Österreich und Polen

Bei dem neuen Polenaufstand handelt es sich vorzüglich um Österreich, um die Macht und Ehre Österreichs. Wenn dies nebst den traurigen Tatsachen noch eines Beweises bedürfte, so wäre er durch den schadenfroh hochmütigen Hilfsantrag Russlands und durch die preußische Presse gegeben. Die Art, wie die preußische Presse unter königlich preußischer Zensur dieses neue österreichische Unglück ausbeutet, zeigt zugleich auf eine herzzerschneidende Weise, wie es mit der deutschen Bundesgenossenschaft steht! Aber freilich, Österreich hat sich die allgemeine Abneigung, mit der es seit Jahrhunderten kämpfen muss, nur selber zuzuschreiben, und eben jetzt regte es diese Abneigung durch den neuen kirchlichen Terrorismus neu auf. Wie leicht könnte das reiche und schöne Österreich diese Abneigung in Liebe verwandeln!

Dieser polnische Schlag traf Österreich wie ein Blitz aus heiterem Himmel; in dem Sinn nämlich, dass diejenigen, welche immerfort gedankenlos ins Blaue hineinregieren, und der Welt wie der regierenden Familie einen blauen Dunst vormachen, glaubten und glauben machten, Österreich habe den heitersten Himmel über sich. Diejenigen, welche längst schwere Gewitter vorhersagten, wurden Thoren, Lügner, Schwärmer gescholten.


Dieses polnische Unglück Österreichs mit patriotischem Sinn zu betrachten, ist eine überaus schmerzliche Aufgabe, und man muss überdies mit Gewissheit darauf gefasst sein, die patriotische Absicht verkannt zu sehen. In Österreich gilt nur lobhudelnde Schmeichelei für Patriotismus.

Ich ging an diese Aufgabe nach langem Kampf mit mir selbst. Mehr als je wünschte ich bei dieser traurigen Angelegenheit, von Politik gar nichts zu wissen. Man spottet über meine Schreibseligkeit. Ich kann versichern, dass ich dabei nichts von Seligkeit empfinde. — Wie nun das kritische und das politische Urteil über diese Schrift ausfallen mag; ich kann zu ihrer Rechtfertigung vor Gott und vor der Welt sagen: „Ich hab getan, was ich nicht lassen konnte.“

Vorerst gebe ich einen kurzen geschichtlichen Rückblick.

Österreich nahm sein Stück Polen nach langem moralischen Zaudern. Man darf nicht zweifeln, dass auch Joseph II. Skrupel gehabt, aber er überwältigte sie durch drei politische Gründe. Er gab sich erstlich, wie bekannt, der schwärmerischen Täuschung hin, noch auf dem altkaiserlich deutschen Standpunkt zu stehen, und war daher geneigt, das ganze Polen als ein Lehensglied des Reiches zu betrachten. Er hatte ferner einen eben so hohen Begriff von dem Beruf der deutschen Bildung, als er die Kulturkraft des Slavismus gering achtete und nach den geschichtlichen Tatsachen gering achten durfte. Er sah endlich die russische Habsucht und glaubte daher auch seinerseits wenigstens einen Teil Polens für Deutschland retten zu müssen. Ich führe dies nicht an, um Joseph zu rechtfertigen. Jedenfalls ist durch das Verfahren gegen Polen der Ruhm des sonst so hochherzigen Volkskaisers befleckt. Maria Theresia schrieb damals Worte nieder, die nicht oft genug gelesen werden können, und besonders in diesem Augenblick als Gegenstück zu den Erklärungen des „österreichischen Beobachters“ und der Augsburger Allgemeinen von erneuerter Bedeutung sind.

Die Kaiserin schrieb an Kaunitz folgendes:

„Als alle meine Länder angefochten wurden und gar nit mehr wusste, wo ruhig nieder kommen sollte, steifete ich mich auf mein gutes Recht und den Beistand Gottes. Aber in dieser Sach, wo nit allein das offenbare Recht himmelschreiend wider Uns, sondern auch alle Billigkeit und die gesunde Vernunft wider Uns ist, mueß bekennen, dass zeitlebens nit so beängstigt mich befunten und mich sehen zu lassen schäme. Bedenkh der Fürst, was wir aller Welt für ein Exempel geben, wenn wir um ein ellendes Stück von Polen unser Ehr und reputation in die schanz schlagen! Ich merkh wol, dass ich allein bin und nicht mehr en vigueur, darum lasse ich die Sachen, jedoch nicht ohne meinen größten Gram, seinen Weg gehen.“

Den Teilungsentwurf unterzeichnete Maria Theresia mit folgenden Worten:

„Placet, weil so viele große und gelehrte Männer es wollen; wenn ich aber schon längst tot bin, wird man erfahren, was aus dieser Verletzung von Allem, was bisher heilig und gerecht war, hervorgehen wird.“

Dem französischen Gesandten Baron le Breteuil erklärte die Kaiserin:

„Je sais que j’ai mis une grande tache à mon règne par tout ce qui vient de se faire en Pologne; mais je vous assure qu’on me la pardonnerait, si on savait à quel point j’y ai répugné et combien de circonstances, ainsi que mes résolutions contre toutes les vues immodérées de l’injuste ambition russe et prussienne. Jamais je n’ai été si affligée.“

Kaunitz erklärte 1771: „Der österreichische Staat bedarf keiner weiteren Vergrößerung. Sein Flächenraum, seine Bevölkerung und sein Einkommen sichern ihm bei einer weisen Verwaltung seine Bedeutendheit, und durch den Anbau der noch nicht urbaren Ländereien, durch Anlegung neuer Kolonien könnte er, nicht unter dem Fluche, sondern unter dem Segen der Völker ein neues nicht unbedeutendes Königreich in seinem Innern sich erobern. Die erhabenen Gesinnungen, die Ihre Majestät im Laufe ihrer ganzen Regierung bewährt, geben sichere Bürgschaft, dass die Kaiserin nicht um einen so schnöden Gewinn die Indignation der Völker auf sich laden werde.“

Diplomatisch charakteristisch hierbei ist es, dass Kaunitz schon vor dieser schönen Erklärung die Zips besetzt hatte! Aber dafür wurden freilich urkundliche Rechtsansprüche geltend gemacht, welche Hormayr zur Zeit, als er noch offizieller Lobschreiber der österreichischen Geschichte war, im österreichischen Plutarch nicht in Betreff der Zips allein, sondern so ziemlich in Betreff des ganzen Polens an- und ausführt. Diese patriotische Arbeit des ehemaligen österreichischen Historiographen ist an und für sich und besonders auch wegen der jetzigen Stellung Hormayrs und als Gegenstück zu der Art und Weise, wie er jetzt als königlich bayerischer Minister-Resident österreichische Geschichte schreibt, zu interessant, als dass sie nicht hier ein Plätzchen verdiente.

Hormayr schreibt:

„Österreichs Ansprüche waren zweifach. Böhmen revindizierte die Herzogtümer Oswiecza (Auschwitz) und Zator*); die Krone Ungarn die verpfändeten Zipserstädte, Podolien, Klein- oder Rothreußen.

Reußen und Podolien oder im engern Sinn Halicz (Galizien) und Vladimir (Lodomerien) sind von Anbeginn des elften Jahrhunderts bis in die Mitte des vierzehnten unter ungarischer Herrschaft gestanden, teils unmittelbar unter der Krone, teils von ungarischen Prinzen, Vasallen, Beamten regiert, von den ungarischen Königen aber ununterbrochen in Titel und Wappen geführt worden.

Im Jahre 1352 überließ König Ludwig der Große von Ungarn Reußen an Casimir von Polen, unter der Bedingung, dass, wenn Casimir männliche Erben bekomme, diese Reußen an Ungarn gegen 100.000 Gulden zurückgeben sollten; bekäme er aber keine, so sollte Reußen so wie ganz Polen ohne weiteres an Ungarn fallen.

*) Diese beiden polnischen Herzogtümer gehören als böhmische Lehen zum Deutschen Bund, worauf Hormayr neuerlich vorwurfsvoll aufmerksam macht, als hätte Österreich dadurch nur die Haftung Deutschlands auch für die polnischen Besitzungen erschleichen wollen.

Casimir bekam keine Erben, und Reußen und Polen fiel dem ungarischen König, Ludwig von Anjou, zurück. Dieser starb 1382 ebenfalls ohne Söhne. Seine ältere Tochter Maria (Kaiser Sigmunds erste Gemahlin) erhielt Ungarn — die jüngere, Hedwig (Gemahlin des lithauischen Jagello) Polen.

Hedwig benützte die Unruhen in Ungarn, und riss mit Waffengewalt Reußen und anderes wieder zu Polen, obschon 1394 Sigmund und Jagello gegenseitig verzichtet und anerkannt hatten.

In den Jahren 1411 und 1412 wurde zwischen Ungarn und Polen darüber unterhandelt und am 15. März 1412 ein öffentlicher mit 100 Siegeln versehener und 1415, 1423 und 1440 erneuerter Vergleich errichtet: „dass wegen Reußen, Podolien (und der Moldau) Waffenstillstand auf fünf Jahre nach eines der beiden Könige Tod sein und inzwischen die friedliche Entscheidung der beiderseitigen Ansprüche geschehen, Polen aber einstweilen in Besitz bleiben solle.“ Sigmund aber führte den Titel ungestört fort und die Untersuchung und Entscheidung erfolgte (1439) nicht, sondern erst 1454 — dann 1473 und 1479 ward zwischen Mathias Huniady Corvin und Casimir wieder darüber unterhandelt, aber wieder ohne schließlichen Erfolg.

So blieb's bis 1589, wo Erzherzog Maximilian von seinem Mitbewerber um die polnische Krone, Sigmund von Schweden, überwunden und gefangen wurde und auf Polen verzichten musste, insofern er durch die zwiespaltige Wahl Rechte auf den Thron hatte, aber nicht insofern er als Prinz von Ungarn durch alte Besitz- und Vertragsverhältnisse (sowie das ganze Erzhaus) besondere Rechte auf Reußen und Podolien hatte, denn von diesen steht kein Wort im Verzichte, der bloß allgemein und wechselseitig ist*).“

[i]*) Es wäre höchst interessant, wenn Herr v. Hormayr diese merkwürdige Stelle in seiner jetzigen Gemütsstimmung und Geschichtsanschauung interpretieren möchte.


Zudem ist jener Vertrag von den ungarischen Ständen, (welche unstreitig befragt werden mussten) niemals gut geheißen worden, vielmehr haben sie 1595 neuerdings auf Beilegung der alten Zwiste mit Polen gedrungen, und seither sind diese Ansprüche immer vorbehalten und Titel und Wappen von Galizien und Lodomerien bis 1769 fortgeführt worden. Selbst ein polnischer Kanzler hat (sonderbar genug*) noch 1673 das Recht Ungarns anerkannt.

*) Wie naiv schrieb damals Herr v. Hormayr! — Ich muss mich hier über das Wagnis, gegen Hormayr aufzutreten näher erklären. Hormayr schreibt bekanntlich unter dem Beifall von ganz Deutschland die bittersten Bücher gegen Österreich, und er wird für diese Werke wahrscheinlich in die bayersche Walhalla kommen. Wie alle Welt, so finde auch ich Hormayrs Bücher äußerst „pikant“ und auch in vieler Beziehung historisch lehrreich. Was dies anbelangt, wünsche ich dem gelehrten Verfasser ein recht langes Leben, damit er noch recht viele Mitteilungen aus seinem reichen Notizenvorrat machen könne; ich wünsche ferner sehnlich, dass Hormayr aus bayrischem Staatsdienst noch in preußischen, dann in hannoverschen, dann in kurhessischen u. s. w. gelangen möchte. Es ließen sich dann von ihm über diese Deutschen Dynastien die köstlichsten Anekdoten erwarten. Mit der Gesinnung dieser hormayr'schen Opposition aber will ich nichts gemein haben. Hormayr macht nicht gegen die Fehler des österreichischen Systems Opposition, sondern gegen Österreich. Seine Schriften haben die Tendenz, den österreichischen Kaiserstaat aufzulösen und einen möglichst großen Teil davon an Bayern zu bringen, weil Hormayr eben in bayerschen Diensten ist. Als österreichischer Beamter hat Hormayr das Haus Österreich maßlos überschwänglich gelobt; als bayrischer schmäht er es ebenso übertrieben, schmäht dieselben Personen, die er früher vergöttert und hebt dagegen das Haus Wittelsbach zu den Sternen, dasselbe Haus, gegen das er früher die Feder und die Waffen geführt! — Das ist keine ehrliche Opposition. Als Beweis mit Bezug auf den Gegenstand dieses Buches führe ich folgende Stelle Hormayrs aus dem dritten Band der „Lebensbilder“ (Seite 629, Anmerkung) wörtlich an: „Freilich haben wir Deutsche nichts von den Russen zu fürchten, und einen Russenzug, eine Russensteuer, Russen —- Römermonate und Matrikelanschläge dürfte sich trotz alles Stürmens der Russenglocke, wie einst der Tückenglocke, der deutsche Michel schwerlich aufbinden lassen,“ — Durch diese Stelle beweist Hormayr, dass er ganz geeignet wäre, russischer Ministerresident in Deutschland zu sein. Die persönliche Erbitterung reißt ihn offenbar bis zum Verrat an Deutschland hin, was er auch dadurch beweist, dass er unzähligemal höhnisch wiederholt, die letzten deutschen Kaiser aus dem Hause Lothringen seien Franzosen, seien abtrünnige Großoffiziere der französischen Krone gewesen. Sehr bezeichnend für die hormair'sche Opposition ist es auch, dass er immer heftiger darauf ausgeht, das Andenken Hofers zu verunglimpfen. Es ärgert ihn, dass die Geschichte den schlichten Bauernwirt unter ihre Helden erhoben und den diplomatischen Freiherrn Hormayr Hortenburg vergisst.

Auschwitz und Zator wurden 1179 vom polnischen König Casimir dem Herzog Mirislaw von Oberschlesien und Teschen eigentümlich über, geben und sind also mit Schlesien unter böhmische Schutz- und Landeshoheit gekommen. — 1335 und 1339 verzichteten Johann von Böhmen-Luxemburg und Casimir von Polen gegen einander und im polnischen Verzicht erscheinen Auschwitz und Zator ausdrücklich. — 1355 hat Karl IV. Schlesien mit Auschwitz und Zator für immer Böhmen einverleibt, und 1372 erneuerte König Ludwig den Verzicht von 1339 mit dem Beisatz: „dass er und seine Nachfolger nie eine Unterwerfung jener Herzoge annehmen sollen und wollen.“ — Während der unruhigen und schwachen Regierung des Ladislaus Posthumus riss zwar der Polen-König Casimir Auschwitz an sich, aber König Georg Podiebrad forderte es bald mit starkem Arm wieder zurück. Doch bewilligte er durch den Traktat von 1463 gegen andere Vorteile, der Polenkönig möge Auschwitz auf Lebenszeit behalten. Als Ferdinand I. Böhmen erbte, wurde Auschwitz von ihm und von allen seinen Nachkommen zurück gefordert.

Dass der ewig geldbedürftige König Sigismund, Kaiser nach seinem Bruder Wenzel, die schönen, mannhaften Zipserstädte nur unter der ausdrücklichen Bedingnis ewigen Wiedereinlösungsrechtes an Polen verpfändete, ist ohnehin bekannt, und dass also der Rest der Pfandschaft immerdar zurückgefordert werden konnte, ergibt sich unmittelbar daraus.“

Sonderbar! die Geltendmachung dieser von Hormayr so klar bewiesenen Rechte verursachte der Kaiserin Maria Theresia so schmerzliche Gewissensbisse; die Erwerbung der Länder, auf welche doch nach Hormayr dem ganzen Erzhause ein altes wohlverbrieftes Recht zustand, wurde von Kaunitz als ein schnöder, die Indignation der Völker aufregender Gewinn bezeichnet!

Durch Waffengewalt hat Österreich sein Polen in Besitz bekommen und durch Waffengewalt erhält es sich in diesem Besitz. Das Verhältnis; Österreichs zu Polen ist ein Verhältnis; der Gewalt und nicht des Rechts. Der erste Gewaltschritt, welchen Maria Theresia beweinte, hat schon hundert andere veranlasst, und eben jetzt wütet im österreichischen Polen der Bürgerkrieg. Es ist bereits eingetreten, was die Kaiserin vorhergesagt, als sie die Teilungsurkunde zitternd unterschrieb, und es wird noch schrecklicher eintreten, wenn man den Weg der Gewalt nicht bald verlässt.

Denn jeder Schlag, den Österreich auf die Polen führt, wird zugleich von den Böhmen, Ungarn, Venetianern und Lombarden schmerzlich und grimmig empfunden.

Hiermit ist das ganze Verderben und die fürchterliche Gefahr ausgesprochen, welche dem österreichischen Kaisertum aus dem polnischen Missverhältnis droht.

Wie die Polen eben jetzt bewaffnet aufgestanden, so werden sie noch oft, so lang aufstehen, als polnische Herzen schlagen. Österreich aber wird ebenso oft zu blutiger Gewalt gezwungen sein. Kein Staat der Welt aber hat so dringend Ursache, jeden Gewaltschritt zu vermeiden, als eben Österreich; denn jeder solche Schritt weckt in den wichtigsten Teilen der Monarchie Erinnerungen, die mit dem Fortbestand der Monarchie unverträglich sind. —

Die Geschichte Österreichs hat Gewaltepochen, die bis in eine nicht gar ferne Vergangenheit herabreichen und schon an und für sich, ohne besondere Aufregung fortwährend eine gewisse oppositionelle Gesinnung gegen den österreichischen Gesamtstaat nähren. Diese antiösterreichische Oppositionsgesinnung ist in den wichtigsten Provinzen des Kaiserstaates vorhanden, ohne dass sich’s die Völker bewusst sind. Durch Ereignisse aber, wie dieses polnische, wird dieses Bewusstsein wach gerufen. Da kann man dann in Böhmen und Mähren die Äußerung vernehmen: „Ja den armen Polen soll es so ergehen wie es uns ergangen ist, und sie glauben sich dessen noch erwehren zu können.“ Da hört man ferner die Ungarn sagen: „Nehmen wir uns ein Beispiel an den Polen; wehren wir uns um unsre Selbständigkeit; wir können es noch leichter tun als die unglücklichen Polen, denn wir sind noch nicht so arg geknechtet wie sie.“ — Die österreichische Regierung hat spionierende Organe genug, sie kann sich überzeugen, dass ich hier die volle Wahrheit spreche.

Gerade in ihren wichtigsten Bestandteilen, in Ungarn und Böhmen hat die österreichische Monarchie äußerst gefährliche Erinnerungen gegen sich. Beide Reiche waren Jahrhunderte lang selbständig, waren ungleich bedeutender als die eigentlichen österreichischen Erbländer, hatten eine zum Teil glanzvolle politische und nationale Geschichte. Sie können sich noch immer nicht daran gewöhnen, bloße Provinzen eines Reiches zu sein, da sie selber im wahren Sinn des Wortes Reiche gewesen; da Böhmen einst seine Herrschaft vom adriatischen Meer bis zur Ostsee, Ungarn bis über den Balkan ausgedehnt hatte. Beide Reiche waren ferner eine Zeit lang Herren des eigentlichen Österreichs; Böhmen unter Ottokar, Ungarn unter Mathias Corvinus. In beiden Königreichen hatte der Adel früher wahre Majestätsrechte, die den König, der überdies vom Adel gewählt wurde, weit mehr beschränkten, als es bei den heutigen Repräsentativ-Verfassungen der Fall. In Böhmen wurden diese Adelsrechte gewaltsam gebrochen und vernichtet; aber die Erinnerung daran blieb lebendig und der Adel, der obendrein den größten Teil des Landes inne hat, betrachtet sich noch immer als den Herrn des Landes. In Ungarn gelang der Umsturz der aristokratischen Verfassung nicht vollständig, allein die Ausübung derselben wird durch die Wucht der übrigen Staatsmacht sehr gedrückt und beengt, und die Ungarn empfinden dies mit Groll. Und eben das Schicksal Böhmens hält sie in fortwährender ängstlicher und kampffertiger Spannung. „Man möchte uns gern auf böhmischen Fuß setzen,“ sagen die Ungarn bei jeder, selbst bei der wohlgemeintesten Proposition der Regierung; und in Böhmen wieder kann man bei jeder Kunde von der ungarischen Oppositionsbewegung das Urteil hören: „Die Ungarn haben recht; man will ihnen wie uns die Hände und Füße binden und den Mund knebeln.“ — In beiden Reichen ist ferner noch das Gedächtnis der fürchterlichen Religionsverfolgung vorhanden. Wie stockkatholisch auch namentlich Böhmen zu sein scheint; es gibt doch noch Gegenden in diesem Lande, wo die Bauern sich Kelche in die Balken ihrer Häuser schneiden, wo man den Kopf Ziskas auf Stöcken trägt und diese oft höchst unheimlich gegen Südost hin schwingt; wo man auf Huß Litaneien singt! — Ich erzähle keine Dichtung, ich habe das alles gesehen und gehört. — Zu dem allen kommt noch in Ungarn und Böhmen, so wie in Illyrien und Dalmatien, in Venedig und in der Lombardei die Nationalität! *)

Diese großen Verschiedenheiten und Antipathien hätten nur durch eine recht schwungvolle Regierung, durch eine recht glänzend ruhmvolle Politik, durch recht hohe geistige Freiheit ausgeglichen und versöhnt werden können, wie dies z. B. in Frankreich geschehen, wo Burgunder, Normannen, Briten, Wallonen, Basken, Provenzalen, Italiener und Deutsche ungeachtet des Verlustes ihrer Selbständigkeit zu begeistert stolzen Franzosen gemacht worden sind. Zu einer ähnlichen Politik aber hat sich Österreich nicht entschlossen, sondern vielmehr zur entgegengesetzten.

*) Die nationale Schwierigkeit Österreichs ist so bedeutend, dass wir sie in einem eigenen Absatz ausführlicher betrachten müssen.

Daher sind alle feindlichen Erinnerungen, alle Antipathien, aller politische, nationale, provinziale und kirchliche Separatismus lebendig geblieben. Jeder neue Gewaltschritt Österreichs aber schwört den Rachegeist der blutigen Vergangenheit neuerdings herauf. Durch solche Gewalt aber hat Österreich Galizien an sich gerissen, durch solche Gewalt muss es diesen Besitz behaupten.

Österreich schien früher dieses gefährliche Missverhältnis auch erkannt und gewürdigt zu haben. Es gab durch unzweideutige Zeichen zu erkennen, dass ihm der Besitz des polnischen Landes kein angenehmer. Man wollte mehrere Gelegenheiten benützen, sich des ungerechten Gutes zu entledigen. Im Jahr 1808 z. B. machte Österreich den Antrag, Polen unter einem preußischen Prinzen herzustellen, wofern Preußen mit Österreich gegen Frankreich losschlagen wollte. Nicht minder war man geneigt, Galizien für Illyrien abzutreten.

Im Bundesvertrag zwischen Napoleon und Franz, Paris, 14, März 1812, *) kommt freilich folgender geheime Artikel vor:

*) Es dürfte nicht uninteressant sein, noch einige Artikel jenes Vertrages mitzuteilen. Sie lauten:

„Es soll immerwährende Freundschaft, Einigung und Allianz zwischen Frankreich und Österreich bestehen.“

„Die hohen kontrahierenden Mächte garantieren sich gegenseitig die Integrität ihrer jetzigen Staaten.“

„Sie werden stets in Gemeinschaft an solchen Maßregeln arbeiten, die ihnen zur Erhaltung des Friedens als die zweckmäßigsten erscheinen.“ (So sprach man, als eben ein riesiger Krieg begonnen wurde! Wundervolle Naivetät und Konsequenz der Diplomaten!)

„Sie garantieren die Integrität der ottomannischen Besitzungen in Europa.“

Dann kam noch folgender sentimentale geheime Artikel:
„Im Fall eines glücklichen Ausgangs des Kriegs verbindet sich S. M. der Kaiser der Franzosen, S. M, dem Kaiser von Österreich Indemnitäten und Zuwachs von Ländern zu verschaffen, die nicht allein die Opfer und Kosten der Mitwirkung Sr. besagten Majestät in diesem Kriege kompensieren, sondern die als ein Denkmal der innigen und dauernden Freundschaft, die zwischen den beiden Herrschern besteht, zu betrachten sein sollen.“
Also Napoleon versprach Österreich ein großmütiges Geschenk! Nur ist nicht abzusehen, welchen Länderzuwachs er meinte. Die Integrität seiner Staaten war garantiert. Bayern, Sachsen, Preußen usw. waren seine Bundesgenossen, hatten ebenfalls Anspruch auf Belohnung. Die Integrität der Pforte war ebenfalls garantiert. Österreich hätte also nur noch ein Stück von Polen bekommen können! Abermals eine Lehre für die französischen Polen.


„Im Fall, dass in Folge des Krieges zwischen Frankreich und Russland das Königreich Polen wieder hergestellt würde, garantiert Se. Majestät der Kaiser von Frankreich noch besonders an Österreich den Besitz von Galizien.“

Allein wenn man bedenkt, wie illusorisch alle Verträge waren, die Napoleon, und die man mit Napoleon schloss, so kann man diesem geheimen Vorbehalt keine besondere Bedeutung geben. — Die Polen könnten übrigens aus diesem geheimen Artikel einsehen lernen, wie lügnerisch die Proklamationen waren, durch die sie Napoleon damals in den Tod lockte. Aber sie verehren den treulosen Korsen noch immer als ihren Abgott. Mickiewicz nennt ihn gar den zweiten Messias der Menschheit! Der dritte soll nach Mickiewicz's Weissagung ein junger polnischer Dichter sein. Man sieht, wie das Unglück diese schwärmenschen Patrioten dem Irrsinn nah bringt.

Während der letzten Erhebung Polens herrschte in Wien eine ganz merkwürdige Stimmung. Der österreichische Beobachter brachte die Kampfberichte in einer für die Polen unverkennbar günstigen Fassung. Ich lebte damals in Wien in dem Klinkowström'schen Erziehungsinstitute als Lehrer. Dort wurden Siegesnachrichten der Polen von der ganzen Jugend mit Jubel empfangen, ohne dass der Direktor, der ein Schwager Pilats, des Sekretärs Metternichs war, dies irgendwie verwies. Zuletzt wurde für die Polen geradezu gebetet, weil sie ja gute Katholiken wären und vor der Schlacht und mitten in der Schlacht das Bild der Maria von Czenstochau küssten. Aus österreichisch Polen gingen damals nicht nur Lebensmittel und Waffen nach russisch Polen, sondern auch Jünglinge und Männer, die Waffen für die Polenfreiheit zu führen. Bekanntlich kam die österreichische Nachsicht dem Zar bedenklich vor; er führte Beschwerde. Da verbot Österreich die Ausfuhr von Sensen nach Polen und rief den Gouverneur von Galizien, Fürsten August Longin Lobkowicz, dessen Haus von dem altpolnischen Geschlecht der Popel abstammen soll, von seinem Posten nach Wien. Der Fürst wurde bald darauf zu einer hohem Stelle befördert; freilich vom politischen Wirkungskreise entfernt. Er wurde Präsident des Bergwesens, und die Wiener sagten: „Den liberalen Fürsten Lobkowicz haben's unter die Erde gesteckt.“ — Zehn Jahre später raffte den wackern Mann ein früher Tod dahin. — Übrigens aber blieb alles, wie es gewesen und die Zufuhren für die Polen wurden absichtlich nicht bemerkt. Nach Unterdrückung der Erhebung kehrten mehrere galizische Studenten, die mit ihren Landsleuten gekämpft, nach Österreich zurück und setzten unangefochten, wenn auch sorgfältig beobachtet, ihre Studien fort. Ich selbst studierte zu Wien mit einem dieser Kämpfer für Polenfreiheit, der von der Revolutionsregierung eine Dekoration erhalten, die er freilich nicht auf dem Rocke, aber auf dem Herzen trug. Der Gram nagte an seinem Leben. Er nahm ein sonderbar trauriges Ende. Am Graben zu Wien fiel ihm aus hohem Stockwerk ein Fenster auf den Kopf und beschädigte ihn so schwer, dass er daran starb. — Wohlunterrichtete Personen behaupten, man sei damals in Wien darauf gefasst gewesen, die Unabhängigkeit Polens selbst mit dem Verlust Galiziens anzuerkennen.

Dass Österreich Galizien für kein bleibendes oder gar ewiges Besitztum halte, schien auch daraus vermutet werden zu dürfen, dass gar nichts geschah, das weite, dem gefährlichen Nachbar ganz offen daliegende Land irgendwie zu befestigen. Während man die westliche Grenze, die doch an deutsche Bundesländer stößt, kostspielig und abenteuerlich vertürmte, ließ man die weite galizische Grenze offen. Ja nicht einmal hinreichende und zweckmäßig verteilte Garnisonen unterhielt man in Galizien, wie sich ja eben bei dem jetzigen Aufstand bewiesen hat.

Es schien durch dies alles angezeigt zu sein, dass man im Notfall gern entschlossen wäre, das polnische Flachland preiszugeben, dass man die Karpaten als die wahre Grenze Österreichs betrachte, was sie in der Tat auch sind.

Aber dem jetzigen Aufstand gegenüber scheint Österreich all diese tröstlichen Vermutungen widerlegen zu wollen. Man scheint auch hier das System des neuen unnachgiebig harten Terrorismus durchführen zu wollen, den man eben erst zur Trauer für ganz Deutschland in der kirchlichen Angelegenheit bewiesen hat. *) Es soll hiermit keineswegs verlangt sein, dass man den bewaffneten Gegnern die Hand zur Versöhnung hinhalten solle. Was geschehen muss, geschehe. Aber um des eigenen Heiles willen nicht mehr. Die Brutalität der Soldateska hat wesentlich veranlasst, dass der Aufstand blutiger, mörderischer geworden. Man lasse dieser Brutalität, die selbst im Innern Österreichs schon oft blutigen Streit erregt, nicht die Zügel schießen. Man wird den Aufstand wahrscheinlich leicht unterdrücken; aber man hüte sich, über diese Leichtigkeit zu triumphieren und durch Spott und Verachtung die Verzweiflung des unglücklichen Volkes zu steigern. Schon jetzt ist österreichischerseits durch die mitleidslose Weise, in welcher die offiziellen Berichte den Gang der Ereignisse schildern, schwer gefehlt, ist Öl in die Flamme gegossen, ist der Unwille aller gebildeten und edel fühlenden Menschen erregt worden. Es ist unaussprechlich, wie sehr sich Österreich durch ein solches terroristisches Verfahren schadet. Gefährlicher als die radikalste Presse es je sein könnte, ist die harte, den Verdacht von Schadenfreude aufregende Sprache des österreichischen Beobachters und der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Wie kann man sich dem Wahn hingeben, durch solche Berichte die öffentliche Meinung für sich gewinnen zu können, da diese öffentliche Meinung es weiß, dass die unglücklichen, misshandelten Polen es sind, gegen welche man so spricht. Und wenn der Aufstand unterdrückt ist und man mit den Unglücklichen ins Gericht geht, o dann bedenke man, dass, wie verbrecherisch auch die Tat an und für sich erscheinen mag, dass hier doch nicht der gemeine Maßstab der Zurechnung angelegt werden dürfe, ohne eine neue himmelschreiende Ungerechtigkeit zu begehen. Es sind Polen, die man richtet! Es sind die Polen, an denen man — ich gebrauche die Worte des großen Diplomaten Kaunitz und der hochedlen Kaiserin Maria Theresia, — es sind die Polen, an denen man, um eines schnöden Gewinnes wegen himmelschreiend ungerecht gehandelt, durch deren Unterwerfung man alles verletzt hat, was bisher gerecht und heilig war! Es ist unmöglich, dass die Polen aufrichtig treue russische, preußische, österreichische Unterthanen sein sollen. Es ist unmöglich, und durch die Fortsetzung dessen, was der Grund dieser Unmöglichkeit ist, wird man gewiss nicht die Möglichkeit erzwingen.

*) Wäre gegen die Römischgläubigen ein so hartes Gesetz erlassen worden, wie gegen die Deutschkatholiken, so würden sie nicht anstehen, den polnischen Aufstand für eine Strafe Gottes auszuschreien. Zur selben Zeit, als man die Deutschkatholiken als eine angeblich revolutionäre Sekte aus Österreich verstieß und ausschloss, erhob ein großer Teil des römischen Klerus in Galizien die Waffen. Solche Fälle sind nicht neu in der Geschichte Österreichs. Ich habe in meinem „Jesuitenkrieg“ einige der schreiendsten erzählt, ich habe dort auch auf die panslawistischen Tendenzen der galizischen Mäßigkeitsvereine aufmerksam gemacht, bin aber der böswilligen Übertreibung beschuldigt und vor Gericht gefordert worden.

Und — noch einmal sei es gesagt — jeden harten Streich, den man den Polen versetzt, empfinden auch die Böhmen, die Ungarn, die Venezianer, die Lombarden!

Durch blutige Strenge mag es wohl gelingen, den Aufstand vollständiger und auf längere Zeit zu unterdrücken, aber man wird dadurch zugleich in Millionen Herzen den letzten Funken der Anhänglichkeit an Österreich ersticken. Und der Aufstand wird sich dennoch wieder erheben, so lange es Polen geben wird. Die Mächte werden also über Polen häufiger das Henkerschwert als das segnende Friedensszepter schwingen müssen. Welch ein kläglicher, barbarischer Zustand! Wohin soll er endlich führen? Die Polen werden sich endlich zum wütenden Verzweiflungskampf erheben. Spuren wilder entsetzlicher Verzweiflung sind schon vorbanden. Wenn aber die Mächte, wenn namentlich Österreich und Preußen in diesem Kampfe auch siegen, wenn sie die Polen sämtlich niedermetzeln könnten, so wäre dieser Sieg nur die schimpflichste und verderblichste Niederlage.

In ein so unchristliches und unmenschliches Verhältnis, in diese beständige Nötigung zur offenen und recht gut erkannten Ungerechtigkeit, in diese steigende Lebensgefahr ist Österreich durch den Besitz eines „elenden Stückes von Polen“ (Maria Theresias Worte) versetzt, durcheinen Besitz, den es nicht braucht, der es nicht reicher und mächtiger, sondern ärmer und schwächer gemacht. Würde sich Österreich von diesem ungerechten Gut befreien, welche Erleichterung seines ganzen Lebens, welche Erneuerung und Steigerung der Liebe seiner Völker gewönne es dadurch! Dann könnte es, befreit von den Gewissensbissen und von dem Dämon des russischen Einflusses, mit heiterer Tatkraft an das neue Wirken gehen, welches ihm so Not tut, welches so sehr die Sehnsucht seiner Völker ist. Dann könnte es sich durch eine vertrauende freie rühmliche innere und äußere Politik, Einigkeit und Einheit schaffen, dann könnte es durch Öffnung und Belebung seiner großen noch tot darnieder liegenden Länderstrecken — um mit Kaunitz zu sprechen — in seinem Innern unter dem Segen der Völker ein Reich erobern, welches mächtiger und glänzender wäre als das ganze Polen.

Aber die Polensache hat für Österreich noch eine andere besonders verhängnisvolle Seite, weil Österreich eine so große slavische Bevölkerung hat. Der Betrachtung dieses sehr drohenden Verhältnisses widmen wir den Absatz


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutschland, Polen und Russland