Allgemeine Bemerkungen über Altertum, Mittelalter, neuere Zeit
Wenn man unbefangen die Geschichte des Reformationszeitalters betrachtet, muss man wohl bald von der Ansicht zurückkommen, als sei die Intention desselben bloß gewesen, die Dogmen, welche später die protestantische Kirchenlehre ausgemacht haben, hervorzurufen. Die Intention jener Epoche, mag sie bewusst oder unbewusst gewesen sein, ging auf etwas viel Allgemeineres, Großartigeres hinaus. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sie dahin angebe, dass sie eine Vermittlung der antiken und der mittelalterlichen Weltanschauung erstrebte: denn unter diese allgemeine Tendenz lassen sich die verschiedenartigen Bestrebungen jener Zeit, die, wiewohl aus Einem Prinzipe entsprungen, doch öfters feindlich sich gegenüberstehen, sich durchkreuzen, selbst bekämpfen, am Besten vereinigen. Und es lässt sich dann auch die spätere Entwicklung, nach der Reformation, begreifen, ja, ich glaube, besonders auch unsere Gegenwart. Denn jenes Bestreben einer Vermittlung der antiken und mittelalterlichen Weltanschauung ist überhaupt das der neueren Zeit: noch ist sie in der Lösung dieser Aufgabe begriffen. Die Reformation und die ihr vorangehende Zeit hatte einen großen Anfang dazu gemacht: es gelang ihr aber noch nicht vollkommen durchzudringen. Es erfolgten Reaktionen, die freilich nur dazu dienten, die Menschheit weiter vorzudrängen; denn als im vorigen Jahrhundert die Bestrebungen der Reformationsepoche wieder aufgenommen wurden, da waren sie schon um mehrere Stufen höher gestiegen. —
Was versteht man denn aber unter der antiken, was unter der mittelalterlichen Weltanschauung? und worin soll die Vermittlung beider bestehen?
Das Wesen des Altertums *), mit kurzen Worten, setze ich in das Vorherrschen der Naturgewalt, mag diese nun als eine äußere Notwendigkeit oder als ein in uns selbst liegendes Element betrachtet werden. Und das Wesen des Mittelalters ist eine Entfremdung von der Natur, eine Opposition gegen dieselbe.
*) Was ich hier vom Altertum sage, geht nur auf Griechen und Römer.
Die Präpotenz der Natur zeigt sich nun in doppelter Weise. Einmal fühlt sich ihr der Mensch verschwistert: er sieht in ihr seine Gefährtin, seine Freundin, er betrachtet sie mit heiterem Auge, und wird freundlich von ihr berührt. Ein heiteres Wesen ist daher über alle diejenigen Sphären menschlicher Tätigkeit ausgegossen, welche eine nähere Berührung mit der Natur verlangen. Darum brachte es die alte Welt in manchen Gebieten des Geistes zu einer so hohen Stufe der Vollkommenheit: in allen denen nämlich, welche nur durch den innigsten Bund mit der Natur gedeihen, sich vollenden können. So in Kunst, Poesie, Literatur.
Dann aber fühlt sich der Mensch auch der Naturgewalt unterworfen: er fühlt sein Nichts den höheren natürlichen Mächten, der Notwendigkeit gegenüber: und nirgends tritt dieses Gefühl deutlicher hervor als in der Lehre der Alten vom Schicksal. Oder er fühlt sich von den natürlichen Elementen in seinem Innern, von den Leidenschaften, guten oder schlechten, auf eine unwiderstehliche Weise fortgezogen: ein Gott ist es, nach der Fabel, der sie in ihm erregt, und darum kann er nicht Widerstand leisten. Die alte Welt handelt nicht nach Prinzipien, sondern nach natürlichen Motiven. Der Mensch kann gut und edel handeln: aber er handelt nicht nach einem höheren Sittengesetze, sondern nach natürlichen Gefühlen und Empfindungen oder nach einem unmittelbaren Drange seines ganzen Wesens, seiner Individualität.
Mit dieser natürlichen Richtung in Verbindung stehen denn noch andere, wichtige Verhältnisse des Altertums.
Erstens der schroffe Patriotismus, welcher sich nicht zu der Idee der Menschheit erheben konnte, weil die alte Welt, nur die natürlichen Bande anerkannte, welche gleiche Sprache, Abstammung, Sitten hervorbringen.
Zweitens das Hervorheben des Staats, als des Repräsentanten des Äußerlichen, Natürlichen, vor der Kirche, dem Repräsentanten der Religion, des Innerlichen, Geistigen. Die Kirche ist dem Staate untergeordnet, ja sie erscheint als dessen Dienerin.
Drittens die Unterordnung des Individuums mit seinem Einzelwillen unter den Staat, die äußere Macht. Der Staat ist Alles, das Individuum geht im Staate auf, so wie alle einzelnen Kräfte, alle Tätigkeiten. —
Halten wir nun diesem das Mittelalter gegenüber, so ist in Allem und jedem der größte Gegensatz.
Während im Altertum der große Einfluss der Naturgewalt, weist das Mittelalter diesen nicht nur zurück, sondern setzt sich zur Natur geradezu in Opposition. Die Theorie des Mittelalters verlangt nicht nur die Unterdrückung der bösen sinnlichen Regungen in uns, sondern es hält das natürliche Element und die Außenwelt überhaupt für etwas Böses und Feindliches, das man fliehen, bekämpfen müsse, und setzt an die Stelle der natürlichen Motive unserer Handlungen ein höheres Prinzip, das außer uns liegt.
Das Mittelalter aber sah in Natur und Welt, eben darum, weil sie vom Teufel ausging, nicht das Unvermeidliche, Unüberwindliche, sondern es traute dem Menschen oder dem geistigen Elemente desselben, was das überwiegende sein sollte, Kräfte genug zu, um sie zu besiegen. Daher die Menge von Wundern, welche die Heiligen vollbringen. Die Kraft ihres Geistes und ihres Glaubens ist stark genug, selbst die äußere Natur zu bezwingen. Wie im strengsten Gegensätze gegen das Altertum, welches die unvermeidliche Unterordnung des Menschen unter die eherne Gewalt des Schicksals lehrte!
Daher denn auch die eigentümliche Frömmigkeit des Mittelalters, welche vorzugsweise in Askese bestand. Als das sündige Element im Menschen erkannte man das natürliche: Kasteiung des Körpers, Niederdrückung der Sinnlichkeit, Zurückzieht! von der Welt ist darum schon Frömmigkeit. Daher die äußeren Bußen, die den Sündern auferlegt wurden. Daher die große Heiligkeit, die dem Mönchsstande beigelegt ward, daher die Verdienstlichkeit des Zölibats, und dessen Einführung bei den Priestern.
Bei dieser feindlichen Stellung, in welche sich das Mittelalter zu der Natur setzte, war zu erwarten, dass auch die Kunst und Poesie versinken musste, überhaupt alle diejenigen Tätigkeiten, welche irgend eine freundliche Beziehung zu der Natur, eine Beobachtung derselben verlangten, deren Wesen zugleich auch in äußerer Gestaltung, in Formen bestand. Das Schöne, Heitere, Klare, Gefällige, was uns aus den Denkmalen des Geistes der alten Welt entgegenweht, wird im Mittelalter verdrängt durch einen finstern, düstern, unheimlichen Charakter.
Es zeigt sich dies namentlich auch in der Literatur. Die antike Wissenschaft ist besonders wegen der Schönheit, Klarheit, Einfachheit und Natürlichkeit der Darstellung ausgezeichnet. Die mittelalterliche Wissenschaft verzichtet auf diese Vorzüge. Der Scholastizismus, jene Form, in dem sie vorzüglich erscheint, setzt gerade die Schönheit der Darstellung hinten an: er gefällt sich in einer dunklen, unklaren, schwülstigen, ja wohl auch unverständlichen Sprache. —
Dagegen wird im Mittelalter die innere Welt des Gemütes eröffnet: das Gefühl gelangt zu einer Überschwänglichkeit, von welcher das Altertum gar keine Ahnung hatte.
Es ist besonders eine tiefe religiöse Empfindung, welche die mittleren Zeiten charakterisiert: und diese ist denn, so zu sagen, das positive Element des Mittelalters, wie die feindliche Stellung gegen Welt und Natur das negative. Auf zwei Stufen aber erscheint diese religiöse Empfindung.
Auf der einen, niedrigeren, Stufe vermag sich das Gefühl noch nicht zur reinen Anschauung des göttlichen Wesens, zur rechten Auffassung des Sittengesetzes zu erheben. Es verlangt ein Bild, ein Symbol: etwas, was es greifen und fassen kann, wodurch es der Gottheit näher zu kommen glaubt, an dem es unmittelbar seine fromme Empfindung ausdrücken kann. Daher die vielen Heiligen, die als Mittler zwischen Gott und dem Menschen erscheinen, daher die vielen Zeremonien, und äußeren Gebräuche, die Verehrung von Bildern, von Reliquien, überhaupt der reiche Kultus im Mittelalter. Man darf nicht unbillig gegen ihn sein. Wie er das Erzeugnis war eines religiösen Bedürfnisses, so wirkte er auch wieder zur Erweckung religiöser Empfindung. Ursprünglich verhalten sich der äußere Kultus und die religiöse Empfindung gegenseitig wie Ursache und Wirkung.
Auf der zweiten, höheren, Stufe der religiösen Empfindung begnügt sich der Mensch nicht mit der äußerlichen Gottesverehrung, sondern strebt nach einer Erkenntnis seiner selbst, seiner Neigungen und Leidenschaften: er sucht diese zu vertilgen, und zwar dadurch, dass er sich in die Kontemplation des göttlichen Wesens versenkt, mit dem er eins zu werden strebt. Das Aufgehen des Menschen in Gott ist das höchste Ziel dieser religiösen Empfindung: ein Zustand, in welchem das ganze Wesen des Menschen von dem göttlichen Geiste gleichsam durchzogen ist. Das ist der Mystizismus des Mittelalters. — Und aus diesen Eigentümlichkeiten ergeben sich denn wieder drei wichtige Verhältnisse, die zu den oben erwähnten des Altertums einen schneidenden Gegensatz bilden.
Das Individuum, nicht mehr den Eindrücken der Außenwelt rücksichtslos hingeben, sondern selbstbewusster geworden und selbstständiger, erkennt nun auch den Staat, die äußere Macht, nicht mehr als diejenige an, in welcher seine Persönlichkeit aufgehen müsse. Mit Unabhängigkeitsgefühl tritt es ihm entgegen: es verlangt von ihm eher Unterordnung, als dass es sie gewähre. Der Staat hört auf, eine Idee, eine moralische Person zu sein: er verliert die Einheit, die ihn im Altertum so groß gemacht: das Lehenwesen, die mittelalterliche Form des Staats, ist eigentlich nichts weiter, als eine lose Zusammensetzung von verschiedenen Privatverhältnissen.
Die Stellung des Staates im Altertum nimmt dagegen jetzt die Kirche ein, die äußere Form des tiefen religiösen Bewusstseins, welches die Menschheit im Mittelalter charakterisiert. Und so wie im Altertum alle Tätigkeiten und Bestrebungen im Staate aufgingen oder von demselben beherrscht wurden, so war dies im Mittelalter mit der Kirche der Fall. Weit entfernt daher, dem Staate unterworfen zu sein oder zu dienen, tritt sie ihm vielmehr feindlich gegenüber, um ihn zu überwinden, zu beherrschen.
Aber die Religion des Mittelalters, die christliche, war wesentlich von denen des Altertums verschieden. Waren diese unmittelbar aus dem nationalen Bewusstsein der einzelnen Völker entsprungen, und nur auf dieses wieder berechnet, so hatte das Christentum einen universellen Charakter, der es dazu befähigte, eine Weltreligion zu werden. Auch die Kirche ist darum nicht in die engen Grenzen der Nationen eingeschlossen, sondern sie strebt die allgemeine der Menschheit zu werden. Und da in der Kirche alle Tätigkeiten und Bestrebungen aufgingen, so war natürlich, dass nun die Nationalitäten samt dem schroffen Patriotismus zurücktraten, und dass dessen Stelle eine kosmopolitische Richtung, die der Kirche, einnahm. —
Übersehen wir nun die charakteristischen Punkte, wodurch sich Altertum und Mittelalter von einander unterscheiden, so finden wir: es sind die größten Gegensätze. Ausschließlicher Einfluss der Natur und gänzliche Negierung derselben: Heiterkeit, Klarheit, Schönheit in allen Sphären menschlichen Daseins und düsterer unheimlicher Ernst: Vorherrschen der nach Außen gerichteten Tätigkeiten und Überschwänglichkeit der Empfindung: ein schroffer Patriotismus dort, hier Kosmopolitismus: Allgewalt des Staates dort, hier der Kirche: dort Unterordnung des Individuums unter den Staat, hier Unterordnung des Staates unter das Individuum.
Die neuere Zeit hatte nun die Aufgabe, diese Gegensätze zu vermitteln, die Natur in das rechte Verhältnis zum geistigen Elemente in uns zusetzen, und das rechte gegenseitige Verhältnis zwischen Staat, Kirche und Individuum zu erschaffen.
Sie nimmt daher beide Elemente, das antike, wie das mittelalterliche in sich auf, um sie nach und nach zu einer höheren Einheit zu verschmelzen. Beide treten oft genug gegen einander in den Kampf, und auch heut zu Tage sind die Gegensätze noch nicht vollkommen ausgeglichen: aber die Hauptrichtung der neueren Zeit intendierte immer eine höhere Vermittlung dieser zwei Elemente.
Die neuere Richtung betrachtet die Natur nicht als das böse, feindliche Element, wie das Mittelalter, aber auch nicht als das unwiderstehliche, alles beherrschende, wie das Altertum.
Sie fasst vom Altertum die schöneren Verhältnisse auf, in welchen die damalige Menschheit zur Natur gestanden, namentlich die künstlerische, poetische, literarische Richtung, vom Mittelalter hingegen das mystische Element, jenes Einkehren des Menschen in sich selbst, das Erheben zu der Beschauung des göttlichen Wesens, das Bestreben, sein ganzes Sein und Thun in die innigste Beziehung zu Gott zu setzen.
Sie sieht daher die Frömmigkeit nicht in dem Fliehen der Welt, in der Unterdrückung des natürlichen Elementes, so wenig wie sie übrigens die schrankenlose Hingebung unter dasselbe billigen will, auch nicht in der Beobachtung äußerer Gebräuche und Zeremonien: sondern in der ganzen Gesinnung des Menschen.
Sie sucht dem Individuum seine Freiheit zu garantieren, der Allgewalt des Staates sowohl, wie der der Kirche gegenüber: ohne jedoch eine Anarchie zu beabsichtigen.
Im Gegenteil: dem Staat verhilft sie wieder zu der Einheit, die er im Mittelalter verloren, und wodurch er in Anarchie versunken war: sie macht ihn wieder zu einer Idee, zu einer moralischen Person, ohne ihm jedoch die Selbstständigkeit des Individuums zu opfern. Vielmehr macht sie die persönliche Freiheit des Individuums erst allgemein.
Der Kirche nimmt sie die unumschränkte Gewalt, die sie über die Gewissen ausgeübt: aber sie unterwirft sie darum nicht dem Staate als dessen Dienerin, wie dies im Altertume der Fall gewesen. Vielmehr soll sie eine möglichst freie und allgemeine Form des religiösen Bewusstseins werden, ohne die Freiheit desselben irgendwie zu beeinträchtigen.
Sie ruft endlich die Nationalitäten wieder hervor mit dem Patriotismus, aber ohne diesen zu der Schroffheit des Altertums auszubilden, sondern sie verklärt und vergeistigt ihn durch die Idee der Menschheit. —
Es ist unstreitig eine der interessantesten Aufgaben, der Entwicklung dieser neuen Richtung in den verschiedenen angegebenen Beziehungen zu folgen, aber sie ist auch eine der schwersten. Ich habe mir vorgenommen, nicht etwa diese ganze Entwicklung, sondern nur einen Teil derselben darzustellen: nämlich die religiöse und literarische Seite der neuen Richtung, und zwar nur in Beziehung auf Deutschland. Doch scheint es mir, selbst zur Lösung dieser spezielleren Aufgabe, nötig zu sein, zuerst eine kurze Übersicht der allgemeinen Entwicklung zu geben.
Was versteht man denn aber unter der antiken, was unter der mittelalterlichen Weltanschauung? und worin soll die Vermittlung beider bestehen?
Das Wesen des Altertums *), mit kurzen Worten, setze ich in das Vorherrschen der Naturgewalt, mag diese nun als eine äußere Notwendigkeit oder als ein in uns selbst liegendes Element betrachtet werden. Und das Wesen des Mittelalters ist eine Entfremdung von der Natur, eine Opposition gegen dieselbe.
*) Was ich hier vom Altertum sage, geht nur auf Griechen und Römer.
Die Präpotenz der Natur zeigt sich nun in doppelter Weise. Einmal fühlt sich ihr der Mensch verschwistert: er sieht in ihr seine Gefährtin, seine Freundin, er betrachtet sie mit heiterem Auge, und wird freundlich von ihr berührt. Ein heiteres Wesen ist daher über alle diejenigen Sphären menschlicher Tätigkeit ausgegossen, welche eine nähere Berührung mit der Natur verlangen. Darum brachte es die alte Welt in manchen Gebieten des Geistes zu einer so hohen Stufe der Vollkommenheit: in allen denen nämlich, welche nur durch den innigsten Bund mit der Natur gedeihen, sich vollenden können. So in Kunst, Poesie, Literatur.
Dann aber fühlt sich der Mensch auch der Naturgewalt unterworfen: er fühlt sein Nichts den höheren natürlichen Mächten, der Notwendigkeit gegenüber: und nirgends tritt dieses Gefühl deutlicher hervor als in der Lehre der Alten vom Schicksal. Oder er fühlt sich von den natürlichen Elementen in seinem Innern, von den Leidenschaften, guten oder schlechten, auf eine unwiderstehliche Weise fortgezogen: ein Gott ist es, nach der Fabel, der sie in ihm erregt, und darum kann er nicht Widerstand leisten. Die alte Welt handelt nicht nach Prinzipien, sondern nach natürlichen Motiven. Der Mensch kann gut und edel handeln: aber er handelt nicht nach einem höheren Sittengesetze, sondern nach natürlichen Gefühlen und Empfindungen oder nach einem unmittelbaren Drange seines ganzen Wesens, seiner Individualität.
Mit dieser natürlichen Richtung in Verbindung stehen denn noch andere, wichtige Verhältnisse des Altertums.
Erstens der schroffe Patriotismus, welcher sich nicht zu der Idee der Menschheit erheben konnte, weil die alte Welt, nur die natürlichen Bande anerkannte, welche gleiche Sprache, Abstammung, Sitten hervorbringen.
Zweitens das Hervorheben des Staats, als des Repräsentanten des Äußerlichen, Natürlichen, vor der Kirche, dem Repräsentanten der Religion, des Innerlichen, Geistigen. Die Kirche ist dem Staate untergeordnet, ja sie erscheint als dessen Dienerin.
Drittens die Unterordnung des Individuums mit seinem Einzelwillen unter den Staat, die äußere Macht. Der Staat ist Alles, das Individuum geht im Staate auf, so wie alle einzelnen Kräfte, alle Tätigkeiten. —
Halten wir nun diesem das Mittelalter gegenüber, so ist in Allem und jedem der größte Gegensatz.
Während im Altertum der große Einfluss der Naturgewalt, weist das Mittelalter diesen nicht nur zurück, sondern setzt sich zur Natur geradezu in Opposition. Die Theorie des Mittelalters verlangt nicht nur die Unterdrückung der bösen sinnlichen Regungen in uns, sondern es hält das natürliche Element und die Außenwelt überhaupt für etwas Böses und Feindliches, das man fliehen, bekämpfen müsse, und setzt an die Stelle der natürlichen Motive unserer Handlungen ein höheres Prinzip, das außer uns liegt.
Das Mittelalter aber sah in Natur und Welt, eben darum, weil sie vom Teufel ausging, nicht das Unvermeidliche, Unüberwindliche, sondern es traute dem Menschen oder dem geistigen Elemente desselben, was das überwiegende sein sollte, Kräfte genug zu, um sie zu besiegen. Daher die Menge von Wundern, welche die Heiligen vollbringen. Die Kraft ihres Geistes und ihres Glaubens ist stark genug, selbst die äußere Natur zu bezwingen. Wie im strengsten Gegensätze gegen das Altertum, welches die unvermeidliche Unterordnung des Menschen unter die eherne Gewalt des Schicksals lehrte!
Daher denn auch die eigentümliche Frömmigkeit des Mittelalters, welche vorzugsweise in Askese bestand. Als das sündige Element im Menschen erkannte man das natürliche: Kasteiung des Körpers, Niederdrückung der Sinnlichkeit, Zurückzieht! von der Welt ist darum schon Frömmigkeit. Daher die äußeren Bußen, die den Sündern auferlegt wurden. Daher die große Heiligkeit, die dem Mönchsstande beigelegt ward, daher die Verdienstlichkeit des Zölibats, und dessen Einführung bei den Priestern.
Bei dieser feindlichen Stellung, in welche sich das Mittelalter zu der Natur setzte, war zu erwarten, dass auch die Kunst und Poesie versinken musste, überhaupt alle diejenigen Tätigkeiten, welche irgend eine freundliche Beziehung zu der Natur, eine Beobachtung derselben verlangten, deren Wesen zugleich auch in äußerer Gestaltung, in Formen bestand. Das Schöne, Heitere, Klare, Gefällige, was uns aus den Denkmalen des Geistes der alten Welt entgegenweht, wird im Mittelalter verdrängt durch einen finstern, düstern, unheimlichen Charakter.
Es zeigt sich dies namentlich auch in der Literatur. Die antike Wissenschaft ist besonders wegen der Schönheit, Klarheit, Einfachheit und Natürlichkeit der Darstellung ausgezeichnet. Die mittelalterliche Wissenschaft verzichtet auf diese Vorzüge. Der Scholastizismus, jene Form, in dem sie vorzüglich erscheint, setzt gerade die Schönheit der Darstellung hinten an: er gefällt sich in einer dunklen, unklaren, schwülstigen, ja wohl auch unverständlichen Sprache. —
Dagegen wird im Mittelalter die innere Welt des Gemütes eröffnet: das Gefühl gelangt zu einer Überschwänglichkeit, von welcher das Altertum gar keine Ahnung hatte.
Es ist besonders eine tiefe religiöse Empfindung, welche die mittleren Zeiten charakterisiert: und diese ist denn, so zu sagen, das positive Element des Mittelalters, wie die feindliche Stellung gegen Welt und Natur das negative. Auf zwei Stufen aber erscheint diese religiöse Empfindung.
Auf der einen, niedrigeren, Stufe vermag sich das Gefühl noch nicht zur reinen Anschauung des göttlichen Wesens, zur rechten Auffassung des Sittengesetzes zu erheben. Es verlangt ein Bild, ein Symbol: etwas, was es greifen und fassen kann, wodurch es der Gottheit näher zu kommen glaubt, an dem es unmittelbar seine fromme Empfindung ausdrücken kann. Daher die vielen Heiligen, die als Mittler zwischen Gott und dem Menschen erscheinen, daher die vielen Zeremonien, und äußeren Gebräuche, die Verehrung von Bildern, von Reliquien, überhaupt der reiche Kultus im Mittelalter. Man darf nicht unbillig gegen ihn sein. Wie er das Erzeugnis war eines religiösen Bedürfnisses, so wirkte er auch wieder zur Erweckung religiöser Empfindung. Ursprünglich verhalten sich der äußere Kultus und die religiöse Empfindung gegenseitig wie Ursache und Wirkung.
Auf der zweiten, höheren, Stufe der religiösen Empfindung begnügt sich der Mensch nicht mit der äußerlichen Gottesverehrung, sondern strebt nach einer Erkenntnis seiner selbst, seiner Neigungen und Leidenschaften: er sucht diese zu vertilgen, und zwar dadurch, dass er sich in die Kontemplation des göttlichen Wesens versenkt, mit dem er eins zu werden strebt. Das Aufgehen des Menschen in Gott ist das höchste Ziel dieser religiösen Empfindung: ein Zustand, in welchem das ganze Wesen des Menschen von dem göttlichen Geiste gleichsam durchzogen ist. Das ist der Mystizismus des Mittelalters. — Und aus diesen Eigentümlichkeiten ergeben sich denn wieder drei wichtige Verhältnisse, die zu den oben erwähnten des Altertums einen schneidenden Gegensatz bilden.
Das Individuum, nicht mehr den Eindrücken der Außenwelt rücksichtslos hingeben, sondern selbstbewusster geworden und selbstständiger, erkennt nun auch den Staat, die äußere Macht, nicht mehr als diejenige an, in welcher seine Persönlichkeit aufgehen müsse. Mit Unabhängigkeitsgefühl tritt es ihm entgegen: es verlangt von ihm eher Unterordnung, als dass es sie gewähre. Der Staat hört auf, eine Idee, eine moralische Person zu sein: er verliert die Einheit, die ihn im Altertum so groß gemacht: das Lehenwesen, die mittelalterliche Form des Staats, ist eigentlich nichts weiter, als eine lose Zusammensetzung von verschiedenen Privatverhältnissen.
Die Stellung des Staates im Altertum nimmt dagegen jetzt die Kirche ein, die äußere Form des tiefen religiösen Bewusstseins, welches die Menschheit im Mittelalter charakterisiert. Und so wie im Altertum alle Tätigkeiten und Bestrebungen im Staate aufgingen oder von demselben beherrscht wurden, so war dies im Mittelalter mit der Kirche der Fall. Weit entfernt daher, dem Staate unterworfen zu sein oder zu dienen, tritt sie ihm vielmehr feindlich gegenüber, um ihn zu überwinden, zu beherrschen.
Aber die Religion des Mittelalters, die christliche, war wesentlich von denen des Altertums verschieden. Waren diese unmittelbar aus dem nationalen Bewusstsein der einzelnen Völker entsprungen, und nur auf dieses wieder berechnet, so hatte das Christentum einen universellen Charakter, der es dazu befähigte, eine Weltreligion zu werden. Auch die Kirche ist darum nicht in die engen Grenzen der Nationen eingeschlossen, sondern sie strebt die allgemeine der Menschheit zu werden. Und da in der Kirche alle Tätigkeiten und Bestrebungen aufgingen, so war natürlich, dass nun die Nationalitäten samt dem schroffen Patriotismus zurücktraten, und dass dessen Stelle eine kosmopolitische Richtung, die der Kirche, einnahm. —
Übersehen wir nun die charakteristischen Punkte, wodurch sich Altertum und Mittelalter von einander unterscheiden, so finden wir: es sind die größten Gegensätze. Ausschließlicher Einfluss der Natur und gänzliche Negierung derselben: Heiterkeit, Klarheit, Schönheit in allen Sphären menschlichen Daseins und düsterer unheimlicher Ernst: Vorherrschen der nach Außen gerichteten Tätigkeiten und Überschwänglichkeit der Empfindung: ein schroffer Patriotismus dort, hier Kosmopolitismus: Allgewalt des Staates dort, hier der Kirche: dort Unterordnung des Individuums unter den Staat, hier Unterordnung des Staates unter das Individuum.
Die neuere Zeit hatte nun die Aufgabe, diese Gegensätze zu vermitteln, die Natur in das rechte Verhältnis zum geistigen Elemente in uns zusetzen, und das rechte gegenseitige Verhältnis zwischen Staat, Kirche und Individuum zu erschaffen.
Sie nimmt daher beide Elemente, das antike, wie das mittelalterliche in sich auf, um sie nach und nach zu einer höheren Einheit zu verschmelzen. Beide treten oft genug gegen einander in den Kampf, und auch heut zu Tage sind die Gegensätze noch nicht vollkommen ausgeglichen: aber die Hauptrichtung der neueren Zeit intendierte immer eine höhere Vermittlung dieser zwei Elemente.
Die neuere Richtung betrachtet die Natur nicht als das böse, feindliche Element, wie das Mittelalter, aber auch nicht als das unwiderstehliche, alles beherrschende, wie das Altertum.
Sie fasst vom Altertum die schöneren Verhältnisse auf, in welchen die damalige Menschheit zur Natur gestanden, namentlich die künstlerische, poetische, literarische Richtung, vom Mittelalter hingegen das mystische Element, jenes Einkehren des Menschen in sich selbst, das Erheben zu der Beschauung des göttlichen Wesens, das Bestreben, sein ganzes Sein und Thun in die innigste Beziehung zu Gott zu setzen.
Sie sieht daher die Frömmigkeit nicht in dem Fliehen der Welt, in der Unterdrückung des natürlichen Elementes, so wenig wie sie übrigens die schrankenlose Hingebung unter dasselbe billigen will, auch nicht in der Beobachtung äußerer Gebräuche und Zeremonien: sondern in der ganzen Gesinnung des Menschen.
Sie sucht dem Individuum seine Freiheit zu garantieren, der Allgewalt des Staates sowohl, wie der der Kirche gegenüber: ohne jedoch eine Anarchie zu beabsichtigen.
Im Gegenteil: dem Staat verhilft sie wieder zu der Einheit, die er im Mittelalter verloren, und wodurch er in Anarchie versunken war: sie macht ihn wieder zu einer Idee, zu einer moralischen Person, ohne ihm jedoch die Selbstständigkeit des Individuums zu opfern. Vielmehr macht sie die persönliche Freiheit des Individuums erst allgemein.
Der Kirche nimmt sie die unumschränkte Gewalt, die sie über die Gewissen ausgeübt: aber sie unterwirft sie darum nicht dem Staate als dessen Dienerin, wie dies im Altertume der Fall gewesen. Vielmehr soll sie eine möglichst freie und allgemeine Form des religiösen Bewusstseins werden, ohne die Freiheit desselben irgendwie zu beeinträchtigen.
Sie ruft endlich die Nationalitäten wieder hervor mit dem Patriotismus, aber ohne diesen zu der Schroffheit des Altertums auszubilden, sondern sie verklärt und vergeistigt ihn durch die Idee der Menschheit. —
Es ist unstreitig eine der interessantesten Aufgaben, der Entwicklung dieser neuen Richtung in den verschiedenen angegebenen Beziehungen zu folgen, aber sie ist auch eine der schwersten. Ich habe mir vorgenommen, nicht etwa diese ganze Entwicklung, sondern nur einen Teil derselben darzustellen: nämlich die religiöse und literarische Seite der neuen Richtung, und zwar nur in Beziehung auf Deutschland. Doch scheint es mir, selbst zur Lösung dieser spezielleren Aufgabe, nötig zu sein, zuerst eine kurze Übersicht der allgemeinen Entwicklung zu geben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter. Band 1