Preußen und Polen

Preußen hatte einen besondern, menschlicherweise betrachtet, besonders wichtigen Grund zu wünschen, dass Polen aus der Reihe der selbstständigen Staaten verschwinde. Dieser Grund lag in dem einzigen Umstand, dass Preußen eben das junge Königreich Preußen und das Grundland dieses Thrones ein polnisches Lehen war.

Die neue preußische Königswürde war überhaupt gar viel angefochten und bespöttelt worden, sogar von der Gemalin des neuen Königs, die bekanntlich gesagt haben soll: ,,Je suis au désespoir d’aller jouer en Prusse le rôle d’une reine de théâtre vis-à-vis de mon Ésope;“ ja nachträglich sogar von dem großen Friedrich, der aber nichtsdestoweniger aus der Eitelkeit seines Vorfahren echt königlichen Nutzen zu schöpfen verstand. Kurfürst Friedrich III., dem die Kraft fehlte, als Kurfürst ein wahrer Nachfolger des großen Kurfürsten zu sein, wollte durch den Königstitel groß werden und die brandenburgische Vergrößerung fortsetzen. Die Sehnsucht nach der Königskrone raubte ihn den Schlaf der Nächte. Er wurde fast krank vor Ärger, als er bei einem Besuch im Haag nur einen gewöhnlichen Stuhl erhielt, während König Wilhelm, der Oranier, in einem Armsessel saß. Er scheute keine Demütigung und kein Opfer, um die ersehnte Würde zu erlangen. Er schmeichelte und bestach die Wiener Hofjesuiten, er trat den schwiebuser Kreis ab, er versprach dem Kaiser 10.000 Mann Hilfstruppen und Verzichtleistung auf alle Geldforderungen, er versicherte feierlich, in völliger Reichsuntertänigkeit zu bleiben, dem Kaiser gegenüber den Titel Majestät nie zu beanspruchen und im Reichsrat immer mit Österreich zu stimmen. Als er endlich die kaiserliche Bewilligung erhalten und sich zu Königsberg die Krone aufgesetzt hatte, sandte er durch den Grafen Solms ein Dankschreiben an den Kaiser, worin folgende Stelle vorkommt: „Ew. Majestät haben uns in der Sache wegen der königlichen Dignität, mit welcher wir uns, dem Himmel sei Dank, jetzo bekleidet finden, so viel Affektion und Güte erwiesen, dass wir es bei der Ihr dafür schriftlich und durch unsern an Dero Hof bereits vorhin gehabten Minister getanen Danksagung nicht bewenden lassen wollen, sondern unsre Schuldigkeit zu sein erachtet, Überbringer dieses express abzuschicken und Ihro durch denselben noch weiter bezeigen zu lassen, wie sehr wir uns Derohalben dieser uns und unserm Haus erwiesenen Wohltat halber verbunden erkennen, und dass wir gewiss keine Gelegenheit aus der Hand gehen lassen werden, hinwiederum Ew. Majestät Interesse gleich unser selbst eigenes zu suchen und zu befördern.“ — Die Erhebung Brandenburgs fand von vielen Seiten zornigen Widerspruch. Die größeren Reichsstände sahen es natürlich ungern, dass wieder einer ihrer Kollegen zu königlicher Selbständigkeit gelangen sollte. Jedoch ließen sie sich auf dem Reichstag zu Regensburg durch die kaiserliche Versicherung beschwichtigen, dass durch die Erhebung des Kurfürsten von Brandenburg zum König von Preußen *) in den Reichsangelegenheiten die alte Gewohnheit und Ordnung nicht gestört werden sollte. In Österreich selbst waren die bedeutendsten Männer der politischen und besonders der kirchlichen Partei gegen die Erhebung eines Reichsuntertans und eines Protestanten zum König. Prinz Eugenius sagte, die Minister, die dem Kaiser zu dieser Erhebung des Brandenburgers geraten, verdienten den Strick. Heftig protestierte auch der deutsche Orden, wurde aber vom Kaiser mit höflichen Worten zum Schweigen gebracht. Der Papst Clemens XI. wollte den neuen ketzerischen König durchaus nicht anerkennen. In einer Allokution an die Kardinäle beklagte er sich bitter, dass der Kaiser der Kirche diesen Schimpf angetan, sich angemaßt habe, einen König zu ernennen, da das Recht hierzu doch allein dem heiligen Stuhl gebühre. In einem zornigen Breve vom 10. April 1701 forderte er die katholischen Mächte und namentlich auch den Primas von Polen auf, dem ketzerischen Kurfürsten von Brandenburg die königliche Ehre durchaus zu verweigern.


*) Eigentlich wurde der neue König damals König in Preußen genannt, wodurch vielleicht angezeigt werden sollte, dass er im Reich nicht als König sondern nur als Kurfürst figurieren dürfte.

Am schwierigsten aber war die Stellung des neuen Königs zur Krone Polen. Die Herzöge von Preußen hatten ihre polnische Vasallenschaft bis in die neueste Zeit herab feierlich anerkannt. Im Jahr 1525 leistete diese Lehnspflicht Herzog Albert zu Krakau dem König Sigmund I. — 1509 Albert Friedrich zu Dublin dem König Sigmund August I. — 1578 Georg Friedrich zu Warschau dem König Stephan Bathory; 1611 Johann Sigmund zu Warschau dem König Sigmund III. aus dem Hause Wasa; 1620 Georg Wilhelm zu Warschau demselben König Sigmund Wasa; 1641 zu Warschau Friedrich Wilhelm dem König Wladislaus IV.; 1663 zu Königsberg Friedrich Wilhelm dem König Johann Kasimir V.; 1690 zu Königsberg der Kurfürst Friedrich III. dem König Johann Sobieski III. — Diese Verpflichtung lag dem neuen König von Preußen schwer auf dem Herzen. Um Polen zu beschwichtigen, stellte er am 8. Juni 1700 einen Revers aus, in welchem er für sich und seine Nachfolger beteuert, dass die neue königliche Würde den Rechten Polens auf Preußen durchaus nichts benehmen, dass sie Verträge von Wehlau und Bromburg, in welchem der Heimfall Preußens an Polen festgesetzt ist, aufrecht und in Kraft bleiben sollten. Nach der Krönung zu Königsberg erließ Friedrich I. am 28. Februar 1701 abermals eine Erklärung, worin er aufs feierlichste beteuert, dass er und seine Nachfolger zu keiner Zeit irgend etwas gegen die legitimen und unverjährbaren Rechte Polens auf die preußischen Länder unternehmen wollten.

Polen gegenüber an solche Verhältnisse auch nur erinnert zu werden, musste für Friedrich den Großen begreiflicherweise höchst unangenehm sein. Er der ein wirklicher König geworden war, und selbst dem Reiche gegenüber den unabhängigen Königsrang behauptete, sollte ein Vasall der so tief gesunkenen Krone Polen sein!

Zu dem allen kam ferner, dass der neue preußische Königsthron wirklich materielle Stützen und Grundlagen brauchte, wenn er nicht in jedem Sinn auf Sand gebaut bleiben sollte. Preußen brauchte damals Vergrößerung, wie es dieselbe auch heute noch braucht.

Aber wohl gemerkt, es muss eine Vergrößerung sein, die wirklich eine Vermehrung und Befestigung der preußischen Macht bildet; es muss eine Erwerbung sein, die sich natürlich und rechtlich mit dem Staatsorganismus verbinden lässt, die nicht bloß mit diplomatischer Tinte und Völkerblut an den Staat angeklebt ist. Eine solche Vergrößerung gewährt der Besitz Posens nun und nimmermehr, sondern das schlimmste Gegentheil. Westpreußen allerdings gewährt eine solche Vergrößerung, und man weiß, dass Friedrich, schon in seinem Gefängnis zu Küstrin den Plan zur Eroberung Westpreußens entworfen hat.

Dass Preußen, als das Bewusstsein seines Berufes in ihm aufdämmerte, seine Blicke auf das deutsche Westpreußen richtete, welches nicht national natürlich, sondern nur politisch zu Polen gehörte, ist begreiflich. Dass Preußen auf dieses deutsche Land im Namen Deutschlands ein Recht ausüben zu dürfen glaubte, dass es ihm äußerst unangenehm und misslich sein musste, sein ohnehin ungünstig gelegenes Staatsgebiet durch polnische Länder unterbrochen zu sehen, kann vom deutsch nationalen und vom preußisch politischen Standpunkt aus natürlich erscheinen.

Überdies war Polen so tief gesunken, spielte eine so klägliche Rolle, dass es dem ordnungsliebenden und tatkräftigen Friedrich Abscheu einflößen musste. Ohnehin hatte er von slawischem Wesen sehr ungünstige Begriffe, wie aus mehren seiner Äußerungen hervorgeht. Er nahm ein Stück von Polen mit demselben Gemüte, wie man ein Stück von Amerika besetzt, um es zu kultivieren. Und was Zar Nicolaus vor einigen Jahren den Warschauern gesagt, dass es nämlich ein Glück sei, zum russischen Reich zu gehören, das konnte Friedrich mit größerem Rechte seinen Polen sagen. Die polnische Wirtschaft mit der Teilnahme an dem wohlgeordneten, geistig belebten und berühmten Preußentum zu vertauschen, konnte man nach damaligen Begriffen den Polen immerhin als eine Wohltat anrechnen. „Ich baue einen Thron der Weltgeschichte“ — soll Friedrich gesagt haben — „diese polnischen Kerle können daher stolz darauf sein, wenn ich sie als Handlanger brauchen kann.“

Freilich hatte der große Kurfürst dringend geraten, Polen als eine Vormauer des Reichs zu erhalten und zu schützen. Aber wie schwach, wie in sich zerbröckelt und dem Einsturz nahe war diese Vormauer zu Friedrichs Zeiten. War Polen wirklich je eine Vormauer Deutschlands gewesen, so war jetzt doch der Einsturz derselben zu fürchten, es war zu fürchten, Polen würde jetzt dem eindringenden Russland eine Bresche bilden. Friedrich der Große dagegen hatte den Plan gefasst und fühlte die Kraft, einen neuen Grund- und Eckstein des Reiches zu legen und aufzuführen, und er trug daher kein Bedenken, diesem Baue einige Stücke von Polen einzufügen. Gerade mit Rücksicht darauf, dass Polens europäische Bedeutung darin bestand, oder bestehend gedacht wurde, Asien von Europa abzuhalten, glaubte man berechtigt und verpflichtet zu sein, auf Kosten Polens die deutsche Stellung zu befestigen. Man übersah nur, dass die Art und Weise, wie man dies tat, keine Befestigung, sondern Schwächung erzeugte. Indem man in Gesellschaft Russlands die morsche polnische Mauer niederriss, führte man das herbei, was man hindern wollte, man bahnte Russland eine Bresche, aus deren Trümmern es sogleich eine Bastion auftürmte, die weit ins deutsche Gebiet hineinstarrt, und dadurch, dass sie Österreich und Preußen trennt, das Zentrum der Front durchbricht, die wir gegen Russland machen — sollen.

Abgesehen von dem allen stand Friedrich rein auf dem kriegerischen Standpunkt eines Eroberers; er nahm Polen als eine leichte Eroberung mit eben dem Humor wie Schlesien.

Aber Schlesien war in wenigen Jahren stockpreußisch — preußisch Polen ist noch heutzutage eben Polen.

Die polnische Nationalität widerstand selbst der berühmten Zu-, Ein- und Durchdringlichkeit des Preußentums. Allerdings wurde in preußisch Polen in gutem und schlimmen viel germanisiert, dennoch ist, wie die Sachen heute stehen, dort nicht das deutsche, sondern das polnische Element im Wachsen, ja das deutsche ist geradezu mit Ausrottung bedroht.

Preußen hat gewiss viel für Posen getan, und ebenso gewiss ist es, dass unter allen Polen die preußischen die größte Freiheit genießen, eine Freiheit, welche selbst die alte polnische sogenannte Republik nicht gewährte. Die polnische Nationalität kann sich unter preußischer Obhut geistig so weit entwickeln, als Kraft in ihr ist. Posen ist auch ein ziemlich öffentlicher Sitz der slavischen Propaganda. Was die Slaven weder in Österreich noch in Russland wagen dürfen, das thun sie in Posen öffentlich. Hier blüht auch ein sehr bedeutender Teil der den Slavismus leitenden Literatur. — Aber alles ist umsonst, wie eben jetzt deutlich genug bewiesen ist. Die Posener bleiben Polen, und als solche müssen sie Gegner Preußens sein. Zugegeben, sie haben Achtung vor der jetzigen preußischen Regierung, sie sind ihr in vieler Beziehung dankbar, sie anerkennen, dass Preußen alles für sie tut — bis auf das Eine. Aber eben dieses Einen wegen ist alles andere fruchtlos. Deshalb ist es auch ungerecht und lieblos und zugleich im höchsten Grade unpolnisch, dass man in Preußen, dass sogar die liberale Presse in Preußen den Posenern Undankbarkeit vorwirft. — Dass die preußische Regierung Posen auf demselben Fuße hält, wie alle andern Provinzen, dafür sollen die Polen dankbar sein? Tragen sie denn nicht auch alle Staatslasten gleich den Urpreußen? Was die Regierung für Posen tut, das ist ihre Schuldigkeit und weiter nichts. Sie ist so wie jede andere rechtliche, Regierung sittlich und rechtlich verpflichtet, für jedes ihrer Länder so viel zu tun, als nur irgend möglich. Für die Erfüllung einer strengen Pflicht aber verdient man keinen Dank. Besonders von den Polen sollte man ihn nicht verlangen, nicht erwarten. Könnte ihnen die preußische Regierung wirklich über die Schuldigkeit, ja über die Möglichkeit hinaus Wohltaten erweisen; das Unrecht, das man an Polen verübt, würde dadurch nicht gut gemacht, die Wunde des polnischen Herzens nicht geheilt, die polnische Geschichte nicht ungeschehen!

So hat also Preußen durch Polen in sein ohnehin äußerst künstliches Staatssystem ein ewig fremd und feindlich bleibendes Element bekommen, mit dem es sich nicht auf den Standpunkt des Rechts stellen kann, sondern immerfort Krieg führen muss. Wie nachteilig dieser Gewaltzustand auf das sittliche Staatsbewusstsein einwirken und zu welchen schreienden Inkonsequenzen und Doppelzüngigkeiten er führen muss, ist einleuchtend.

Preußen ist nämlich vorzüglich berufen, ist durch das dringendste Bedürfnis darauf hingewiesen, sich so viel als nur irgend möglich als vollkommener Rechtsstaat zu entwickeln. Preußen entbehrt nämlich jener althistorischen Grund, läge, welche manchen andern Staaten so günstig zur Unterlage dient, dass sie darauf im buchstäblichen Sinn des Wortes auf der faulen Haut liegen können. Preußen kann sich nicht gut auf ein urväterlich angestammtes Herrscherrecht berufen und steifen. Preußen ist als Großmacht noch viel zu jung, als dass sich auch über seinen Ursprung schon der romantische Nimbus verbreitet hätte, in den andere Großmächte sich so gehäbig zu hüllen wissen. Wirft man doch dem altersgrauen Österreich noch immer sein beispielloses Heiratsglück vor; um so lebhafter und satirischer erinnert man sich, dass die Grundlage der preußischen Macht mit nürnbergischem Gelde gekauft, das Wachstum derselben durch deutschmeisterliche, kriegerische und diplomatische Gewaltstreiche und Kunststücke zusammengebracht worden ist. Dieser misslichen Erinnerung und zugleich der sehr ungünstigen und schwierigen Zusammensetzung und Stellung der Monarchie kann nur durch ein recht edles und reines Rechtsleben entgegengewirkt werden. Preußen muss mit Begeisterung und durchgreifender Wahrheit dem neuen Staatsbegriff huldigen, der den Thron auf gegenseitig freie Berechtigung und Verpflichtung gründet. Man will dies in Preußen auch. Der jetzt regierende König hat bei seiner Thronbesteigung öffentlich zu seinem Volk gesprochen: „Ich trage meine Krone von Gott zu Leben; aber auch Euch soll Euer Recht werden!“ Ein schönes, ein vielverheißendes Wort! Es spricht in schwungvoller Weise eben den Begriff des neuen Staatsrechts aus. Aber wie steht es mit diesem königlichen Wort, wenn es auf Posen angewendet wird? Ist der großherzogliche Hut von Posen auch von Gott zu Lehen gegeben? Und was müssen die Polen bekommen, wenn ihnen ihr Recht zu Teil werden soll? — So bildet also Posen immer den praktischen Gegenbeweis zur preußischen Staatsrechtstheorie, und dies ist wesentlich Ursache, dass diese Theorie zum Verderben Preußens und Deutschlands auch sonst nicht recht praktisch werden will. Es stellt sich immer heraus, dass auch in Preußen mehr die Staatsgewalt, als das Staatsrecht regiert. Man hat dafür den neuen Ausdruck Militärstaat gewählt, wodurch aber die Gewalt eben nichts als eine äußerlich glänzende Uniform erhalten hat.

Zwar ist einzugestehen, dass die Gewalt, welche Polen angetan wird, in Altpreußen keine so unangenehme Sensation erregt, wie anderswo. Es herrscht nämlich in Preußen der soldatische Charakter vor; die ganze Bevölkerung befindet sich in gewissem Sinn immer auf dem Exerzierplatz. Man ist gewöhnt, alles unter den militärischen Gesichtspunkt zu bringen. Von diesem aus erscheint nun der Besitz Posens lediglich als eine Position dem Feind gegenüber, und die kriegerischen Preußen sind entschlossen, diese Stellung bis auf den letzten Mann zu verteidigen. Überdies zeichnen sich die Preußen durch eine sehr löbliche Teilnahme an der allgemeinen Staatswirtschaft und an dem Gedeihen derselben aus. Jeder interessiert sich dafür so, als ob das ganze Preußen sein eigen wäre. Da betrachten sie nun die Landkarte und die abenteuerliche Gestalt ihres Reiches, da zählen sie die Bewohner und die Einkünfte, und das Resultat dieser Betrachtung ist der Ausspruch: „Wir können nicht ein Dorf weggeben!“ Eben jetzt kann man in Preußen und namentlich in Berlin die sonst freisinnigsten Leute so sprechen und diesen Spruch in aller Strenge auf Posen anwenden hören. Wenn die Polen, wie man mit Grund vermutet, auf eine andere Stimmung der Preußen, der Berliner gerechnet, so haben sie sich bitter getäuscht. Ja, man bedauert sie, man beklagt in Prosa und Versen das polnische Unglück, aber — „Preußen kann nichts entbehren!“

Allein wenn auch das Gewaltverfahren gegen Polen in dieser Beziehung nicht so nachteilig auf die Stimmung der preußischen Völker wirkt, so tritt doch gerade in Preußen um so verderblicher gerade die Folge jenes Gewaltverfahrens ein, welche wir im Eingang dieser Schrift bezeichnet haben. Wenn die Polen fortwährend durch Kriminal- und Militärgewalt zu preußischer Untertanentreue gezwungen werden, so muss dadurch das preußische Monarchenrecht erschüttert werden.

Dasselbe geschieht aber wegen Polen auch in einer andern noch verhängnisvollern Beziehung. Durch den polnischen Besitz ist nämlich Preußen an das russische System gekettet. Schon der Gedanke daran schadet dem Ansehen der preußischen Krone ungemein. Allein es handelt sich hier leider nicht bloß um den Begriff eines ehrenhaft unabhängigen Königreichs Preußen, sondern dieser Ehrenbegriff ist durch die traurigsten Tatsachen getrübt und befleckt. Die königliche deutsche Großmacht erscheint in den innern und äußern Angelegenheiten als von dem russischen Zarentum abhängig, von der moskowitischen Politik bevormundet. Wahrlich der Verlust der Hälfte des Staatsgebietes würde den preußischen Königsthron nicht so sehr schwächen, als ihn jene Abhängigkeit in der Tat schwächt.

Aber noch mehr! In Folge dieser Abhängigkeit, aus Rücksicht auf Russland, in dem Glauben, die russische Freundschaft nicht entbehren zu können, die man doch in der Tat gar nicht besitzt, zögert Preußen, jenen notwendigen Schritt in seiner Entwicklung vorwärts zu tun, nach welchem sich die preußischen Völker ungeduldig sehnen und von dem nicht etwa bloß die mächtigere Fortentwickelung, sondern die Dauer Preußens abhängt. Um sich von dem russischen System nicht zu trennen, gibt sich Preußen die notwendige Verfassung nicht. Und hier ist namentlich wieder der Besitz des polnischen Anteils von bösestem dämonischen Einfluss. Man muss fürchten, die Polen würden die politische Berechtigung zu schädlicher, anti-preußischer Opposition benützen; daher gibt man die politische Berechtigung lieber überhaupt gar nicht. Dadurch nimmt nun nicht nur die Opposition der Polen einen viel gefährlicheren Charakter an, sondern es werden auch die übrigen Völker der Monarchie zu einer gefährlichen anti-preußischen Opposition hingerissen. Preußen ist ferner berufen und aufgefordert, eine entschieden und rein deutsche Macht darzustellen. Davon hängt seine Dauer ab. „Ich bin deutsch und will nichts anderes sein als deutsch!“ sagte der große Kurfürst; und dadurch wurde er groß und legte den Grund zur Größe Preußens. Durch den polnischen Besitz aber wird der Schwerpunkt, das Gleichgewicht dieser deutschen Stellung verrückt und aufgehoben. Preußen ist dadurch gezwungen, mit einem Fuß in Russland, in Asien, zu stehen und aus diesem Zwang kommt oft die Verführung, mit beiden Füßen nach Asien überzuspringen. Die wichtigste Stütze der preußischen Macht ist ferner die deutsche Nationalität und die Hoffnung, die Sehnsucht dieser Nationalität. Diese Hoffnung ist in vieler Beziehung einzig auf eine großartig deutsche Entwicklung Preußens hingewiesen, muss sich so lang als möglich an Preußen anklammern. Dieser Hoffnung wegen hat man sich in Deutschland von Preußen gar manches gefallen lassen, hat manche preußische Tat verschmerzt, die keine Großtat gewesen. Den An- und Aufrufungen des deutschen Nationalgefühls verdankt Preußen seine wichtigsten und glänzendsten Erfolge. Man weiß dies in Preußen und sucht es bei jeder Gelegenheit zu benützen. Aber in welchen kläglichen und schmachvollen Widerspruch gerät man dadurch gegenüber von Polen! Man sucht das deutsche Nationalgefühl zur Begeisterung aufzuregen, während man das polnische gewaltsam niederhält und unterdrückt!

Kurz, das kleine Posen hängt wie ein schweres Bleigewicht an dem preußischen Staate. Fiele es weg, so würde Preußen gewiss das Gefühl haben, wie einer, der aus den Ketten frei wird. Es würde durch den Verlust Posens nicht schwächer gegen Osten, weil es stärker im Westen würde. Wenn es wahr wäre, dass Preußen durch den Verlust des mit mühseliger Gewalt behaupteten Posens von seiner Großmachtstellung herabgestürzt würde, so wäre dadurch der traurige Beweis geliefert, dass Preußen überhaupt nicht die Kraft habe, als Großmacht zu walten. Aber diese Besorgnis, dieser Vorwand ist ganz grundlos. Preußen würde den Verlust Posens nur auf der Landkarte und im Titel des Königs bemerken. Ohnehin beruht Preußens Ansehen und Einfluss den andern Großmächten gegenüber, weit mehr auf der geistigen und moralischen, als auf der materiellen Kraft. Man erinnere sich doch, mit wie geringen Mitteln Friedrich der Große Preußen zur Großmacht erhoben. Als er den Thron bestieg, hatte er kaum 4 Millionen Untertanen, und doch behauptete er sich sieghaft, obwohl fast das ganze Europa gegen ihn in Waffen stand. Warum? Weil die öffentliche Meinung, der Geist der Zeit für ihn war; weil er als Vorkämpfer einer neuen Staatsbildung auftrat; weil die Ahnung des deutschen Volkes in ihm eine neue Stütze des wankenden deutschen Reiches erkannte. — Je mehr also die moralische Lebenskraft Preußens sich reinigte und erhöbe, desto größer würde die Ehre und Wirksamkeit des Staates. Der kleine materielle Verlust käme neben dieser innern Erkräftigung gar nicht in Rechnung, und es könnte, es würde sich auch dafür auf rühmlichem Wege Ersatz finden.

Heutzutage finden diese guten Worte in Preußen noch keinen guten Ort. — „Wir können nichts entbehren.“ — Man hat sich sogar hinreißen lassen, in Orakelton zu verfügen, Posen müsse in alle Ewigkeit unzertrennlich mit Preußen verbunden bleiben. Höchstens gegen einen vorteilhaften Tausch, etwa für Sachsen oder Hannover würde man Posen aufopfern.

Aber es geschehen gar viele Dinge in der Welt, von denen nichts in den Protokollen der Diplomaten steht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschland, Polen und Russland