, wie immer wieder unter diesen Männern, die sich an die Spitze der Arbeiterbewegung stellen, periodisch die heftigsten Kämpfe ausbrechen, was im gegenwärtigen Augenblick eben wieder der Fall ist; wie sich dann diese Männer gegenseitig all’ die Selbstsucht vorwerfen, die sie noch eben den Kapitalisten vorgeworfen haben. Das kann auch nicht ausbleiben. Ohne Religion verfallen wir alle dem Egoismus, wir mögen reich oder arm, Kapitalisten oder Arbeiter fein, und beuten unsere Nebenmenschen aus, sobald wir die Macht dazu haben.

So berechtigt daher auch das Bestreben der deutschen Arbeiter ist, den Arbeiterstand zu organisieren, so werden erst dann große Erfolge eintreten, wenn die Führer des Arbeiterstandes ihrem Hasse gegen das Christentum entsagen und wenigstens eine achtungsvolle, wohlwollende Stellung zur Religion und zur Kirche einnehmen. Das zeigt sich schon tatsächlich in dem großen Unterschiede zwischen dem Resultate der Arbeiterbewegung in England und in Deutschland. So sehr uns die englische Arbeiterbevölkerung übertroffen hat in der unseligsten Entwicklung aller verderblichen Konsequenzen der modernen Volkswirtschaft, ebenso übertrifft uns jetzt England in dieser großartigen Tätigkeit, den Arbeiterstand zu organisieren. Das kommt vor Allem daher, weil man in England die hohe Bedeutung der Religion für alle sozialen Fragen zu schützen weiß, während in Deutschland gerade die Wortführer nur zu oft wahren Hass gegen die Religion zur Schau tragen.

Wir wollen jetzt die einzelnen Forderungen des Arbeiterstandes, welche er durch seine Vereinigung erreichen will, ins Auge fassen. Wir werden Schritt für Schritt sehen, wie innig die Religion mit der Arbeiterfrage, mit jeder einzelnen Forderung, die der Arbeiter jetzt stellt, verbunden ist und wie Gottlosigkeit die größte Feindin des Arbeiterstandes ist.

Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr von (1811-1877) katholischer Bischof von Mainz, Politiker. Er wurde der Arbeiterbischof genannt.

Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr von (1811-1877) katholischer Bischof von Mainz, Politiker. Er wurde der Arbeiterbischof genannt.