Russland und Polen

Der erste Gedanke der Teilung Polens mag von Preußen ausgegangen sein, aber viel früher war in Russland der Beschluss der völligen Unterjochung gefasst. Der schlaue Friedrich, der dies wusste, brachte den Plan der Teilung in Vorschlag, um selber mächtiger zu werden und Russland nicht zu mächtig werden zu lassen. Österreich war lange dagegen, weil es ihm unangenehm sein musste, die beiden Nachbarn zu noch größerer Macht gelangen zu sehen. Endlich gab es nach, um, was es nicht hindern zu können glaubte, den beiden Nebenbuhlern nicht allein zu Gute kommen zu lassen. Dies scheint so ziemlich die ganze kurze Wahrheit aus den langen Streitschriften zu sein, in welchen sich die drei Mächte die Schuld jener Gewalttat gegenseitig aufzubürden bemüht waren.

In Russland war die Unterjochung Polens nicht bloß eine Notwendigkeit der Politik, die in Europa eine herrschende Rolle spielen wollte, sondern auch eine Pflicht der Pietät. Peter der Große hatte die Unterjochung Polens in seinem Testamente vorgeschrieben, und den letzten Willen der Verstorbenen muss man ehren.


Es wird vielleicht vielen Lesern und auch der guten Sache ein Dienst erwiesen, wenn die merkwürdigsten Stellen dieses Testamentes hier mitgeteilt werden.

Der fromme große Peter sagt im Eingang:

„Le grand Dieu, de qui nous tenous notre existence et notre couronne, nous ayant constamment éclairé de ses lumières et soutenu de son divin appui, me permet de regarder le peuple russe appelé dans l’avenir à la domination générale de l’avenir à la domination générale de l’Europe. – J’ai trouvé la Russie riviére, je la laisse fleuve ; mes successeurs en feront un grand mer, destinée à fertiliser l’Europe.“

Nach dieser bescheidenen Berufung auf Gott gibt Peter seinen Nachfolgern unter andern folgende fromme Lebensregeln:

„C’est pourquoi je leur laisse les enseignemants suivants, je les recommande à leur attention et à leur observation constante:

„Entretenir la nation russe dans un état de guerre constinuelle, pour tenir le soldat aguerri et toujours en haleine; ne le laisser reposer que pour . . .“ [Es folgen eine Vielzahl von Lebensregeln in französischer Sprache]

Wie gewissenhaft (respektive gewissenlos) diese Vorschriften beobachtet wurden und noch immer werden, ist vorzüglich auch durch die Teilung Polens bewiesen.

Russland allein hat durch diese Teilung Polens entschieden gewonnen.

Es hat den bei weitem größten und wichtigsten Teil des alten Polens, es hat den polnischen Königstitel und damit die Rechte um Anwartschaften des polnischen Thrones an sich gerissen.

Es ist durch diesen Erwerb bis zum Herzen Deutschlands vorgedrungen und aus einer asiatischen eine europäische Großmacht geworden. War schon der Ehrgeiz und die Habsucht der, russischen Zaren für Deutschland gefährlich, so können sie jetzt als Könige von Polen ihren Gewaltansprüchen und Eroberungsgelüsten noch den Schein eines legitimen Rechtes geben. Die Krone Polen kann ein Recht auf Posen und Galizien, auf Ost- und Westpreußen, auf Schlesien und die Zips, ja auf Ungarn und Böhmen geltend machen, und diese polnische Krone trägt der russische Zar!

Die Praktiker werden diese Anführung lächerlich finden. Sie spotten immer über solche Berufung auf das sogenannte legitime Kronrecht, sobald diese Berufung von unsrer Seite geschieht, steifen sich aber mit hohem Ernst darauf, wenn es zu ihrer Politik passt. Welche vortreffliche Dokumente gingen aus den Reunionskammern Ludwigs XIV. hervor, und sie bewiesen das historische Recht des großen Königs nicht etwa bloß auf die Pfalz, sondern auf das ganze heilige römische Reich dies- und jenseits der Alpen. In Staatsschriften von 100 Bogen bewies Bayern sein legitimes Recht auf Österreich, und hinwiederum die österreichische Kanzlei den Anspruch des Erzhauses auf ganz Bayern. Wie schlagend bewies Friedrich der Große sein Recht auf Schlesien! Ja selbst für die gewaltsam abgerissenen Polenstücke fanden sich althistorische Rechtsansprüche, die um so triftiger wirkten, weil man sie erst geltend machte, als man sich schon des: „Beati possidentes“ erfreute. Der Kaiser von Russland aber ist als König von Polen legitimer (!) Nachfolger der alten Könige dieses Reiches, und als solcher berechtigt und verpflichtet, die abgerissenen Teile seines Reiches wieder zu erobern. Man dachte wohl daran, als es sich bei der diplomatischen Länderaufteilung und Völkerzuweisung darum handelte, ob der Name Polen bleiben oder Verschwinden sollte; aber man hätte in anderer Weise daran denken sollen. Es war nicht bloß Großmut Alexanders, dass er darauf drang, ein Königreich Polen herzustellen und sich diese Königskrone aufzusetzen; es war russische Schlauheit. Metternich wusste dies. Er sagt irgendwo: „Die Welt wird es uns nie verzeihen, dass wir Russland so viele Vorteile eingeräumt; alles hätten wir von Russland erhalten, wenn wir fester gewesen wären.“ — Allein warum war man nicht fester? — Weil man die Völkerfreiheit mehr fürchtete als die russische Habgier. Frankreich und Russland, damals wie schon früher unter einer Decke spielend, schreckten Österreich und Preußen mit dem Popanz des bewaffneten Jakobinismus und köderten sie mit der Lockspeise der Legitimität. Dieser Legitimität zu Liebe ließ man das besiegte Frankreich mit Gewinn aus dem Kampf hervorgehen, ließ man ein Königreich Polen unter russischem Szepter herstellen. Man war aus Gespensterfurcht, aus Misstrauen gegen die Völker, die sich doch eben so treu bewiesen hatten, geradezu blind. Man machte den Zar von Russland zum legitimen König von Polen, behielt aber Posen und Galizien, blieb also Russland gegenüber offenbar in illegitimer Stellung. — „Dies hat sich seit 1831 geändert, sagen die hochweisen Praktiker. „Jetzt ist Polen eine russische Provinz; es gibt kein Königreich Polen mehr.“ Aber kennt man denn nicht die Vielseitigkeit der russischen Politik? Den Polen gegenüber ist der Selbstherrscher aller Reussen eben der Selbstherrscher aller Reussen; Deutschland gegenüber aber wird er günstigen Falls mit aller Herrlichkeit und mit aller Prätension eines legitimen Königs von Polen auftreten.

Österreich und Preußen weisen, um ihre Teilnahme an dem Polenraub zu rechtfertigen, auf Russland hin. Sie sagen, Russland habe sich so fest in Polen eingenistet gehabt, dass aufs Äußerste zu fürchten gewesen, ganz Polen werde russisch werden. Um dies zu verhindern, habe man zugreifen und wenigstens etwas aus der russischen Verschlingung retten müssen. — Dies ist die hochweise Politik, die immer nur den nächsten, greifbaren materiellen Vorteil im Auge hat, nur nach Untertanen- und Steuersummen rechnet und die Weltgeschicke nach denselben Grundsätzen verwaltet, wie ein Gutsbesitzer seine Maierhöfe.

Dass Russland nicht das ganze Polen gewonnen, ist ihm kein Verlust, sondern ein Vorteil. Hätte es allein ganz Polen an sich gerissen, dann könnten Österreich und Preußen gegen die russische Gefahr mit guter Zuversicht auf die Abneigung der Polen gegen Russland rechnen. Da sie aber nun Anteil an dem ungerechten Gut haben, so teilen sie auch die Abneigung, den Hass der Polen mit Russland und können hier nichts gegen Russland unternehmen, ohne zugleich sich selbst zu strafen.

Die russische Schlauheit hat dies vorausberechnet. Russland hat den beiden Nachbarn gern ein kleines und schlechtes Stück der Beute hingeworfen, um sie dadurch zum Schweigen zu bringen, um ihnen, wie die Volkssprache derb treffend sagen würde, den Mund zu stopfen. Russland sah mit Bestimmtheit voraus, dass Österreich und Preußen diesen polnischen Brocken nun und nimmermehr verdauen, ja dass sie ihn nicht einmal hinabzuwürgen im Stande sein würden. Russland dagegen hatte das Bewusstsein einer kräftigern Raubtiernatur. Man verzeihe mir dieses materielle, wenn man will, gemeine Gleichnis. Es ist treffend, und ich will treffen. — Russland hat durch die Überlassung eines kleinen Teiles der polnischen Beute an Preußen und Österreich einen wahrhaft dämonischen Einfluss auf diese beiden Mächte erlangt. Es beherrscht das Bewusstsein derselben. Österreich und Preußen befinden sich wegen Polen zu Russland in eben der Stellung, wie ein einzelner Mensch zu demjenigen, mit welchem er ein Verbrechen begangen. Man entsetzt sich vor ihm, man verachtet ihn, man möchte gern von ihm los sein; aber wie durch diabolische Gewalt ist man in seinen Zauberkreis gebannt, und dem ersten verbrecherischen Schritt folgen die andern nach.

Hier aber tritt das verhängnisvolle Unglück Österreichs und Preußens noch auffallender hervor. Russland hat nämlich den moralischen und physischen Mut, das einmal begonnene Verbrechen rücksichtslos fortzusetzen, es der gänzlichen Vollendung zuzuführen. Österreich und Preußen aber haben diesen Mut nicht, können, wollen ihn nicht haben. Russland steht mit seinem Staats- und Volksbewusstsein noch gänzlich in der rohen Gewaltperiode, welche das zivilisierte Europa längst überwunden hat. Wenn Russland rohe Gewalt anwendet, so wundert sich niemand darüber, am wenigsten die russischen Völker selber. Mit vollem Recht konnte Zar Nikolaus sagen: „Der Despotismus ist das Prinzip meines Reichs, aber er ist im vollen Einklang mit dem Genius meiner Nation.“ Russland verliert durch sein Gewaltverfahren nichts an der Achtung der zivilisierten Welt, weil es in dieser Welt noch keine Achtung errungen hat.

Österreich und Preußen aber sind durch die Teilnahme an jenem Staatsraub vor ihrem eigenen Bewusstsein und in der Achtung ihrer eigenen Völker gesunken. Sie haben neue Untertanen erworben, auf die sie unter keinen Umständen mit Sicherheit rechnen können, und sie haben zugleich die Anhänglichkeit ihrer eigenen Unterthanen geschwächt. Russland braucht sich des polnischen Raubes wegen vor seinen Völkern und vor der Welt nicht zu schämen; Österreich und Preußen aber müssen es, weil sie auf einem andern Boden, weil ihre Völker auf einer höhern Stufe sittlicher Bildung stehen.

Während Maria Theresia wegen der Teilung Polens sich auszugehen schämte, konnte man in Petersburg Freudenfeste feiern und Denkmünzen prägen*) Zar Nikolaus konnte den besiegten Warschauern sagen: „Wenn ihr noch einmal widerspenstig seid, so lasse ich eure Stadt dem Erdboden gleich machen.“ Man lese daneben die jüngsten Proklamationen Österreichs und Preußens. Zar Nikolaus konnte die grausame Strenge so weit treiben, dass er Kinder, die am Grabe ihres als Aufrührer Hingerichteten Vaters beteten, geißeln und nach Sibirien schleppen ließ; Österreich und Preußen werden es kaum übers Herz bringen, gegen die mit den Waffen in der Hand gefangenen polnischen Aristokraten und Priester die volle Strenge der Hochverratsgesetze auszuüben. Den Russen macht es eine Freude, die Polen zu knechten; die Österreicher und Preußen aber dienen mit widerstrebendem Gefühl der Unterdrückung eines edlen Volkes. Russland kann daher gegen Polen ohne Scheu vor seinen Völkern rücksichtslose Gewalt üben; Österreich und Preußen dürfen dies nicht wagen. Russland in seiner Gemütsbeschaffenheit und in seinen Bildungsverhältnissen kann sich daher über jeden neuen polnischen Aufstand freuen, kann sogar solche Aufstände veranlassen; denn es findet dadurch neue Gelegenheit seine rücksichtslose Gewalttätigkeit wirken zu lassen, und es sieht zugleich Österreich und Preußen in neue Verlegenheit gestürzt. Russland hat ziemlich sichere Hoffnung, durch jeden Polenaufstand seine Stellung in Polen russischer zu machen, d. h. zu stärken. Österreich und Preußen aber werden eben dadurch immer schwächer, denn sie sind gezwungen, einigermaßen russisch zu verfahren, ohne die moralische, eigentlich unmoralische Kraft zu haben, ganz russisch zu sein.

*) Um unparteiisch zu sein, muss ich erwähnen, dass man auch in Berlin auf die Erwerbung Westpreußens eine Münze schlug mit der Inschrift: Regno redintegrato. Auf welchen Rechtstitel hin man es tat, weiß ich nicht. Auch glaube ich nicht, dass man unter regnum das deutsche Reich verstanden und sich gefreut habe, ein altes deutsches Land dem Reiche wieder erworben zu haben. Keinesfalls bildet diese Münze ein Ehrenzeichen für Preußen; sie liefert den Beweis, dass nicht bloß das Papier, sondern auch Erz geduldig ist.

Aber der Vorteil Russlands ist noch weit größer. Durch die Teilnahme an dem polnischen Raube sind Österreich und Preußen in das System der russischen Politik verstrickt. Des polnischen Besitztums wegen halten sie es für unmöglich, sich von Russland zu trennen, wie sehr auch tausend Gründe zu dieser Trennung auffordern. Eben jetzt zeigt sich dies deutlicher als je. Schon jubelte man in Deutschland, dass die Verbindung mit Russland endlich lockerer geworden. Da droht dem polnischen Besitztum Gefahr, und schon reicht man Russland die Hände zum erneuerten engen Bunde! Das russische System aber ist gegen Österreich und Preußen feindlich, zielt darauf hin, Österreich und Preußen zu verkleinern, zu beherrschen. Die deutschen Großmächte dienen also des Stückes der polnischen Beute wegen dem System ihres Feindes. Dies ist besonders für Österreich im höchsten Grade unheilvoll. Über die jüngsten Ereignisse in Galizien muss jedem treuen und ehrliebenden Österreicher auch deshalb das Herz bluten und der Zorn das Herz zersprengen wollen, weil Russland bei dieser Gelegenheit wieder so hochmütig protektormäßig gegen Österreich aufgetreten ist. Eben in Österreich hatte man sich der frohen Hoffnung hingeben wollen, die schmachvolle und verderbliche Allianz mit Russland sei zu Ende. Der abgewiesene russische Heiratsantrag hatte diese Hoffnung angeregt. Ganz Österreich atmete neu auf und hoffte auf ein neues Leben. Plötzlich hörte man Metternich wieder preisen in Österreich. Man übertrieb die Freude, eben, weil man so selten Ursache zu politischer Freude hat. Man überschätzte das Ereignis, man übersah Beweggründe, desselben, die sehr traurig für Österreich sind.*) Aber es war immerhin eine Demonstration gegen Russland! Da bricht plötzlich das polnische Elend los, und wir mussten lesen, wie erniedrigend großmütig uns Russland ein Truppenkorps zur Verfügung stellte; wir mussten lesen, dass unsre lieben österreichischen Truppen bei der Ankunft der Russen sich aus Krakau zurückgezogen und erst auf die gnädige Einladung des russischen Befehlshabers wieder herankamen! Um Gottes willen, wie lang wird diese Kleinmütigkeit, diese Ehrlosigkeit über dem unglücklichen Österreich schalten und walten! Ärger ist der Name Österreichs noch nie beschimpft worden, als in dieser unglückseligen Polengeschichte! Nehmt unser Gut und Blut, ihr herrschenden Diplomaten, aber lasst uns doch unsere Ehre! Auf diesem Wege geht Österreich mit Schimpf und Schande zu Grunde. Politisches Ehrgefühl ist für Gegenwart und Zukunft die wichtigste Stütze der Staaten, und keiner braucht diese Stütze dringender, als eben das viel bedrängte Österreich. Diese diplomatische Politik aber bringt es täglich mehr dahin, dass die Österreicher sich schämen müssen, Österreicher zu heißen. — Oft schon habe ich diese schmerzliche Klage ausgesprochen, aber bitterer und zorniger war mein Schmerz nie, als setzt, wo ich fern von der Heimat in einer Weltstadt lesen und hören musste, wie alle Nationen Österreich schon tiefer verachten, als Russland!

*) Ich werde noch im Verlauf dieser Schrift und ausführlicher in Biedermanns „Gegenwart und Zukunft“ über diese Heiratspolitik sprechen.

Weil ferner Österreich und Preußen dem russischen System huldigen zu müssen glauben, so geben sie ihren Polen auch das nicht, wodurch allein sie dieselben an sich fesseln, ihre nationale Abneigung überwinden könnten. Sie geben ihnen die politisch freie Berechtigung nicht. Sie haben also bei den Polen fortwährend eben das zu fürchten, worauf Russland von Jahr zu Jahr größere Hoffnungen bauen kann — die Nationalität.

Die Idee des Allslaventums wird immer mächtiger. Je mehr die Deutschen nach nationaler Einheit aller Stämme streben, desto mehr fühlen sich die Slaven ermuntert, ein gleiches zu tun. Es wird ihnen immer deutlicher, dass es sich nicht darum handle, dass die Polen, oder die Czechen, oder die Slowaken, oder die Russen, sondern dass die Slaven groß und weltmächtig werden. Die Macht nun, die Russland bereits erworben, der Glanz, den es entfaltet, die Herrschaft, die es in drei Weltteilen über so viele Völker und sogar auch schon über Deutsche ausübt, imponiert allen Slaven immer mehr. Und Russland weiß diese natürliche Wirkung noch durch künstliche Mittel zu steigern. Es droht und straft nicht nur, es belohnt und besticht auch. Und wer weiß es nicht, wie zugänglich namentlich die Polen solcher Einwirkung von jeher gewesen. Schon sind viele namhafte Polen zum Russentum übergegangen. Schon machen Slaven den Polen, ja schon machen Polen selbst ihrem Volk den Vorwurf, dass es durch sein hartnäckiges Widerstreben die Entwickelung Russlands, also die Ehre des Slavismus hindere. Gerade wissenschaftlich gebildete Polen kommen immer häufiger zu der Resignation, dass sie gläubig annehmen, die Vorsehung habe nun einmal nicht die Polen, sondern die Russen berufen, den Slavismus aus Verachtung und Knechtschaft zur Weltherrschaft zu erheben. Der großen nationalen Allgemeinheit den Provinzialismus, dem Ruhm der Allslava den Stammstolz zu opfern, erscheint immer mehreren Slaven aller Stämme als eine heilige Pflicht. Mickiewicz verkündigt in Prophetenton, der Slavismus werde nur dann seine Höhe erreichen und die Welt verjüngen und verklären, wenn sich Polen und Russen vereinigten; und das geistige Mittel dieser Einigung sei die französische Bildung. Man höre! Die russische rohe Gewalt, die polnische Schwungkraft, verbunden durch französische Schlauheit und Praktik, und diese drei Elemente durchdrungen von dem gleichen Hass gegen Deutschland!

Vergebens hofft man, die kirchliche Differenz werde eine Vereinigung der Polen und Russen immer unmöglich machen. Der rücksichtslosen russischen Gewalt wird eher als alles andere eben die römische Kirche weichen, wenn es bis zur Ausübung dieser Gewalt kommt und nicht schon früher der Panslavismus die friedliche Einigung bewerkstelligt, wo dann Russland gewiss bereit sein wird, die kirchliche Eigentümlichkeit zu schonen. Aber die griechische Kirche macht bereits große Eroberungen unter den Polen und sie ist ihrer Wesenheit nach sehr geeignet, bei einem slavischen Volk der römischen Kirche den Vorrang abzugewinnen. Diese kirchliche Seite der Sache ist so wichtig, dass wir ihr später einen eigenen Abschnitt widmen müssen.

Viele Polen blicken noch tiefer und weiter. Sie erkennen, dass sich Polen an dem Kampfe gegen die drei Mächte verbluten werde. „Schließen wir uns aber, sagen sie, an Russland an, so sind wir zwar dem alten stammverwandten Nebenbuhler untertan, aber von den zwei fremden Feinden befreit. Und wird die russische Herrschaft gegen 20.000.000 einiger Polen nicht ziemlich gnädig sein müssen? Und werden wir in der Tat immer untertänig bleiben? Sind wir nicht entschieden fähiger als die Russen? Wir können uns also des Einflusses im Staats- und Kriegsleben, in der Wissenschaft und Kunst versichert halten. Wie einst die erobernden Mazedonier und Römer der griechischen, die Germanen der römischen Bildung untertan wurden, so können wir Polen durch unsere Bildung Russland beherrschen, wenn wir uns mit aller unserer Kraft dem russischen Leben einverleiben.“

Wer dies alles wohl überlegt, der wird es gewiss für kein eitles Hirngespinst halten können, wenn die Vereinigung der Polen und Russen für die Zwecke der slavischen Weltherrschaft als eine obgleich noch ferne Möglichkeit erscheint. Und ist nicht vielleicht eben jetzt vor unsern Augen ein sehr bedeutsames Zeichen gegeben? Der jetzige Polenaufstand scheint weit mehr gegen Österreich und Preußen als gegen Russland gerichtet zu sein. Welcher Unterschied wenigstens zwischen jetzt und 1831. Wie schlimm ging es damals Russland. Wie flogen seine Eilboten nach Berlin und Wien um Hilfe! Und diesmal sieht der russische Koloss behaglich die Schlächterei im Nachbarstaate an, rückt dann majestätisch mit asiatischen Geschwadern heran, bietet großmütig seine Hilfe! — Wer weiß, welchen Hintergrund diese traurige Sache hat! Die Geschichte einer nicht gar fernen Vergangenheit berechtigt zu den schlimmsten Vermutungen. Und: „la Russie est la seule puissance, qui ait peu à perdre et tout à gagner dans une conflagration générale,“ lehrte schon Gentz.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschland, Polen und Russland