Die Anstandsbegriffe der Engländer

Unterhaltung am häuslichen Herd
Autor: Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist, Erscheinungsjahr: 1853
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sittenbilder, Engländer, Schrichworte, Dellcacy, Fashion und Respectability, Anstandsgesetze, Umgangsmoral, Anstandsbegriffe, Sittlichkeit, Lebensphilosophie
Aus: Unterhaltung am häuslichen Herd. 1. Band 1853. Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist
Die Engländer sind wunderliche Leute. Sie haben zwar das Sprichwort: „Tu in Rom, was man in Rom tut!“ aber wir Alle wissen, dass sie in Rom, Paris, Berlin, Dresden und Wien nichts Anderes tun, als was sie in Tatersall, Gainsborough und Tickshill tun. Sie müssen überall die Teebüchse zur Hand haben, überall hin folgt ihnen ihr Rasierspiegel, ihre übliche Esszeit, ihre Dinner-Toilette, ihr langweiliger Sonntag und ihr System über Religion, Sitte und Anstand. Sie sind die Chinesen Europas, stabil und exklusiv. Voltaire hatte Recht, Japan und Großbritannien in eine Parallele zu bringen.

Über das Verhältnis der Sitte zum Gesetz hat Montesquieu vortrefflich geschrieben; mag man in seinem „Geist der Gesetze“ nachlesen, wie sich die befohlenen Sitten, die Peter der Große in Russland einführen wollte und eingeführt hat, zur russischen Nationalsitte verhielten. Die Geschichte der Sitten ist eine geheime. Man kann die Gebräuche nur schildern und weiß selten ihren Ursprung, Man kann seine eigenen Gebräuche verwerfen und vermag sich doch nicht von ihnen zu trennen. Die moralische Luft eines Volkes schreibt, sich von den rätselhaftesten Bedingungen her, Höflichkeit, Anstand, Zeremoniel beruhen auf Veranlassungen, die bei dem einen Volke den bedeckten Kopf, bei dem andern den entblößten zum Zeichen der Achtung machen. Sittenforscher haben über diese Gegensätze viel lesenswerte Untersuchungen angestellt.

Im Allgemeinen hat die europäische Bildung die Neigung, für die Formen des Umgangs immer mehr einer gewissen Wahrheit natürlicher Verhältnisse entgegenzukommen. Fast alle Völker Europas haben in dieser Beziehung Fortschritte gemacht. „Erlaubt ist, was gefällt“, gilt schon lange für den einzigen moralischen Maßstab der Männer. „Erlaubt ist, was sich ziemt!“ ist die Lebensregel der Frauen geworden. Freilich ist die Lehre sehr allgemein, und, angewandt auf die Erziehung, weiß manches junge Mädchen darum doch noch nicht, wie sie sich zu benehmen hat, wenn sie Mittags mit der Sonne allein ist und ihr eigener Schatten es wagt, dicht auf dem Sopha ober an ihrem Arbeitstische neben ihr zu sitzen. Vielleicht hat sie einen Anflug englischer Erziehung bekommen. Ihr unglücklichen Wesen dann, wenn ihr mit der Bewunderung vor Byrons süßem „Leb' wohl und wär's für immer!“ auch in der Bewunderung vor Englands Anstandsgesetzen aufgewachsen seid! Die englische Umgangsmoral ist die beklemmendste, die es nächst der chinesischen nur geben kann.

Beschäftigen wir uns ein wenig mit den englischen Anstandsbegriffen.

Dellcacy, Fashion und Respectability! Ihr schauerlichen Grenzpässe, die man erklimmen muss, um zur Höhe der englischen Sittlichkeit zu gelangen! Wie unerbittlich wird auf diesem Wege gerichtet über Jung und Alt, Sprache und Benehmen, Kleidung und Geschmack, Empfindung und Lebensphilosophie, Fortkommen in der Welt und Anwartschaft auf einen guten Namen auch dann noch, wenn man sie schon verlassen hat! Wer gegen die Fashion verstößt, gehört nicht in die Gesellschaft, wer gegen die Respectability verstößt, ist bürgerlich tot, wer gar gegen die Delicacy sündigt, der streicht sich aus dem Umgange mit der sittlichen Welt aus. Keine Nation ist in diesen drei Punkten so streng, keine hat auch mit solcher Einstimmigkeit Hunderttausende von kleinen Scherben und Steinchen bereit, einen Verbrecher gegen diese drei Gesetze aus der Gesellschaft zu verbannen, wie man in Athen mit kleinen Scherben verbannte, in Palästina mit größeren steinigte. Die Geschichte des englischen Genius ist eine Geschichte des Kampfes gegen die englischen Begriffe von Anstand. Von Swift, Milton, Sheridan, Fox an bis herab zu Shelley und Lord Byron erzählt die Geschichte Englands nur von den Opfern einer Moral, die dem freiesten, wildesten, zügellosesten Volke des Mittelalters, dem englischen, im Laufe der Zeiten wie angeflogen gekommen ist. Noch zu Shakespeares Zeiten, noch unter der jungfräulichen Königin Elisabeth herrschte ein Geist in England, der wie in den Tagen Eduards III. das Strumpfband einer Dame zu einem Orden für die Christenheit erheben und ausrufen konnte: Hony soit, qui mal y pense! Wer hätte glauben können, dass eine Nation, wo Frauen, wenn auch in Masken, den Ausgelassenheiten Shakespeare'scher Narren beiwohnen konnten, wo man die Geschichte der Päpstin Johanna auf öffentlicher Bühne darstellte, wo die Damen oft nicht anders zu Pferde saßen als mit einem Herrn hinter sich auf demselben Sattel, der sie mit beiden Armen umfangen hielt, und wo die Ururgroßmütter der jetzigen mondscheinverklärten Misses des grünen England zum Frühstück Rinderbraten aßen und eine Kanne Bier tranken, jemals so weit kommen könnte wie jetzt, wo die Engländerinnen den Anstoß der Prüderie für die ganze europäische Frauenwelt zu geben drohen und dadurch ein verschwommener, weichlicher, seelenkokettierender Geschmack sich gebildet hat, den der Herausgeber vor einiger Zeit im „Deutschen Museum“ als die Romantik des Lovely bezeichnete.

Die englische Prüderie stammt von den Puritanern. Noch Königin Elisabeth war nicht im mindesten prüde. Aber bald mehrte sich die Herrschaft einer dumpfen Welt- und Lebensauffassung. Die Bühne wurde verpönt. Geistliche gaben den Ton des Hofes und der hohern Gesellschaft an. Immer enger schnürte sich die Brust mit der Herrschaft der spätem französischen Mode auch in geistigen Dingen zusammen. Die Bühne verspottete wohl die Prüderie in vielen Luftspielen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts; Lady Malaprop in Sheridans „Nebenbuhlern“ ist eine Figur, die sich fast in allen Komödien jener Zeit wiederfindet (in dem Stücke „The country wife“ — die Frau vom Lande — aus dem Jahre 1784, macht eine Lady ihrem Manne den Vorwurf, wie er so unanständige Ausdrücke, als „nackte Tatsachen“ und dergleichen gebrauchen könne), und dennoch gab sich immer mehr selbst bei großen Geistern, wie z. B. Gibbon, das Bestreben kund, die Natürlichkeit zu verschleiern. Eine üble Folge dieser zu weit getriebenen Delikatesse ist der Verlust einer Menge von bezeichnenden Worten für den laufenden Sprachgebrauch. In diesem Augenblicke ist die Prüderie in England auf dem höchsten Gipfel. Die Herrschaft einer Königin, die fast abgöttisch mit der hohen Gemahlin des Prinzen Albert getriebene Verehrung trägt nicht wenig dazu bei, die Gesetze des englischen Geschmacks und Lebenstaktes bis zum leersten Formalismus zu ätherisieren. Die englischen Gedichte sind schon gelispelte Wohllautsspiele nur noch zwischen den Begriffen von Blumen, Sternen, Herz, Auge, Seele usw. Die Romane schließen Alles aus, was sich nicht innerhalb des Familienlebens abspinnt. In der Gesellschaft lacht man nicht, man lächelt nur; man spricht nicht, man flüstert nur; man tanzt, aber mit Auswahl der Tänze; einen Walzer gestattet man einem Mädchen nur mit ihrem Bruder. Man spricht von Liebe, aber nicht von Hochzeit. Die zarte Sitte korrigiert von Morgens bis Abends an den natürlichsten Äußerungen des Menschen und die Schamhaftigkeit ist in dem Grade zur Regel aller Gedankenäußerungen gemacht, dass die Unschuld entweder gefährlich zu grübeln beginnt und ihre Unbefangenheit verliert, oder aus Furcht vor schlimmen Gedanken eine wahre Furcht bekommt vor allen Gedanken.

Hat die Delicacy sich einen Meilenzeiger errichtet, dessen Hände somit nach Himmel und Erde zugleich deuten, so atmet man etwas leichter auf, wenn man der zweiten schroffen Sittenklippe der Engländer, der Fashion, sich nähert. Woher die Fashion den Engländern zugekommen, ist nicht zu sagen. Der Normanne hat sie nicht mitgebracht; denn Mode ist nicht Fashion. Fashion müsste denn vielleicht Façon sein. Fashion kann man wahrlich einen mächtigen Götzen und Fetisch nennen. Fashion steht schon an der Wiege bei Kindes, wenn es eben geboren ist. Fashion regiert in der Kinderstube, Fashion bestimmt die künftige Laufbahn und lehrt die Kinder in der Religion und Politik — diesen beiden Achsen des englischen Lebens — denjenigen Weg einschlagen, der der Ehre ihres Namens entsprechend ist. Ein Mann von Stande muss der Hochkirche angehören. Glaube, Überzeugung, was ist das Alles! Es ist fashionabel, zur anglikanischen Kirche sich in ordnungsmäßiger Observanz zu halten — Verdienst, Ehre, das Gold beider Indien, nichts kann locken, nichts bestimmen, was bei diesem oder jenem Sohne eines gemachten Mannes fashionabel ist. Wer mit dem Bewusstsein, fashionabel zu sein, in ein Gemach tritt, welche Würde leiht er seiner Haltung, welche Grazie seinen Bewegungen! Jedes Wort, das seiner Lippe entschlüpft, fällt wie geläutertes Gold unter die unwürdige Menschheit, die mit eifrigem Ohre lauscht und die Ersten gewesen zu sein sich rühmt, die mit dem Helden des Tages in einem günstigen Momente in Berührung kamen. Als Lord Byron, ein junger Mann in London, seine ersten Gesellschafts- und Dichterdebuts machte, war es sein Glück, dass er fashionabel auftrat. Nichts glich dem Drängen und Haschen, ihn kennen zu lernen und ihn zu seinen Festen zu laden. Freilich wie schnell wird ein solcher allbewunderter Held des Tages auch wieder vergessen! Eine Abwesenheit während einer Saison, eine Krankheit, irgend ein Hindernis, in gewohnter Weise vor dem Publikum zu erscheinen, macht ihn vergessen. In London in der Mode zu sein ist every thing, und nicht in der Mode sein heißt unbekannt und unerkannt im Schatten seiner eigenen Verdienste ruhen.

Endlich — Respectability! Ob wir dafür Achtbarkeit setzen dürfen? Nein! Die Respektabilität hängt in England eng mit der öffentlichen Meinung zusammen. Sie bestimmt nicht das spezifisch moralische Gewicht des Menschen, sondern nur das relative des Bürgers. Ein individueller Geschmack, ein selbständiges Urteil darf sich nicht geltend machen, wenn es die Würdigung eines respektabeln Mannes gilt. Vereinzelt dazustehen, mit seiner Denkweise gegen den Strom zu schwimmen, das ist höchst unrespektabel und wäre man ein zweiter Sokrates oder Cato von Utica. Respektabel sein heißt die Berechtigung der Gesellschaft achten und in der Überzeugung, nur ein Glied des Körpers zu sein, sich dem Allgemeinen, wenigstens einer Partei unterzuordnen. Wie man sich schon dem Staate gegenüber mit Pietät den Gesetzen unterwirft, so fügt man sich auch, angesichts der Gesellschaft, der Respektabilität eines Gegners. Mit dieser Geringschätzung der Vereinzelung könnte man sich schon befreunden. Aber das Gefolge der Respektabilität! Man muss als respektabler Mann sich allen Gewohnheiten des Landes unterwerfen, muss seine Diener Morgens in sein Frühstückszimmer kommen lassen, um ihnen ein Morgengebet vorzulesen, das sie — hoffentlich — gegen die Versuchung des Begehrens, was eben der Herrschaft aufgetragen wird, unempfindlich macht. Am Sonntage geht der Respektable mit Frau und Kindern, in ihren besten Kleidern, in die Kirche, wo sie eine Predigt erbaut; der Respektable wandert Sonntags zu Fuße durch Regents-Park, während seine Rosse, wenn er deren hat, daheim in Sonntagsruhe ihren Hafer fressen. Vor jedem Hause befindet sich der ganzen Länge nach ein Balkon, ein kühles Plätzchen sollte man meinen in der beengenden Atmosphäre einer Stadt, die der Atem von einer Million Sterblicher durchzieht. Nein! Die Respektabilität hat längst geboten, nie und unter keiner Bedingung hinauszutreten auf dies freie Plätzchen des Balkons, um von da den Blick über Himmel und Erde schweifen zu lassen. Kein Ausruhen von dem vis-à-vis der grauen Mauern gegenüber! Ein Haus in England ist einem Gefängnis gleich. Wollte irgend ein schönes Kopfchen sich aus dem Fenster wagen, ein wenig trällern, ein wenig lachen, so riefe die Respektabilität sogleich ihr gebieterisches: „Zurück!“ und die Verwegene dürfte für ihr ganzes Leben nicht ungestraft dieser Mahnung Trotz geboten haben.

Die Respektabilität fordert allerlei Dinge in Betreff der Dienerschaft und geht mit der Zahl derselben, deren Alter, deren Wuchs Hand in Hand. Das Kleinste auf dieser Stufe ist ein Tiger — ein Knäbchen in enger Jacke mit blanken Knöpfen, der die Tür des Hauses öffnet. Die Köchin holt ein Pfund Reis von dem nächsten Gewürzkrämer. „Wie viel Leute hält Ihr Herr?“ fragt der Gewürzkrämer. „Ich bin maid of all work.“ Hm! brummt der Mann und bedient sie künftig mit der gleichgültigsten Miene. Der Tiger trägt am Sonntage das Gebetbuch der Dame auf dem Wege zur Kirche ihr nach, ein Anblick, der stets erbaulich auf die Vorübergehenden wirkt. Es sieht dies ganz besonders respektabel aus. Der nächste Schritt auf dieser Leiter ist dann ein Gig, ein Einspänner, wodurch man des fatalen Gebrauchs eines Mietwagens überhoben wird. Wer indessen so unglücklich ist, kein eigenes Pferd halten zu können, der lässt wenigstens seinen Tiger neben dem Kutscher Platz nehmen, damit der Vorübergehende doch gewahre, dass man trotz des gemeinen Gebrauchs eines Fiakers eine gewisse Stellung in der Welt hat. Ein respektabler Mann kann auch Schulden machen; es ist sogar gewöhnlich und sehr unrespektabel, keine Rechnungen zu haben; unrespektabel, in einen Laden mit einer vollen Börse zu gehen und von dem Kaufmanne drei Prozent auf der Rechnung gestrichen zu finden, weil man bar bezahlt hatte. „Wenn mich der Mensch nicht wenigstens noch ein Dutzend mal gemahnt hat, bezahl' ich ihm die zweihundert Pfund nicht, die ich ihm für Zigarren schulde“, spricht ein junger Lord, der mit einundzwanzig Jahren in Besitz seiner unverschuldeten großen Güter getreten ist. Ein reicher Mann muss tun, als wenn ihn sein Kredit nicht im mindesten beunruhige. Und das Schlimmste an der Respektabilität ist, dass kein Handwerker gute Arbeit liefert, sobald die Person, die sie gefordert, nicht respektabel ist; ob sie gut zahlt, macht ihm keinen Unterschied. Ich arbeite für Milady So und So, sagt der Schuhmacher mit Stolz und misst herablassend den Fuß einer Bürgerin. Die Damenschneiderin wirft einen Blick durchs Fenster, und ist ihre neue eintretende Klientin zu Fuß gekommen, so entfernt sie sich und schickt eine Arbeiterin statt ihrer, um dem neuen Kunden zuzumessen. Will die Frau eines armen Poeten ein neues Kleid anständig gemacht haben, um unter ihres Gatten hohen Beschützern damit zu erscheinen, so borgt sie den Wagen einer ihr oder ihrem Manne freundlich gesinnten Milady und fährt damit bei einer Schneiderin vor. So erst wird sie nach Wunsch bedient werden.

Man sagt vielleicht: Das ist die Herrschaft des Geldes! Es ist nicht das Geld allein, das hier so entscheidende Wirkungen hervorbringt. Es ist die Sitte, die Überlieferung, das Konventionelle, das Vorurteil und der Anstand. Richtiger wäre vielleicht zu sagen: Das ist die Herrschaft des Kredits! Und in der Tat, alle diese schönen Dinge über Delicacy, Fashion und Respectability schreiben sich aus den Zeiten her, wo die Engländer anfingen ein handeltreibendes Volk zu werden und sie gewissermaßen die Erbschaft der Spanier überkamen, die in den Zeiten, als der damals bekannte Welthandel diesen allein gehörte, gleichfalls ähnliche pedantische Casuisten des Kredits und stolze Petitmaitres der Ehre waren, wie Jedem bekannt sein wird, der seinen Calderon oder Lope de Vega noch nicht vergessen hat.