Einleitung

... Vorstehende Rede des Kaiser Nikolaus an die Deputierten der Stadt Warschau soll improvisiert sein! Ist dies wirklich der Fall, ist sie die Eingebung der augenblicklichen Aufwallung des Sprösslings aus dem Hause Romanoff, welches durch einen legislatorischen Akt der Polen von deren Thron ausgeschlossen wurde, so hätte sie nicht die Bedeutung, welche man ihr in beinahe allen europäischen Blättern beigelegt hat. Denn im Zorn mögen uns allerlei Redensarten entfahren, die wir bei ruhiger Überlegung gern zurücknehmen möchten. Ist es dem Kaiser Nikolaus eben so gegangen? Es scheint wohl nicht. Denn die Rede verbreitete sich aus dem Audienzsaal in Warschau nach allen Richtungen. Wer konnte, wer durfte es wagen, eine Privatunterhaltung des Kaisers dem öffentlichen Urteil preiszugeben? Der Warschauer Munizipalrat hat doch wohl seine Schande nicht selbst bekannt! Sonstige indiskrete Zuhörer waren nicht zugegen, und Fürst Paskewitsch konnte nur auf Geheiß des Kaisers dessen Rede veröffentlichen. Es lag daher Absicht in der Bekanntmachung, in der Verbreitung dieser Rede, und mithin hat Kaiser Nikolaus gewagt, eine Stipulation des Wiener Kongresses, Polens Selbstständigkeit, Polens Unabhängigkeit von Russland, welche von Österreich, Preußen, Frankreich und England verbürgt war, zu vernichten, öffentlich im Angesicht des staunenden Europa, welches seinen Verträgen keine Autorität, dem Autokraten gegenüber, zu verschaffen wusste!

Ludwig Philipp sprach vom Throne herab: „Polens Nationalität wird nicht untergehen.“ Kaiser Nikolaus antwortet zu Warschau, dass jeder Gedanke an die polnische Nationalität diese Stadt mit dem Untergange bedrohe!?! Für Englands Seemacht ist Polen unzugänglich. Hat es aber wenigstens protestiert? Nichts dergleichen. Aber Preußen und Österreich? Diese hatten entweder vorher schon zugestimmt, oder sie ließen eben geschehen, was sie nicht ändern konnten. Österreich war im letzten Türkenkriege, in den Jahren 1828 und 1829, Russlands Gegner. Die Juli-Revolution, die nachfolgenden Bewegungen in Deutschland bestimmten seine Regierung, mit Russland sich zu verbinden, um den gemeinschaftlichen Feind, die Demokratie, zu bekämpfen. Der Aufstand in Polen ließ Österreich wie Preußen für ihre polnischen Besitzungen fürchten. Sie mochten daher in der Bekämpfung, in der Unterwerfung, in der Einverleibung Polens nicht eine Vergrößerung Russlands, sondern nur die Besiegung des gemeinschaftlichen Feindes, die Sicherung ihrer polnischen Besitzungen sehen. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass Nikolaus mit Zustimmung jener beiden Regierungen, die Einverleibung Polens öffentlich proklamierte. Ware das nicht der Fall gewesen, so hatte der Bund dieser drei Staaten durch jenen einseitigen Akt des russischen Kaisers gelockert werden müssen, wovon wir bis heute nichts verspürt haben.


Die Folgen der Einverleibung, welche jetzt eine Tatsache geworden, mochte sie nun mit oder ohne Zustimmung der zunächst dabei beteiligten Mächte geschehen sein, sind für Europa unermesslich. Sie hat die Prophezeiungen älterer Staatsmänner von Russlands bedrohlicher Größe bewahrheitet. Sie hat die russischen Heere zwischen Preußen und Österreich in das Herz Deutschlands vorgeschoben. Eine Schwenkung zur Rechten, und Preußen ist in seiner Hauptstadt bedroht. Ein Marsch zur Linken stellt Österreich bloß.

Die übrigen deutschen Staaten können ohne diese beiden Bollwerke Deutschlands der russischen Übermacht keinen dauernden Widerstand entgegensetzen. „Aber die Verwandtschaft knüpft Russland an Preußen, die gleiche Politik an Österreich. Die Türkei bietet der Vergrößerung Russlands schönere Provinzen, leichtern Sieg.“ Wahr, aber dann? Und wenn Österreich sich der Einverleibung der Türkei widersetzen wollte, weil es voraus sieht, dass die Reihe dann an Andere kommen könnte? Oder wenn Russland, die Türkei als gewisse Beute betrachtend, einen andern unbequemeren Nachbar unschädlich machen wollte? Russland greift selten vor, es wartet die günstige Gelegenheit ab. Über kurz oder lang werden sich die Umstände so fügen, dass der Vorwand, Einen der Nachbarstaaten zu überwältigen, nicht fehlen wird. Diese Gefahr sieht Deutschland, sieht Europa vor Augen. Das Portfolio hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Gefahr nachzuweisen. Es sucht Russlands geheime Pläne in allen Beziehungen aufzudecken. Es folgt ihm nach dem schwarzen und kaspischen Meer, es sucht aus der Vergangenheit die Zukunft zu enthüllen, die Zukunft Europas, unsere Zukunft. Ja wir sind die zunächst Bedrohten. Uns ziemt es, zu wachen, die Fortschritte Russlands zu beobachten, uns vorzubereiten auf einen künftigen Kampf, auf einen Kampf um unsere Nationalität. Sehen wir bloße Gespenster, wenn wir im Geiste den Czar in Berlin oder Wien erblicken, wie er zu einer Deputation also spricht: „Die deutsche Nationalität hat aufgehört, vielmehr sie hat nie existiert. Wart Ihr Deutsche, oder vielmehr Preußen, Österreicher-, Bayern, Sachsen? Habt Ihr nicht von Napoleon Frankreichs Protektorat angenommen? Ihr wart seit Jahrhunderten in verschiedene Staaten zersplittert, was Eurem Handel, Eurer Industrie eben so schädlich war, als es Euch der Willkür jedes auswärtigen Feindes aussetzte. Von nun an gehört Ihr einem großen Staate an, der Euch nach Außen zu schützen vermag, der Euren Verkehr beleben, Eurer Industrie nie geahnte Auswege bieten wird. Es ist ein wahres Glück, Russland anzugehören.“

Wohl uns, wenn dies nur leere Träume sind, wenn wir in uns die Kraft fühlen, am Tage der Entscheidung wie Ein Mann zu stehen, für uns, für Deutschland, für Europa, für die zivilisierte Menschheit zu kämpfen gegen Rohheit, Fanatismus, Aberglauben, gegen Völkerunterdrückung, gegen ein Universalreich! Napoleons Genie scheiterte an dieser Aufgabe, weil er sie plötzlich lösen wollte, weil ihm jede Spanne Zeit zu lang deuchte, weil er in Spanien und Russland zugleich kämpfte, weil er sich gegen Alles setzte. Russland sieht zu, wartet ab, erlauert die Gelegenheit, erspäht den Moment, und greift nie zwei Feinde auf Einmal an. Schweden fiel zuerst vor Peter dem Großen. Die Türken erlagen der Kaiserin Katharina. Dann folgten die „Teilungen“ Polens. Preußen wurde durch Friedrichs II. Genie gerettet. Seitdem Europas größte und schönste Armee in Russland ihr Grab gefunden, wurde Persien besiegt, der Untergang der Türkei vorbereitet, und Polen einverleibt. An wem ist nun die Reihe? Die Verwandtschaft kann Preußen nicht länger schützen, als die Bande derselben dauern. Wenn Kaiser Nikolaus tot ist, muss Preußen auf sich selber blicken, und in seiner tapfern Bevölkerung die Bedingung seiner ferneren Existenz finden. Österreich wollte schon in den Jahren 1828/29 Europa gegen Russland in den Kampf führen. Die Politik ist wandelbar, und es könnte die Stunde schlagen, wo Österreich bereuen müsste, Polen geopfert zu haben. Es ist an uns, vorauszusehen, was kommen kann, unsere Anstalten zu treffen, damit wir nicht von den Ereignissen überrascht werden. Die Herausgeber dieser Blatter bezwecken, die deutschen Regierungen und Völker auf Russlands bedrohliche Übermacht aufmerksam zu machen, nicht als ob wir glaubten, dass sie uns notwendig erdrücken müsse, nicht als ob wir wähnten, die deutsche Tapferkeit werde der russischen im offenen und ehrlichen Kampfe erliegen; nein, aller Erfolg muss für uns sein, wenn wir zusammen stehen. Aber einzeln sind wir seine sichere Beute. Wie! wenn es Russland glückte, Zwietracht unter uns zu säen, Preußen gegen Österreich, oder die andern deutschen Staaten gegen diese in den Kampf zu führen? Welch leichtes Spiel hätte dann Russland! Unsere Einigkeit ist die erste Bedingung unserer Existenz. — Die zweite? Friede mit den Nachbarn in Westen. Die Kriege zwischen Deutschen und Franzosen haben Jahrhunderte gewährt. Dadurch ist die Meinung erzeugt, es seien die Franzosen unsere natürlichen Feinde. Glückte es den Russen, uns mit diesen in einen Krieg zu verwickeln, so würde unsere östliche Grenze ihnen blosgestellt. Wir müssen daher sowohl selbst von jener alternden Politik zurückkommen, wie wir auch darauf bedacht sein müssen, den Franzosen die Eitelkeit, das linke Rheinufer für sich zu gewinnen, durch Hinweisen auf die gemeinsame Gefahr zu benehmen, und sie zu überzeugen, dass der Vorteil beider Völker weit mehr durch freundschaftliche Verbindungen als durch Vergrößerungen des Einen auf Kosten des Andern befördert wird. Wir müssen ferner eine Militärmacht organisieren, die sowohl im ersten Augenblick der Gefahr auf den bedrohten Punkten konzentriert, wie auch bei etwaigen Unfällen mit geübten Soldaten ergänzt werden kann; ja im äußersten Notfall muss das ganze Volk im Stande sein, in den Krieg zu ziehen. Diese Organisation wird bedeutende Opfer dem Volke auferlegen. Welches Opfer wäre aber der Vaterlandsliebe zu schwer. Es gilt daher zunächst die Belebung des Patriotismus; hierin sollten Alle wetteifern, Regierung und Stände, Adel und Bürger. Einer für Alle und Alle für Einen, sei der Wahlspruch. Das Volk folgt dem Beispiel der Großen. Beschäftigen sich diese nur erst einmal ernstlich mit den National-Interessen, so wird bei ihm der Nationalsinn bald erwachen. Je mehr Ursache das Volk hat, die Heimat zu lieben, desto kräftiger wird es dem Eroberer widerstehen. Es gilt darum auch, unsere Institutionen mit den Volkswünschen in Einklang zu bringen. Es gilt darum auch, die Förderung der Volks-Interessen zum Prinzip der Regierungshandlungen zu machen, damit das Volk die Überzeugung gewinne, der Sturz seiner Regierung gelte gleich seinem eigenen Sturze.

In diesem Sinne erlauben wir uns, Vorschläge zur Rettung des Vaterlandes zu machen. Nicht um zu schrecken, stellen wir Russlands Macht dar, nein! um bei Zeiten die nötigen Vorkehrungen zu veranlassen. Worin diese bestehen sollen, haben wir angedeutet. Wir werden uns in der dritten Abteilung naher darüber erklären.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschland und Russland
Friedrich II. (1712-1786) genannt der Große

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Zar Feodor Alexejewitsch

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Zar Peter der Grosse

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Iwan der Schreckliche

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Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

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Friedrich, König von Württemberg

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Willhelm III. König von Preussen

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