Welt-, Wert- und Begriffsgefüge der Nonne

Maßgeblich für Weltbild und Welthaltung eines Menschen ist der Raum und Rang, den er dem sinnlich Gegebenen, dem Sichtbaren, der sogenannten Wirkkeit im Gegensatz zu dem anders Gegebenen, Unsichtbaren, Unsinnlichen, Glaubensmäßigen zugesteht. Und da steht der mittelalterliche Mensch, zumal der Ordensmensch — denn er zieht ja erst die legten Konsequenzen daraus — völlig und fraglos unter dem Zeichen des Pauluswortes: „Wir, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.“ Allein dieses „Sehen auf das Unsichtbare“ kann entweder nur in den höchsten, klarsten Regionen des Gedankens oder wiederum in den tiefsten, dunkelsten des Fohlens ein so bildloses Wissen, Haben, Erfahren werden, wie es uns im mystischen Erkennen und Erleben Gottes gegeben ist. In der Regel bedarf diese unsichtbare Welt der sichtbaren, mit all ihrer Formenmannigfaltigkeit, Buntheit, Schöne und bemächtigt sich ihrer teils zur naiven Ausmalung ihrer raumlosen Räume mit irdisch-überirdischen Gebilden, teils zu Deutung und Symbolisierung der Vorgange und Mittel, um sich aus der dinglichen in jene „höhere“ Wirklichkeit emporzuschwingen und darin dauernd zu befestigen. Im Weltgefüge der Nonne begegnen uns beide Bemächtigungsarten. Jämmerlich, verschmäht, vergänglich dünkt ihr zwar die sichtbare Welt mit allen ihren Kreaturen, einschließlich des menschlichen Leibes. Dennoch muß die ihr den Stoff bieten zum Aufbau der ewigen Welt, in der die träumend und wachend weilt. Aus Gold und Kristall, Blume und Quell, Sonne und Sternen, Festglanz und Königspracht, Menschenlieblichkeit und Würde fügt sich jener Himmel zusammen, der hoch über Erde und Gestirnen schwebend gedacht ist und den wir aus Märchen und Legenden so wohl kennen. Unter der Erde ist die Hölle; das Fegefeuer — nicht immer wirklich als Feuer vorgestellt — zwischen Himmel und Hölle. Aus den Ekstasen, den stärksten Verdichtungen des Phantasielebens, in denen die Nonnen häufig an jene Orte hin „entzückt“ werden, entnehmen wir darüber manche anschauliche Einzelheiten, dürfen dabei aber nie vergessen, dass diese — wenn auch nicht immer nachweislich — fast: durchwegs aus dem Bilderschatz der oben angeführten Klosterlektüre oder der mündlichen Überlieferung stammen, kaum aber je etwas ganz Eigenartiges, Neuschöpferisches zutage fördern. Oft weist die Erzählerin selbst unbefangen auf die Quelle hin, wie z. B. im Engeltalerbuch die wiederkehrende Seele ihre Himmelfahrt beschreibt: „und alle meine Wege waren behangen mit brennenden Lampen, als in der Sankt Benedikten-Legende geschrieben steht.“

Über die Vorstellung der Himmelsgröße finden wir im Tößer Buch: „In denselben sieben Jahren ward sie einmal in das Himmelreich verzück und da sah sie herab auf das Erdreich und erkannte und schaute, dass die ganze Erde so klein ist; so klein wie die Stelle, die eine Hand bedecken kann, gegen die ganze Erde ist, so klein ist die ganze Erde gegen das Himmelreich.“ Ob die „schöne Heide“, zu der Mechtild von Stans in der Vision geführt wird und auf der sie ihre selige Muhme in einem Ringe wonniglicher Mägde erblickt, im Himmel selbst gedacht ist, läßt sich nicht entnehmen, doch ist es wahrscheinlich; desgleichen bei andern ähnlichen, visionär geschauten, meist ziemlich allgemein geschilderten Landschaften, wie „ein sehr weites, schönes Feld, das war voll der allerschönsten wonniglichsten Blumen“ (Töß, S. 211), oder „eine wonniglich schöne Wiese“, auf der tönten „so minnigliche als seltsame Weisen und es standen da so zierliche Blumen und glänzten alle zusammen recht wie reines Gold“ (Töß, S. 160), oder die „wonnigliche Stätte“, an der Els von Sehssencham die schöne Jungfrau mit dem spielenden Kindlein erblickt.


Der Strafort der Seelen tritt uns namentlich in „Offenbarungen“ entgegen, am mächtigsten in der Höllenschilderung Mechtilds von Magdeburg, die man dem Inferno Dantes verglichen hat. „Ich habe gesehen eine Stadt, ihr Name ist: Ewiger Haß. Sie ist im niedersten Abgrunde erbaut aus mancherlei Steinen, den Todsünden . . . Die Stadt wurde gebaut mannig Jahr. Weh allen, die ihre Hilfe boten dar . . .“ (Oehl, S. 105). „Es ist lange her, da sah ich ein Fegefeuer, das war gleich feurigem Wasser und es sott wie feurige Glockenspeise und es war oben mit finsterem Nebel überzogen. In dem Wasser schwebten Geister wie Fische, die waren gleich Menschenbildern“ (Oehl S. 158). „Ich sah unter Luzifer der Hölle Grund, das ist harter, schwarzer Flinsstein, der wird das Bauwerk tragen immerdar“ (S. 107). „Zwischen Gottes Höhe und des Teufels Abgrund ist noch zweierlei Fegefeuer . . . Das erste Fegefeuer, das ist der nütze Jammer, den wir in dieser Welt leiden in mannigfaltigen Peinen. Das andere Fegefeuer, das ist nach diesem Leben, also groß, dass es anhebt vor der Hölle Mund und endet vor der Himmelspforte“ (S. 188).

Obwohl die Begine Mechtild sowohl nach ihrer Heimat und Herkunft, als auch nach ihrer einzigartigen Intuition und Ausdrucksgewalt nicht in unser süddeutsches Klostergebiet gehört, so müssen ihre Offenbarungen hier doch hin und wieder herangezogen werden, gerade weil sie der oft verschwommenen Vorstellungswelt ihrer Zeit durch die glühende Bildekraft der Phantasie zu einer Deutlichkeit verhilft, die uns das damalige Anschauungsschema auf das Klarste nachkonstruieren läßt. Hier sei übrigens ausdrücklich bemerkt, dass dieses Anschauungsschema nicht notwendig mit dem kirchlich dogmatischen übereinstimmen muß, ja dazu sogar nicht selten — freilich ungewollt — in Widerspruch steht.

Viel sinnenärmer ist die Fegefeuervision der Adelheid Langmann. Doch deckt sie sich mit der Mechtilds insofern, als sie einen, wohl den „obersten“ Teil des Strafortes schildert, in dem „die Seelen da schon aller Dinge abgebüßet hatten, nur dass sie Gottes nicht wahrnahmen“. Sie muß nun die Pein dieser Seelen mitleiden und „ward so übel dürstend, dass sie däuchte, sie sollte auf der Stelle vor Durst sterben. Und der Durst stand ihr nicht nach leiblichem Trinken, er stand ihr nur nach Gott selber und nach den Freuden des Himmelreiches“. Bei Mechtild lautet die entsprechende Stelle: „Darnach kommen sie durch die Hilfe und das Mitleid (der Menschen) über alle Not hinaus, das ist, dem Himmelreich also nahe, dass sie alle Freude haben. Nur dreierlei Freude haben sie noch nicht: sie sehen Gott nicht, sie haben ihre Glorie nicht empfangen, sie sind nicht gekrönt.“

Auf einen ähnlichen leidlosen Ort des Wartens auf Gott deuten die Stellen: Engeltal, S. 71 „sie wäre nicht ohne Unterlass zum Himmel gefahren, ihr Fegefeuer wäre auf einer grünen Wiese gewesen“. Seltsam berührt im Oetenbacher Buch „die schöne Heide“ zu der Ita von Hohenfels in der Verzückung geführt wird und hier die Strafe und Pein erkennt und unterscheidet, die geistlichen und weltlichen Leuten für kleine und große Sünden von den „bösen Feinden“ angetan wird; „und waren der bösen Feind so viel, dass sie umherfuhren und summten wie Fliegen und waren so gräulich, dass es niemand mit leiblichen Worten zu sagen vermöchte (Oetenbach, S. 240).

Ein andrer außerirdischer Ort, zu dem Alheit von Trochau entzückt wird, ist der, da die ungetauften Kindlein hinkommen und wegen der Erbsünde „Gottes Augen nimmermehr sehen“ (Engeltal, S. 10). Das „irdisch Paradies“ in dem Diemut Ebnerin mit Elias und Enoch und einer jüngst verstorbenen Seele redet, findet sich ebenfalls bei Mechtild: „Enoch und Elias . . . die jetzt sind im süßen Paradiese und leben da mit Seele und mit Leibe in derselben Wonne und essen diese selbe Speise, die Adam gegeben war — wenn er darinnen hätte bleiben wollen“ (Oehl, S. 154).

Diese s wohlgegliederte, wie man sieht, völlig räumlich gedachte Gefüge der sinnlich-übersinnlichen Welt wird durchweht und durchwirkt von der Gottheit, die unter dem Gleichnis des ausfließenden Meeres, des überströmenden Brunnens, des brennenden Lichtes, der ewig lebendigen Sonne gesehen wird, Bezeichnungen, die meist dem älteren und neueren Sprachgut der Deutschen Mystik entnommen sind, ähnlich wie sich der heutige Gebildete gewisse philosophische Schlagworte, wie Übermenschentum, Umwertung, Intuition, Wesensschau usw. angeeignet hat, ohne sich ihres Sinnes innerhalb ihrer bestimmten Systemzusammenhänge immer ganz klar zu sein. Darum darf es uns nicht wundernehmen, wenn wir z. B. bei der Nonne die Unterscheidung zwischen Gottheit und Gott kaum antreffen, die in der spekulativen Mystik eine so große Rolle spielt. Es soll auch im folgenden auf die Herkunft solcher Anschauungen und Ausdrücke nicht weiter eingegangen, sondern die einzelnen Wesenheiten: Gott, Christus, Heilige, Engel usw. einfach so dargestellt werden, wie sie uns aus unteren Klosterchroniken entgegentreten.

Gott werden die vollkommensten Eigenschaften zugeschrieben, so: unsägliche Barmherzigkeit und Schöne (siehe das prächtige Bild von der goldenen Kirche, Engeltal, S. 510), zeit- und wandellose Güte, immer und alles vermögende Gewalt, die ihn nach Elsbeth Stagels schönen Einleiteworten heute genau wie vor tausend Jahren seine Gnaden wirken läßt (Töß, S. 135). Die Allwissenheit auch der winzigsten Dinge, so „dass das kleinste Mücklein sein Füßlein nicht hinsetzen kann, Gott schaue es denn klar“, ja die durch ein drastisches Bild dargestellte Unmöglichkeit, dass ihm etwas entgehe (Töß, S. 227). Ebenso unmöglich ist es ihm, sich seinen sehnenden Freunden zu versagen (Töß, S. 138), eine (allgemein mystische) Überzeugung, die ihre Begründung aus dem Vorstellungsschema des überfließenden Brunnens holt, der nicht anders kann, als sich in die „Leere“ des ichlos gewordenen Menschen oder in die „Tiefe“ seiner demütigen Seele zu ergießen. Das spielende, fast wahllose Schenken seiner Gnade drückt sich in der Offenbarung Christine Ebners aus, wo der Herr zu ihr spricht: „Du hast es um mich nicht verdient. Mich hat dessen gelüstet. Ich hab es von meiner spielenden Gottheit, dass ich tue, was mich lüstet.“ Und ein andermal: „Wenn ich alle Tage tausend Welten tät erschaffen, so wollt' ich jedem Menschen etwas Besonderes tun, ich bin voller Überflüssigkeit, ich bin ein Geschenk der überfließenden Liebe“ (Chr. Ebner, S. 27). Eine wunderbar befriedende Wirkung übt die Vorstellung aus, dass Gott bei frommen Menschen „ruhen“ will (Töß, S. 235). Auch zu Christina Ebner redet er: „Ich hab mir eine ewige Ruhe in dir gemacht“ (Christina Ebner, S. 25). Menschförmig sind ja alle diese Gotteseigenschaften mehr oder weniger — wie wäre es bei der Begrenztheit unserer Einbildungskraft anders möglich? — ober fast immer groß und edel gesehen und wohl geeignet, eine Seele höher und immer höher über sich selber emporzuheben. Vielleicht am übermenschlichsten und zugleich rührendsten spricht Gottes Liebesgröße doch aus jenem Gesichte der Jüzi Schulthasin, wo er seine Rechte minniglich über alle hält, auch über die, welche, ihm ewig abgewandt, kleinlich wie nach Nadeln auf der Erde suchen und von denen er die gütlichen Worte spricht: „Nun sieh, wie recht lieb sie mir sind; bitt für die!“ „Aber“, fügt die Erzählerin hinzu, „da war kein Bitten und nichts als Gott schauen“ (Töß, S. 234). Und wahrhaftig, solch überschwebendes Verstehen und in Liebe Bergen aller irrenden Kreatur setzt in der Gott so Erschauenden eine eigene Wesensweite und Tiefe voraus, die ganz nahe an jene Grenzen rührt, hinter denen der sonst wort- und bildumkleidete Gott hüllenloses, lautres Erleben wird.

Das Trinitätsgeheimnis, von den mystischen Denkern so tiefsinnig gedeutet, beschäftigt auch unsere Nonnen, findet jedoch in Visionen meist seine ziemlich einfache Lösung. Drei „schöne Herren“ erscheinen, einander so gleich, daß, „hätte man ihrer einen verloren, man könnte nicht geprüft haben, welcher es gewesen wäre“ (Engeltal, S. 272). Oder es werden die Dreie zu einem Einzigen (Engeltal, S. 302 und A. Langmann, S. 67), oder alle Drei umgibt ein einziges, himmlisches Gewand. Beli von Liebenberg erblickt auf ihr inniges Begehren nach Erkenntnis der heiligen Dreifaltigkeit auf einer Wiese „einen wonniglich lauteren Brunnen, der war dreifaltig und floß unablässig wieder in den Ursprung zurück“ (Töß, S. 160). Eine Art Selbstcharakterisierung der drei göttlichen Personen findet sich in Adelheid Langmann, S. 67: „Ich, der Vater minne dich und der Sohn, der da ist gesprungen von meinem Herzen und doch, so fern er je sprang, ewiglich in mir geblieben ist, und der heilige Geist, der da ist geflossen von uns beiden und doch ewiglich in uns beiden geblieben ist.“

Und dieses rätselhafte sich Durchdringen der Wesenheiten, dieses in Gottbleiben und Gottsein Christi und das im Sohnbleiben und Sohnsein des Vaters, ist der Nonne eine so geläufige Vorstellung, daß sie ihr nur selten zum Problem wird.

Christus ist ihr eins mit Gott und ihr Gebet, ihre Anrede „Unter Herr“ meint im Grunde immer diese Zweieinheit, wie häufig aus dem unmerklichen Wechsel der Namen hervorgeht (siehe z. B. Töß, S. 192: „und lobte Gott um jeglichen Schmerz, besonders, daß sie irgend etwas leiden dürfe seiner Marter zu Lob“)

Daß Jesus Christus viel öfter namentlich angerufen, persönlich erschaut, unmittelbar redend, fragend, antwortend, gebietend, gütlich tuend und tröstend erfahren und dar gestellt wird, ist eine Selbstverständlichkeit.

Die Menschwerdung gab ihm eine Leiblichkeit und Gestaltklarheit, die ihm auch in der Wiedervergottung verblieb und gleich einer schönen, erdnahen Abendwolke im Osten, alle Minnegluten auf sich sammelte, die sich sonst in der Grenzenlosigkeit der unsichtbaren Lüfte verirrt und verloren hatten.

Fast wie eine Ahnung von dieser psychologischen Nötigung zum Vermenschlichen, um das Unfassbare, Göttliche in Begrenzung und Kleinheit näher an sich ziehen, gleichsam leichter umfangen und lieben zu können, klingen folgende Worte: „Der Mensch (d. i. die Verzückte) betrachtete die Wunder Gottes, wie weise, wie groß, wie schön, wie allmächtig er ist in allen Dingen; und wie er so groß ward in ihr von Wunder, da sah sie eines Menschen Bild, das war gekreuzigt und war gar klein und sprach: Wie groß ich bin, bin ich doch klein geworden, darum, daß du mich mögest minnen“ (Oetenbach, S. 254). Das Geheimnis dieser Menschwerdung wird, natürlich auch wieder im Anschluß an schon vorhandene mystische Deutungsgepflogenheiten, in folgenden Stellen berührt: „Sie erkannte auch klar, wie das ewige Wort zu Fleisch geworden war in der Magd Leib. Sie erkannte auch klar, in welcher Minne er das tat, wie groß die Seligkeit und das Heil des Menschen durch seine Geburt war“ (Töß, S. 225). „Und in einer Nacht, da war ihr, als käme etwas zu ihr und gäbe ihr eine Schnur in die Hand, die war aus roter und grüner Seiden zusammengeflochten. Da sprach sie: Was soll dies? Da ward ihr geantwortet: Die rote Seide bedeutet die hohe Gottheit, die grüne bedeutet die Menschlichkeit unsers Herrn. Daß die rote und grüne zusammengeflochten sind, das ist:, daß die zwei Naturen, göttliche und menschliche, vereinet wurden in unserer Frau. Damit sollst du diese Zeit (Advent) umgehen und sollst die Schnur flechten und entflechten“ (Katharinental, S. 166).

Daß in einem Kreise oft lebhaft und kindlich empfinden der Frauen dieses rein geistige Geheimnis der Menschwerdung Christi an Interesse hinter den körperlichen Vorgang dieses Geschehens zurückritt, ist leicht zu begreifen. Was Ignatius von Loyola in seinen „Geistlichen Übungen“ in der Betrachtung „Ober die Geburt des Herrn“ (2. Woche, 1.Tag) an bewusster An1pannung aller sinnlichen Vorstellungskräfte fordert, nämlich die bis in die geringfügig den Einzelheiten getreue Einfühlung in das zu beschauende „Mysterium“, das üben die Nonnen in ihrem „rein mütterlichen und naiv theologischen Interesse“, wie Zoepf es nennt, mit einer unbewussten Ausführlichkeit und Konzentration, die in vielen Fallen zu Vision und Ekstase führt. Das Werden des Jesukindleins im Mutterleib, das Herannahen des feierlichen Augenblickes der Geburt wird von ihnen in heiligem Schauer miterlebt. So ward „unsere Frau auch zu einem Male in Adelhausen gesehen an der Weihnacht Abend unter der Komplet, daß sie durch den Chor ging und hatte einen wonniglichen Mantel an und war groß als eine Frau, die bald eines Kindleins genesen soll“. Noch weiter geht der Traum Christina Ebners, in dem ihr ist, als ob sie selbst unsers Herrn schwanger wär worden; und sie empfindet diese Gnade in allen Gliedern ihres Leibes und eine solche Zärtlichkeit gegen das Ungeborne, daß sie sich hütet auf das kleinste Hüglein zu treten, um nur ja dem Kindlein nicht wehe zu tun (Chr. Ebner, S. 15). Dann träumt sie auch seine Geburt „ohn allen Schmerzen“ und mit „so gar überschwänglicher Freude über sein Angesicht“, daß sie es ins Refektorium zu den Schwestern trägt und ihnen zuruft: „Freuet euch mit mir allesamt, ich mag euch mein Freud nit länger verhehlen, ich empfing Jesum und hab' ihn nun geboren“ (Chr. Ebner, S. 15). Zu Adelheid Langmanns Bett kommt eines Nachts Maria und legt ihr das Kindlein zum Säugen in ihren Arm (Langmann, S. 67). Margarethe Ebner wird nicht müde, in ihren Visionen das Jesuskind selbst um alle erdenklichen Einzelheiten seiner Geburt und Kindheit zu fragen, z. B. „ich fraget aber, ob es mit seiner Mutter irgend etwas mit menschlichen Worten redete, ehe es zu sprechen begann. Es sprach: nicht, außer mit einem Empfinden süßer Gnade, die aus mir in sie floß“ (Marg. Ebner, S. 99). Wortmächtig und hold zugleich, wie keine, gestaltet Mechtild von Magdeburg in ihrer Offenbarung : „Von Sankt Mariens Gebet, Von Gabriels Licht, Von des Kindes Tuch, Wovon die Milch und des Kindes Opfer kam, Von den Teufeln und vom Hungertuch,“ die ganze Geburtsgeschichte Jesu, die in ihrer Kraft und Innigkeit an Dürers Darstellungen der heiligen Familie gemahnt. Ihre prachtvolle Epik hat wohl unzählige zu ähnlichen Gesichten hingerissen und verlockt, auf solchem Grunde endlos spielend weiterzubauen.

In unsern beiden Nonnenbüchern begegnen uns derlei Situationsausmalungen seltener als das gleichsam zeitlos gewordene Christkind, in der Art, wie es untere Kinder heute noch glauben und lieben. Zu Hunderten zählen diese Christkindvisionen. Es wandelt sich aus der Oblate in des Priesters Hand; es entsteigt dem Messbuch; es geht mit festen Schrittchen über den Altar, daß seine Goldlöckchen schüttern; es setzt sich auf das ausgebreitete Gewand der beseligten Nonne; es spielt mit der einen Ball, der andern läuft es voran ins Refektorium, schlüpft unter ihren Mantel und sitzt mit ihr zu Tisch. Es erscheint je nach dem Alter in verschiedener Größe, der Adelheid Langmann neugeboren, nur eine Spanne lang (Langmann, S. 66), der Anne Vorhtlin von Nürnberg auch hilflos und klein, auf hartem Heu gebettet, aber ein andermal hatte er „schon ein Gewändlein an und spielte vor ihr gar minniglich“ (Engeltal, S.515). Zuweilen kommt er allein und es entspinnt sich ein Frage-Antwortspiel, das in seiner knappen Schönheit und dem jähen, geheimnisvollen Schluß an alte deutsche Märchen anklingt: „Lieb's Kind, hast du ein' Mutter?“ Da sprach's: „Ja.“ „Haft du einen Vater?“ Da sprach's: „Ja, mein Vater der ist ewig.“ Da sprach sie: „So bist du unser Herr Jesus Christus.“ Da verschwand es (Engeltal, S. 518). Mitunter bringt Maria das Kindlein getragen, spielt lieblich mit ihm oder bietet es der Nonne zum Liebkosen dar; aber es klammert sich wohl auch nach Kinderart an der Mutter Hals und will nicht von ihr lassen.

Man ist mit dieser Andacht zur Kindheit Jesu scharf ins Gericht gegangen. Birlinger, der Herausgeber des Katharinentaler Buches, schreibt: „Dies Knäblein war das Jesuskindlein, das ist, es war etwas, was nicht existiert. Denn das sollten wohlunterrichtete Christen doch wissen, daß unser Heiland kein Kind mehr ist und daß er, wenn er doch erscheinen wollte, nicht als Kind, sondern als Mann erscheinen würde, so wie er den Aposteln erschien, indem er ihnen sagte: „Sehet meine Hände und Füße!“

In diesen Worten offenbart sich das Vernichtungsurteil, das die jüngst verflossene Epoche des äußersten Rationalismus über das mystische Zeitalter aussprach; die ganze Kluft zwischen zwei Weltanschauungen, von denen die eine alles auf das sichtbar Existierende, die andre alles auf das Unsichtbare, aber für sie ebenso Existierende bezog. Hier schreibt der Verstand vor, wie Jesus logischerweise zu erscheinen hätte, dort erscheint er unbekümmert in allen Gestalten, in denen ihn die Seele nach Herzensluft liebhaben und umfassen kann. Hier wird alles, was nicht mehr zeitlich und räumlich gegenwärtig ist, als „nicht existierend“ zum Tode verurteilt, dort wird fließende Zeit zum ewigen „Nu“, in dessen geheimnisvoller Klarheit die Licht- und Wesensstrahlen von Jahrtausenden sich kreuzen.

Dem Katholizismus gebührt das Verdienst, auch in Jahrzehnten trostlosester Nüchternheit und Armut (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) die Wertfülle mittelalterlicher Frömmigkeit unentwegt bejaht und behütet zu haben. Doch sind manche Darsteller, z. B. gerade der hochverdienstliche Greith, in dieser Bejahung aller religiösen Ericheinungen vielleicht zu weit gegangen und haben durch die unterschiedslose hohe Bewertung aller kirchlich umrahmten Ericheinungen, z.B. auch des gesamten Nonnenlebens, um so heftiger zu Kritik und Widerspruch herausgefordert. Auf protestantischer Seite ist damals Preger mit Eindringlichkeit und Wärme an das Problem der deutschen Mystik herangetreten; rührend und sehr bezeichnend für die damalige Zeithaltung sind die Einleiteworte zu seiner „Deutschen Mystik“, worin er sich fast entschuldigt, daß er sich mit einem solchen Gegenstand befasse, und zu erweisen sucht, daß die deutsche Mystik doch nicht durchwegs als Krankheitserscheinung anzusprechen sei.

Heute, wo wir aus der Verstarrung der rationalistischen Denkweise allmählich erwachen, suchen wir aus unserer inneren Verödung heraus instinktmäßig gerade das reiche, rauschende, blühende Land der Mystik und gewinnen reinste Freude an ihren naivsten wie tiefsinnigsten Ausdrucksformen, weil sie ja alle aus einem Lebensquellgrund stammen, den wir wieder erschürfen möchten. Damit uns diese Freude nicht verkümmert werde, müssen wir auch jetzt auf der Hut sein vor der Zersetzung des noch lange nicht überwundenen Rationalismus, der sich unter der Maske falsch verstandener Wissenschaftlichkeit verbirgt und bestrebt ist, einerseits als so genannte Psychopathologie alle uns unfasslich gewordenen Äußerungen damaligen Seelenlebens in „Anomalien“ aufzulösen, anderseits als so genannte Psychologie keine seelische Erscheinung „unerklärt“ zu lassen und sie womöglich auf irgendein bekanntes, obwohl meist noch lange nicht erkanntes Phänomen zurückzuführen, z.B. Suggestion, Halbschlaf, Halluzination usf., ganz übersehend, daß mit einer solchen Benennung die fragliche Sache eher verschleiert, weil erledigt erscheint, während wahrer Psychologie zunächst mit einer reinen Phänomenologie der betreffenden psychologischen Tatsachen und äußerster Zurückhaltung in bezug auf verfrühte Erklärungsversuche viel besser gedient ist. Es gilt hier also für den Laien so wohl als für den Wissenschaftler mehr zu fragen als zu antworten, mehr zu schauen als zu urteilen und verurteilen.

Diese scheinbare Abschweifung hat auch engsten Bezug auf die Jesuskindmystik der Nonne, die manche geneigt sind, lediglich auf krankhafte Äußerungen unerfüllten Sexual- und Fortpflanzungstriebes zurückzuführen. Übrigens finden wir gerade bei Adelheid von Frauenberg, die als Witwe und Mutter mit ihrem Kinde in das Kloster Töß eintritt, diese Minne zu unseres Herren Kindheit in besonderem Ausmaße, ebenso ihre so manchem wahrscheinlich „pervers“ erscheinende Sehnsucht nach einem Tröpflein von der Milch, die unserer Frau entfiel, „da sie unsern Herrn säugte“ (Töß, S. 191). Mag in vielen Fällen auch eine sogenannte krankhafte Ausartung irgendeines Triebes walten, so frage man sich einmal ehrlich: was ist eigentlich krankhaft, unnatürlich? Ist eine Zentifolie krankhaft, weil ihre Staubblätter (Fortpflanzungsorgane) sich in lauter sinnlos duftende Blütenglut gewandelt haben?

Wir wollen daher auch in der Jesuskindmystik nicht nach den sicher zuweilen vorhandenen pathologischen Ursachlichkeiten ausspähen, sondern sie mit Zoepfs schönen Worten als ein Gefühl verstehen lernen, das „mit klaren, hellen Farben malt auf dem ewig goldenen Grund der mütterlichen Liebe“ (Zoepf, S. 151).

Der Lücke in den Evangelien entsprechend erscheint erst wieder der Knabe Jesus sieben- bis zwölfjährig in der Vision der Mystikerinnen, aber weit seltener als das Kindlein. Eine Leichtigkeit und Lieblichkeit ist ihm eigen, er bringt Blumen und Kränze mit; so kommt er zu Anna von Ramswag, schüttet die schönsten Blumen vor sie hin und wirft ihr zwei Wunderrosen an das Herz (Katharinental, S. 176). An seiner Mutter Hand erscheint er im Chor Schwester Reichgart in Engelthal, liebkost sie und ladet sie zum ewigen Gastmahl im Himmel. „An derselben Stätte kam sie der Tod an und starb mit einem heiligen Ende“ (Engeltal, S. 300). Eine eigenartige Ausdruckgewalt, wie sie zuweilen im Volkslied oder Märchen dichtet, liegt auch im folgenden stummen Spiel: der zehnjährige Jesus tritt in die Kapelle, einen grünen Kranz in der Hand. Und wie er jeder Schwester sein Kränzel aufsetzt und wieder wegnimmt, bis er's endlich der Laienschwester Elisa gibt und belässt „da verstunde sie sich wol, dass er sie von diser werlt wolt nemen“ (Engeltal, S. 520). Äußerst zahlreich sind die Visionen von Jesus „da er war um dreißig Jahr“ . Doch sind sie meist ohne Bezug auf biblische Situationen; Visionen, wie seine Taufe im Jordan (Katharinental, S. 161 und Engeltal, S. 272), seine Versuchung in der Wüste (besonders bezeichnend als Beispiel innigster und anschaulichster Kontemplation, Töß, S.251), seine Auferweckung des Lazarus und das nachfolgende Mahl in Bethanien (Engeltal, S. 281) sind vereinzelt gegenüber den Kindheits- und Passionsvisionen.

Von der überragenden Bedeutung der Passionsbetrachtung Christi im ganzen Gebetsleben der Nonne war schon die Rede. Schmerzvoll und wonniglich zugleich war es der Mystikerin, die Bitterkeit seiner Qual und darin die unendliche Süße seiner Liebe in sich zu trinken, einer Liebe, die nicht nur der Menschheit im allgemeinen, sondern ihr selbst, der Beschauenden, ganz bluteigen geschenkt ward, in jedem Augenblick der demütigen Empfänglichkeit neu. Diese Seligkeit des sich Beschenkenlassens und grenzenlos in Dank Hinfließens, die nicht mit einer sexuellen, perversen Luft am Ausmalen körperlicher Schmerzzustände verwechselt werden sollte, treibt die Nonne immer wieder zu Füßen des gemarterten und gekreuzigten Christus.

„Wenn sie dann wieder kam zu unsers Herrn Marter, so freute sich ihr Herz in ihrem Leib also, daß es vor Freuden sich bewegte“ (Oetenbach, S. 250). „Und sah und erkannt und befand unsers Herrn Marter in einer süßen Sanftheit, und sonderlich sah sie da seinen menschlichen Leib, als er vom Kreuz genommen ward, und ward erkennend, wie göttlich und wie gütlich er sich allen Menschen gegeben hat mit seiner Marter; und sah, wie die Freude wonniglicher und größer ist, die wir haben von seiner Marter, als wir hatten, wenn Adam nicht gefallen wäre“ (Oetenbach, S. 245). Selbst das Saugen oder Küssen der Wundmale Christi, das scheinbar den Gipfelpunkt abstoßender Sinnlichkeitseinmengung in religiöse Inbrunst bedeutet, ist nur naiv- symbolischer Ausdruck für geistige Gnadenhinnahme, wie die „Offenbarung“ der gewiß sonst stark sinnlich veranlagten Adelheid Langmann erweist: Jesus Christus spricht zu ihr: „Komm her, meine Geminnte, meine Liebe und meine Zarte, und küsse die Wunde meiner rechten Hand und zeuch daraus meine göttliche Barmherzigkeit ... ich will dir ewig mitteilen meine Barmherzigkeit und meine Mildigkeit. Komm her, mein Lieb, und küsse meine linke Hand und zeuch daraus meinen Gehorsam.“ Ebenso soll sie seine übrigen Wundmale küssen und daraus seine Treue, Reinigkeit und den völligen Genuß seiner Gottheit und Menschheit ziehen (Adelheid Langmann, S. 69, 70). Auch die Berührung Ita von Hutwils mit dem Gekreuzigten findet ihre schöne seelische Deutung: „Sie sah und befand, dass unser Herr diese vier Wandlungen in ihr hatte: die erste, dass unser Herr an dem Kreuz stand und sie bei ihm. Zum Zweiten, dass sie an dem Kreuz stand und er unter ihr und sie stützte. Zum Dritten, dass er sich recht auf sie lehnte“ usf. Der Sinn dieses Gesichtes wird ihr nachträglich zu erkennen gegeben. Daß die bei ihm gestanden, bedeutete ,,wenn sie war in Beschwerde und in Arbeit, so trug er das so eigentlich, dass die alles, was ihr doch von Natur sollte wehgetan haben, weder inwendig noch auswendig empfand.“ Und so wie er die gestützt hatte, so wollte er die halten, dass die nicht in Verderben und Übel fiele. Und so wie er sich auf sie gelehnt hatte, „so wollte er seine Ruhe in ihr haben“ (Oetenbach, S. 249, 250, 251). Hier tritt die Schmerzensgestalt Jesu schon unmittelbar ins Alltagsleben der Nonne und bestimmt ihre Tat und Leidenshaltung. Ähnlich bei Adelheid von Frauenberg, der Jesus verkündet, dass die ihm durch ihr fröhliches, geduldiges Ertragen ihrer Krankheit alle seine Wunden geheilt habe (Töß, S. 194). Wo die Passionsbetrachtung so wahrhaft auferbauende Kraftströme ins Leben aussendet und das tat die hier in tausend und abertaufend Fällen — da empfängt sie von eben diesem Leben her Sinn und tiefste Berechtigung. Und wenn wir Verstandes und Wortmenschen uns vielleicht auch an einem Christentum stoßen möchten, das an Stelle der umfassenden Heilandslehre fast einzig das Heilandsleiden in den Mittelpunkt der Frömmigkeit stellt, so übersehen wir, dass Religion sich niemals an Worten sondern letztlich an heiliger Geistkraft, die hinter allen Worten und Täten glüht, entzündet. Dürften wir darum wirklich den Menschen für einseitiger und kleiner halten als uns, der diese heilige Geistkraft in dem Lebensakt Christi an sich reißt, in dem die zwar am wortlosesten brennt, aber hinter dieser Stummheit die ungeheuerlichste innere Kraftgipfelung ahnen und spüren läßt: im freien Opfertod? Und weil jene Zeit im Ahnen und Spüren so viel stärker war als wir, so mussten wir ihr diesen Weg der Intuition zubilligen, mag uns auch der Umweg über die Lehre der gangbarere erscheinen. Mit diesem Zugeständnis vor Augen werden uns die vielen Passionsgesichte unterer Nonnenbücher weniger befremden, ja vielleicht sogar in ihrer Mitleidensgewalt ergreifen. Kaum ein Moment der ganzen Marter Jesu bleibt von der Nonne unbeschaut, unbeweint, unbedankt. Sie sieht ihn, „mit seinen Jüngern, als er zu Tische saß an dem großen Donnerstag (Gründonnerstag). Von diesem Gesicht ward sie so voll Freud, dass die vergaß aller Ding, die sie zuvor gedacht hatte, zu bitten“ (Katharinental, S. 165). Sie erblickt unsern Herrn „in menschlichem Bilde, wie er war, da ihn Judas küsste, in dem Ernst, als er da war“ (Oetenbach, S. 272). Sie sieht ihn durch ihr Schlafgemach geschleppt werden „so wie ihm die Juden getan, da er gefangen wurde. Und dies war ein so jammervolles Gesicht, dass es ihr so tief zu Herzen ging, dass die um diese Stunde nie mehr schlafen wollte“ (Töß, S. 155).

Ein einziges Mal war Margret Willin vor der Primzeit zu Bett gegangen, da stand unser Herr vor ihr und sprach: „Zu dieser Stunde stand ich vor Gericht; und du liegst hier und schläfst!“ (Töß, S. 155). Geißelung und Dornenkrönung, Kreuzigung und Grablegung werden in glühender Andacht, oft unter den heftigsten körperlichen Schmerzerscheinungen miterlebt. Mechtild von Stans „zeigte unser Herr all die Martern einzeln, die er gelitten“ von der Gefangensegnung bis zur Kreuzabnahme (Töß, S. 214). Dieselbe Mechtild empfing auf ihr inständiges Gebet in der Ekstase die Herzwunde Christi, von wo der brennende Schmerz dann „hinauswallte und ausschlug in Hände und Füße“, so dass man bald öffentlich sagte, sie trüge die fünf Minnezeichen (Töß, S.215). Ähnlich Irmgard von Kirchberg (Kirchberg, S. 17) und Agnes von Nordera, die täglich zur Kreuzigungsstunde an Händen und Fußen Schmerzen fühlten (Adelhaufen, S. 185). Den Höhepunkt „christförmigen Leidens“ aber erreichte wohl Margaretha Ebner. Sie konnte von einem bestimmten Zeitpunkt an kein Wort von der Passion hören, ohne die furchtbarsten Körperqualen zu empfinden. In jeder Fastenzeit steigerte sich dieser Zustand, bis sie endlich an einem Karfreitag den Tod Christi selbst durch ein Erdehnen, Verzerren und Durchbrechen in Haupt und allen Gliedern innerlich miterlitt (Marg. Ebner, S. 155).

So ist der leidende Christus der Christus, der Karfreitag der Tag im Nonnenleben. Selbst der lichte Ostermorgen mit seiner herrlichen Urständ tritt gegen ihn an Bedeutsamkeit zurück. Selten ist die Vision des Auferstandenen. Margret von Fürstenberg, die „sonderliche Gnade zu unsers Herrn Urstand“ hat, wird in der Osternacht von einer Stimme erweckt: „steh auf, es ist jetzt die Stund, dass unser Herr von dem Tode erstand“ (Katharinental, S. 182). „Und von da an erwachte sie jede Nacht um diese Zeit.“ Auch die Engeltaler Nonnen Diemut Ebnerin und Anne Vorhtlin empfingen von Christi Urständ Trost und Gnaden (Engeltal, S. 508, 515).

Der verklärte himmlische Christus offenbart seinen höchsten Glanz in den durchleuchteten Wundmalen. Er wird in einer eigentümlichen, vergeistigten, besser gesagt luftförmig zerfließenden Körperlichkeit vorgestellt, die sogar noch sein Fleisch und Blut, gleichsam in Licht aufgelöst, enthält; „und sah, wie das Blut und Fleisch Christi vereiniget ist mit den Heiligen und mit den Seelen, also dass durch jegliche Seele Gottes Blut und sein Fleisch leuchtete . . . die sah, wie das Blut und Fleisch Jesu Christi wallte in die Seelen und wie die Seelen wieder in sein Fleisch und Blut wallten, recht als wenn es ein Ding wäre (Oetenbach, S. 245). Engeltal, S. 510, schildert eine ähnliche Himmelsdurchstrahlung, aber lediglich als Lichtausbruch aus seinen fünf Wunden, die unsägliche Freude verströmen. Zur irdischen und himmlischen Christusgestalt gesellt sich noch eine dritte, die weder völlig dieser noch jener gleichzusetzen ist. Es handelt sich um jene schon oben erwähnten Erscheinungen, bei denen die Nonne weder zu Jesus in den Himmel verzückt wird, noch in die historisch-irdische Situation seines in der Bibel geschilderten Lebens, sondern mit ihm in jene unmittelbare Gegenwartsbeziehung tritt, wie sie uns sonst in Dingen und Menschen unserer nächsten Umwelt eigen ist. Diese Anschauungsform, die alle Grade von der ganz schemenhaften, fast bildlosen Phantasierung bis zur sinnfälligsten Wahrnehmung (Gehörs-, Gesichts-, Tastempfindung) durchlaufen kann, bildet das eigentlich beseligende und den Alltag zutiefst bereichernde Element der sogenannten praktischen Mystik unserer Konvente. Dieser Christus (natürlich immer durchwebt von der Glorie des himmlischen und der Leidgröße des irdischen Heilands) ist es, der den Schwestern in Chor und Werkhaus, Refektorium und Schlafgemach, in Haus und Garten erscheint; der Ita von Sulz zum Troste gütlich tut (Töß, S. 145), der die Priorin Mechtild Tuschelin einmal zu Tatgehorsam, ein andermal zu Leidensgehorsam mahnt und kräftigt (Adelhaufen, S. 161), der Alhaid Ortlibin, die sich im Schlafhaus verirrt hat, weil ihr das Licht verlöscht ist, den Weg zur Zelle weist (Engeltal, S. 296), der Sophie von Klingnau im Chor zärtlich dankend ans Herz drückt, weil sie zuvor einer Schwester, durch die sie betrübt worden. Liebes erwiesen hat; der, von dem die alte Laienschwester Adelheid von Lindau das Liedlein spricht:

„Ach, lieber Herr, Du bist mein Vater und mein Mutter
Und mein Schwester und mein Bruder,
Ach, Herr, Du bist mir alles, das ich will.
Und Deine Mutter ist mein Gespiel (Töß, S. 245).


E. Schiller polemisiert gegen diesen Mangel an „Hoheit und Ernst“, mit dem Gott (oder Maria) beim geringfügigsten Anlaß zum Rat Erteilen, Trösten oder Entzucken genötigt werde (S. 55). „Sie haben sich ja ihren ,Herren‘ trefflich zum Liebhaber erzogen!“ (S. 55) spottet er, anschließend an eine Reihe ähnlicher Tröstungen und Gnaden (seltsamerweise als unmittelbare Anmerkung bei einer Jüzi Schulthasin, die doch zu den größten und geistigsten Frauengestalten unserer Konvente zählt). Wer solchen Vorwurf erhebt, erweist damit, dass er mit dem Wesen echter Religion wenig vertraut ist. Denn dieses besteht ja eben darin, dass die göttliche Kraft, nenne man sie nun Gott, Christus, Maria, Brahma oder Tao, zu allem und jedem, zum größten wie zum kleinsten in wirkenden Bezug gesetzt werde. Ist nicht entweder gar nichts oder alles Wunder und Gnade, jeder Lufthauch, den wir einatmen, jeder Blick, den wir tun, jede Luft und jedes Weh eine Welle vom großen Liebesstrom, der uns unaufhörlich trägt, vorwärts trägt in dem Maße, als wir ihm frag- und klaglos vertrauen? Man mag lächeln über eine Ita Sulzerin, die zur Kellerin eingesetzt ward und in der Angst, hiedurch in ihrer Andacht beirrt zu werden, dem Herrn ihr kleines Leid klagte. Aber gerade die Antwort, die ihr wird: ,,Man findet mich an allen Stätten und in allen Dingen“, ist aus so tief mystischem Grund geschöpft, daß unser Lächeln darüber verstummen muß. Dieses Gott-Haben, das Gott-Meinen Meister Eckeharts, Gott nahe sein, ihn Um-, Über-, Bei- oder In-sich spüren (alles ja nur Gestalthilfen für ein in Wirklichkeit gänzlich gestaltloses und unsagbares Erleben!),ob es sich nun in Schweigen oder Beten, Bitten oder Danken, Vision oder Ekstase, naiver Bildlichkeit oder sinnenferner Bildlosigkeit äußert, ist Religion. Mit dem Wort „in allen Dingen“ ist aber auch die Frage nach der „Geringfügigkeit“ oder Berechtigung des Anlasses entschieden, der den Frommen zu Gott führen darf. Menschenhochmut zieht Grenzen zwischen groß und klein, Menschendemut spricht mit Elsbeth Stagel: „es ist zuweilen vor Gott größer was klein erscheint, denn was sehr groß erscheint.“

Der heilige Geist wird in der Vision entsprechend Luk. 3, 22 „in leiblicher Gestalt wie eine Taube“ wahrgenommen, auch (Engeltal, S. 522) als ein über der geisterleuchteten Schwester schwebendes feuriges Rad. Im allgemeinen wissen die Nonnen gleich vielen heutigen Gläubigen, mit dem heiligen Geist wenig „anzufangen“. Doch das fromme Bedürfnis, auch ihm in der Betrachtung gerecht zu werden, veranlaßt dann so manche wie Elsbeth von Stoffeln von dem Herrn zu begehren, „dass er ihr etwas gebe zu gedenken, daran die Andacht hatte von dem heiligen Geist“ (Katharinental, S. 168). Andere bitten wohl auch, das Pfingstwunder selber erleben zu dürfen (Adelhausen und Kirchberg, S. 14), was ihnen denn auch durch ein leibliches Verspüren des Liebesgeistes gewährt wird, während Elsbeth von Stoffeln durch eine ,,Stimme in ihrem Herzen“ ein mächtiges Hohelied über Taten und Wirkungen des heiligen Geistes vernimmt. Der heilige Geist sei ein Wirker, der den guten Willen in des Vaters Herzen gewirkt hat, seinen eingebornen Sohn aufs Erdreich zu senden, eine brennende Minne, die stark macht, kühn und weise, ein ewig Licht ist, ein Trost der Traurigen, Minnenden, nach Gott sich Sehnenden (Oetenbach, S. 168, 169, 170).

Maria erscheint ähnlich wie wir es bei Christus sahen, entweder in der biblischen Situation, etwa mit Josef bei der Krippe (Katharinental, S. 160), in der Anbetung der drei Könige (Engeltal, S. 306), mit Johannes unterm Kreuz und mit dem toten Jesus im Schoß in so großem, überschwänglichem Schmerz, dass Mechtild von Stans in dieser Beschauung vor Übermacht des Mitleidens mit unserer Frau die Sinne schwanden (Töß, S. 2i4). Über die Himmelfahrt Maria, ihre Vereinigung mit dem göttlichen Wesen, von dem die mehr empfangen habe, als irgendeine Kreatur (Engeltal, S. 517), über ihr Weilen im Himmelreich mit Leib und Seele, drückt sich die Offenbarung der Jüzi Schulthasin etwas unsicher aus. „Es ward ihr (die Erkenntnis davon) gleich wieder genommen, so dass die in Wahrheit eigentlich nicht davon sprechen konnte, außer, dass die sicherlich dafür hielte, die habe unsere Frau dort leiblich gesehen“ (Töß, S. 252). Am häufigsten sind auch hier die Gesichte, die Maria unmittelbar in den Raum des Chores, Siechhauses, Dormitoriums versetzen, oft in einer Anschaulichkeit, die bis zur Farbe des Gewandes geht. Vom schützenden Mantel Marias wurde oben gesprochen. Wie lieb und lebendig schon dem frommen Kinde dieses Schutzsymbol war, zeigt die anmutige Kindheitsepisode aus Elisabeth Bechlins Leben (Töß, S. 247). Mit dem wallenden vielfarbigen Mantel schritt Maria die verscheidende Sophie von Neitstain wider die bösen Feinde der Seele (Engeltal, S. 298). Der himmelfarbene Rock, den sie Adelheid von Frauenberg unterm Mantel schauen läßt, ist durch deren fleißige Arbeit für den Konvent entstanden (Töß, S. 195); das schneeweiße Kleid, in dem sie Beli von Lütisbach erscheint, durch die vielen Ave Maria, die ihr diese so oft in Andacht gesprochen; fast launig berührt der fehlende Ärmel, der zu noch höherem Dienste „reizen“ soll (Töß, S. 244). „Singet, singet, Gottes Mutter ist hier!“ ruft Mezzi Sidwibrin den Schwestern im Chor voll freudiger Einfalt zu (Töß, S, 156). Selten finden wir eine Sterbevision, in der nicht mit Christus „seine liebe Mutter“ kommt und die dahinziehende des ewigen Lohnes versichert.

Von den Heiligen werden vorzüglich Johannes der Evangelist, Johannes der Täufer, die heilige Agnes mit den elftausend Jungfrauen, die heilige Maria Magdalena, die heilige Katharina, der heilige Dominikus u.a. visionär erblickt. Gebräuchliche Bildwerke gaben wohl häufig den Anlaß, wie wir's z. B. von der Abbildung Johannes an der Brust Jesu wissen. Es mag übrigens die Nonnen gerade bei diesem Lieblingsjünger die Frage beschäftigt haben, warum er allein nicht die Auszeichnung des Martyrertodes empfing. Diese Ausnahmestellung druckt sich in der Vision Jüzi Schulthasins aus, die Christus, Jakobus und Johannes schaut; die Kleider der beiden ersten sind innen rot, das des heiligen Johannes weiß. Schön und innerlich setzt sich Luggi von Rein mit dieser Tatsache auseinander, indem die eine Stimme zu vernehmen glaubt: „Sankt Johannes ist der größte Marterer, der je gemartert ward, denn da er unter dem Kreuz stund, da ward er also gemartert mit dem grundlosen Mitleiden von unsers Herrn Marter, dass er der größte Marterer ist in dem Himmelreich; und darum brauchte er keines peinlichen Todes mehr sterben“ (Katharinental, S. 172). Der heilige Martin erscheint häufig in Bischofs Gezierde und spendet die Eucharistie (Engeltal, S. 519). Auch besondere Kirchen- oder Ortsheilige werden erwähnt (Engeltal, S. 501; Katharinental, S. 157; Oetenbach, S. 270). Lieblich und feierlich mutet es an, wenn König David die Seele der Sterbenden „ausharrst mit seinen Klängen“ (Engeltal, S. 296; Adelh. Langmann, S. 40).

Die reich ausgestaltete Engellehre der deutschen Mystik kommt in unsern Büchern nicht sehr deutlich zur Geltung. Sie spielt wohl in die Einleitung zum Tößer Buch hinein, wo Seuse in seiner Verzückung die Besonderung der Engel nach ihrer Art und Weise zu erkennen gegeben wird (Töß, S. 125). Die verschiedenen Grade der Engelnaturen kommen auch bei Adelheid Langmann (S. 8, 9) zum Ausdruck, wo ihr nach einer Generalbeichte von Christus ein neuer, höherer, gefürchteter Schutzengel gegeben wird, weil die jetzt in „ein hohes Leben“ eingetreten sei, und die Erklärung beigegeben wird, „ein König hat einen höheren Engel, denn ein Herzog, so je höher der Mensch ist, so er je höheren Engel hat“. Diemut Ebnerin kennt „ihren Engel aus tausend andern wohl heraus“ (Engeltal, S. 509). Mechtild von Stans wird durch den ihren allnächtlich vor Mette und Prim zum Chorgang geweckt, oft mit heftigen Stößen, wenn die müde und krank ist und gern noch ruhen möchte (Töß, S. 207). Katharina Pletin bringt ihr Engel eine arme Seele, die an den Strafort soll, damit die diese freibete (Töß, S. 179). Fast ritterlich klingt Tat und Rede des Engels, der Alheit von Trochau ihres Herzens Reinheit bewahrt, indem er einen geheimnisvollen Teufelsbrief mit seiner Hand vertilgt (Engeltal, S. 279). Auch bei Adelheid Langmann treiben Engel die Teufel mit Schalmeien hinweg. Worin die Engel hinter den Menschen zurückstehen, ist, dass ihnen nie Weh um Gott geschehen ist, wie den Erdenkindern (Engeltal, S. 277), und dass Jesus nicht für sie gelitten hat (Engeltal, S. 294). Noch öfter werden Engel gehört als gesehen. Im feierlichen Hochamt mischen sie ihren Gesang mit dem der Schwestern, und wann sie dann gar mit drei Stimmen singen, klingt das so süß, dass es über menschliche Sinne geht (Engeltal, S. 309). Auch die selig Sterbenden geleitet ihr Saitenspiel zum Himmel.

Der Teufel erscheint entweder einzeln als der Böse, der Fürst der Hölle oder — seltener in der Mehrzahl, gleichsam als die Schar der dunklen Hilfsgeister Luzifers. Das Verhältnis des Teufels zu den Menschen wird von den Nonnen ganz ähnlich wie in unseren deutschen Märchen, Sagen und Legenden geschaut, entbehrt auch nicht des ungewollten Humors. Wenn er allerlei Tierstimmen nachahmt, brüllt, heult, wiehert, tost, trommelt, pfeift, in graulieber Gestalt erscheint, wie der Faustsche Pudel anschwillt, bis er an die Decke reicht, als furchtbarer Alb die schlafende Nonne ängstigt und preßt, als ob das ganze Kloster auf ihr läge, ihr Bett hin- und herschwingt, wie auf einem schwankenden Meer (Oetenbach, S. 264), mit einer Hand in sie greift, als wolle er ihr alles „herausziehen, was in ihr wäre und ihr das Gedärm um und um winden“ (Oetenbach, S. 274), oder wenn er die eine mit Ottern und Schlangen, die andre mit Mäusen schreckt, einer dritten den Rosenkranz zerreißt und die Ringlein umherstreut, einer vierten droht, er werde sie vor die Pforte hinaustragen und in die Töß werfen (Töß, S. 148): so ist er in all diesen Gesichten mehr böser Qualgeist und Peiniger als innerer Versucher. Dieser hingegen tritt meist entweder als Stimme oder in irgendeiner Menschlichen Gestalt (als Besessener, als Beichtvater, als Nonne, ja sogar als Christus selbst) auf und gibt häufig einer störenden inneren Regung Ausdruck, die wir heute Zwangsvorstellung nennen würden, nämlich Einfallen und Gedanken, die der betreffenden Person wider Willen kommen und trotz heftiger Bemühungen nicht zu verdrängen sind, z. B. der Zweifel an Gottes Gute, da doch auch alles Übel von ihm gekommen sei, indem er bei der Schöpfung den Fall der Engel und Adams und Evas vorausgewusst habe (Oetenbach, S.245); oder, was wiederholt vorkam, vor dem Eintritt in das Kloster Bedenken und innerer Widerstand dagegen (Töß, S. 144); oder die Frage, wozu die Kommunion empfangen, da doch Christus ohnehin immer und überall gegenwärtig sei (Töß, S. 237). Widerwille gegen das Beten (Engeltal, S. 279), unbefriedigte weltliche Eitelkeit, Ungeduld in schmerzlicher Krankheit (Töß, S. 192), das alles wird von der bedrückten Nonne in die Gestalt des Teufels, des Neiders aller Tugend „hinausprojiziert“ und mit mehr oder weniger Kühnheit und Erfolg bekämpft und besiegt.

Es erübrigt sich noch in diese Welt von Wesenheiten den diese ganze Welt denkenden, innerlich schauenden und erlebenden Menschen selbst hineinzustellen und ihn mit seinen eigenen Augen zu betrachten. Selbstverständlich war ihm diese tiefe Gegensätzlichkeit von Leib und Seele, die aber nicht wie heute in der Räumlichkeit und Stofflichkeit des einen und in der Unräumlichkeit und Unstofflichkeit der andern erblickt wurde, sondern vielmehr in den Qualitätsunterschieden: sterblich — unsterblich, wertlos — wertvoll, oder wie sich die damalige Sprache ausdruckt: schmählich — edel. Wenn sich auch Versuche finden, die Raumlosigkeit und Unbeschreibbarkeit der Seele auszudrücken, „Sie erkannte auch, dass hunderttausend Seelen nicht so viel leiblicher Stätte bedürfen, als eine Nadelspitze“ (Töß, S. 228, übrigens ein bereits übernommenes und kein ursprüngliches Bild!), oder: „Die Seele ist ein so ganz geistlich Ding, dass man die eigentlich keinem leiblichen Ding vergleichen kann“ (Töß, S. 200): so ist dem Menschen das In-Gestalten-Denken doch so eingeboren, dass es der höchsten Besinnungsklarheit und Strenge bedarf, diese Denkhilfsgestalten nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln (vgl. F. Weinhandl, Implikation und Schema). Eine Strenge und Nüchternheit, die heute tausend Hochgebildeten trotz Philosophie und Psychologie fehlen, wie sollte man da ihren Mangel der Nonne vorwerfen dürfen? Und so fährt auch Sophie von Klingnau in der eben angeführten Stelle fort: „Doch wenn du dessen (Wissen über die Beschaffenheit der Seele) so sehr begehrst, so gebe ich dir ein Gleichnis, durch das du ein wenig verstehen magst, wie ihre Form und Gestalt war. Sie war ein rundes, schönes und durchsichtiges Licht, gleich der Sonne und war von einer goldfarbenen Röte“ (Töß, S. 200). Dann wird von dem hohen, alles durchleuchtenden Glanz dieser Seele gesprochen; vorher schon von ihrer Ausfahrt aus dem Leib, hernach von ihrem Niederlassen, Schweben über dem Leib und Zurückkehren in diesen. Man sieht, dies „ganz geistlich Ding“ ist ihr im Grunde doch nichts andres als ein räumliches, leuchtendes Etwas, ein feinerer Lichtleib im Leibe, der für gewöhnlich dem menschlichen Auge durch die undurchsichtige Körperwandung verborgen ist. Bei begnadeten Personen aber wird wohl auch die Wandung durchsichtig wie Kristall (Engeltal, S. 295; Töß, S. 150) und die Seele als ein rundes, spielendes Licht sichtbar. Und zwar geschieht die Durchleuchtung, wie einmal ausdrücklich hinzugefügt ist, im obern Teil des Körpers „bis zum Gürtel“, so ist also hier, etwa in der Gegend des Herzens, der „Sitz“ der Seele, die „fährt“ ja auch bei der Verzückung oder beim Tode „zum Munde aus“. Engeltal (S. 293) und Töß (S. 181) teilen augenscheinlich sogar Seele mit Herz gleich, was sehr bezeichnend ist für den typischen Anteil von Atem- und Organverspüren und motorischen Empfindungen bei derartigen Versenkungs- und Konzentrationserlebnissen. Inwieweit hier und im folgenden missverstandene oder umgedeutete frühere und gleichzeitige mystische Lehren über Seele, Seelenfünklein, Seelengrund usw. mitsprechen, ist hier nicht der Ort zu entscheiden.

Die Edelkeit, den Schatz der Seele, „für die ja Christus sein heiliges Blut am Kreuz vergossen hat,“ erkennt Sophie von Klingnau erst betrachtend in bittersten Reuegedanken und dann in der Verzückung in all ihrer „Gestalt und Gezierde und Schöne“. Hier tritt der verwunderliche Fall ein, dass sie diese ihre Seele mit dem geistlichen Gesicht“ sieht, „wirklicher als sie je mit leiblichen Augen ein Ding gesehen“ (Töß, S. 200). Ähnlich in anderen Visionen, wo auch die eigene Seele gesehen wird, womit? fragt man sich. Wo ist dies geistliche Gesicht „lokalisiert“, wenn es nicht leiblich ist und doch die Seele vor sich erblickt? Solche Widersprüche bietet auch die Vorstellung der sog. „inneren und äußeren“ Sinne. Unter diesen werden meist die Empfindungen, unter jenen Denken, Fühlen, Wollen verstanden. Wieder ein Bild, aber eines von großer Anschauungskraft und Bedeutung für die Meditation, ist das „Nach-innen-ziehen oder Gezogenwerden der äußeren Sinne“, das oft mit solcher Gewalt geschieht, dass Blut aus Nase, Mund oder Ohren austritt (Engeltal, S. 289), oder dass Jüzi Schulthasin befürchtet, es mußte vor Überanstrengung ihr Tod sein. Gemeint ist wohl eine ungeheure Konzentration auf eine Gesichtsvorstellung oder einen Gedanken oder eine Verknüpfung von beiden (ausgedruckt durch ein phantasiertes Bild, ein Wort, einen Gebetssatz) mit einem Außerkrafttreten der Sinnesorgane (Augen, Ohren usw.) oft bis zur völligen Bewusstlosigkeit der Umgebung, begleitet von einer auf das Körperinnere bezogenen konzentrischen Muskelkontraktion (namentlich Stirn, Brust; ein „Hineindrücken“ der Augen, des Kopfes, oftmals auch ein durch den Gebetsgestus nahegelegtes An die Brust und Zusammenziehen der Arme).

Der Leib an sich ist der Nonne eine wertlose Seelenhülle und wird schon im Leben (ähnlich wie vom indischen Bikkhu) unter dem Zeichen künftiger Verwesung und Fäulnis geschaut. Dies findet sich zwar nicht oft ausgesprochen — am eindringlichsten und begreiflichsten vielleicht anschließend an das tatsächliche Beinhauserlebnis Beli von Liebenbergs — doch drückt es sich sowohl in der Kafteiung als auch besonders in zwei ekstatischen Erlebnissen zu Oetenbach, S.251 und Töß, S. 202 aus, worin die Verzückte außer dem Leibe geweilt hat, zu diesem wieder zurückkehrt und ihn mit tiefem Abscheu „verweslich gleich der Erde“ vor sich liegen sieht. „Und da sie des befand, dass der Geist wieder zu dem Leib gebunden war, da schrie sie in sich selber: Waffen und Weh!“ (Oetenbach, S. 241, vergleiche Töß, S. 238). Ein freundlicheres Verhältnis zum Leib hingegen offenbart sich Engeltal, S. 307, wo die im Tode scheidende Seele „allen Gliedern danket, jeglichem sonderlich, dass die Gott so wohl gedienet hätten.“

Die Seele des erretteten, erlösten Menschen fährt nach einem gebräuchlichen Ausdruck „ohne Mittel und Unterlass“ zu Himmelreich. Dieser Augenblick der Erlösung und Verklärung ist der Nonne der Ziel- und Höhepunkt des Lebens, um dessen verhüllten Gipfel alle Lichtströme ihrer Phantasie spielen. Zahllos sind die Visionen vom seligen Sterben. Um das Bett der Verscheidenden schart sich der Konvent und sucht aus Worten, Gebärden, Blicken zu erkennen, wer von dem himmlischen Heer gegenwärtig sei. Und ist die tot, so erbeten die Schweistern mit Ungestüm das Wissen, wie es um die Seele der Dahingegangenen bestellt sei. Die Antwort erfolgt alsbald in einem „geistlichen Gesicht“ oder im Traum. Entweder erscheint die Verdorbene selbst und erzählt ausführlich von ihrer letzten Stunde und Himmelfahrt. Oder die teilt sich in einer überirdischen Lichterscheinung den Überlebenden mit (Katharinental, S. 154, Engeltal, S. 295, Töß, S. 144 usw.) und zwar als Stern, als ein unermessliches blendendes Licht (Töß, S. 179), als ein schwebendes Licht, geformt wie ein kleines Schifflein, darin ein zweites Licht, eben die Seele, wie eine leuchtend schöne Kugel spielend hin und herfährt (Töß, S. 144). Auf dem lautersten Wasser schifft die Seele der Margret Willin geradeswegs zu Gott (Töß,

Wie dann die himmlische Vereinigung der Seele mit Gott vorgestellt wird, geht wohl am deutlichsten aus der schon erwähnten Stelle über die Vereinigung Christi mit allen Heiligen hervor (Oetenbach, S. 243). Eine Art Lichtosmose, Licht natürlich wieder als eine ganz seine Substanz aufgefasst, aus der sowohl die Gottheit als die Seele bestehen, oder diese als durchscheinendes Bild, das die göttlichen Strahlen in sich sammelt, siehe Engeltal, S. 293: „Nun bin ich im Himmelreiche und scheint die heilige Dreifaltigkeit durch mich wie eine Sonne und bin recht worden wie ein Bilde, das da scheinet durch einen Kristall: also glänzt die Gottheit in mich.“ Auf verschiedene Grade der ewigen Seligkeit deutet Töß, S. 227, hier allerdings auf die Seligkeit nach dem jüngsten Gericht bezogen: „Und erkannte, dass ein jeglicher Mensch . . . so wirklich Gott und Mensch (in Christus) haben werde, wie er ihn hier empfängt aus des Priesters Händen; aber der eine viel mehr und minniglicher als der andere, um soviel mehr, als auch hier seine Minne größer war.“ Hier ist das höhere Seligkeitsmaß in schöner Weise der tieferen Minne und Empfänglichkeit entsprechend und kein eigentlicher Lohn. Daß aber auch die Vorstellung eines, und zwar nach irdischen Verdienten verschiedenen Lohnes vorkommt, ent nimmt man aus Adelheid Langmann, S. 13: „Herr, laß mich hier (noch am Leben), dass ich mehr Lohnes verdiene!“ und S. 25: „Es sind wohl Menschen auf Erden, die mir (Gott) mehr gedient haben, die mehr Lohn empfingen, stürben die; (aber) mein göttlich Herze ist: mehr zu dir geneiget, denn zu keinem Menschen.“ Hier klafft ein seltsamer Unterschied zwischen Gottesliebe und Lohn. Äußerlich sichtbar, wie es das symbolreiche Mittelalter liebt, trägt die selige Margret von Klingenberg den himmlischen Lohn in Gestalt zweier goldener Schuhe an den Fußen und spricht: „Siehe, diese Schuhe habe ich für die Schritte, die ich tat, als ich das Licht in der Kapelle besorgte (Töß, S, 181).

Die armen Seelen, die nicht ohne Unterlass zu Himmel fahren dürfen, sondern an einem Strafort weilen, sind Gegenstand der höchsten Teilnahme und Hilfsbereitwilligkeit unterer Nonnen. Die Dauer der Strafe kann wenige Tage (Engeltal, S. 276 sind es deren dreißig) aber auch bis zu Tausenden von Jahren betragen, wie der Bürger zu Ninive bezeugt, der einer Nonne danken kommt, dass sie ihn „die elendeste Seele im Fegefeuer“, durch ihr Gebet erlöst habe (Katharinental, S. 160). Wie denn Oberhaupt auch die unerlösten Seelen, meist in Gestalt von Kindlein (z. B. Engeltal, S. 319), den Schwestern erscheinen, die um Fürbitte anrufen oder ihnen voll Dank dienstbar sind. In einer „weißen, lichten Wolke“ kommt zu Anna Ramswag ihr verdorbener Vater und kündet ihr, dass er auf dem Weg zur ewigen Freude sei (Katharinental, S 176).

Überblickt man zusammenfassend das Gefüge der „unsichtbaren“ Welt der Nonne, so ergibt sich, dass die im Grunde an „Sichtbarkeit“, d. h. Anschaulichkeit, nichts zu wünschen übrig laßt. Aus dieser Anschaulichkeit aber erklärt sich eben, dass damals tausend und abertausend Menschen in solcher Himmelswelt atmen, leben, sich liebend hingeben konnten, und das mit einem so herrlichen Feuer und Krafteinsatz, dessen wir heute selbst unserer Erdenwelt gegenüber meist ermangeln. Aber auch die — und es sind ihrer zahllose — welche heute noch fast ganz im Anschauungsschema des Mittelalters denken (räumliche Vorstellung von Himmel, Hölle, Fegefeuer, himmlischen Wesenheiten, Seele), erleben das alles, verglichen mit dem mystischen Menschen, so blaß, so fern, so obenhin, wie man den Himmel mit seinen Sonnen, Sternen und Wolken unerschaut, unerbaut über den Alltag hinkreifen läßt. Vergessen wir nicht: was dem hier dargestellten Weltbild, das bei mancher Schönheit und Eigenart, im Grunde doch aus wenig Ursprünglichem, fast durchwegs Übernommenem oder Weitergebildetem bestand, erst seine wunderbare Gewalt und Größe verlieh, das war die Erlebniswucht, mit der es geglaubt, ergriffen und ins ganze Sein fortwährend wirkend einbezogen wurde. Mit andern Worten, es war die heiße Zeugekraft der Werte, von der es lebte.

Eine großartige Einfachheit, wenn man will, Einseitigkeit kennzeichnet die Wertwelt der Nonne. Alle Gedanken, Strebungen, Taten in den einen kühnen Bogenschwung der Überbrückung von Diesseits und jenseits gespannt. Das Jenseits ist der Wert; und für diesen Wert nicht nur zu leben, sondern ihn hier schon mit seiner ganzen Unermesslichkeit zu erleben, Sinn und Richtlinie des Seins. Der Werthaltung des Normalmenschen mit ihrer Zersplitterung auf dieses und jenes Gut: Sinnenbefriedigung, Tätigkeit, Geselligkeit, Eigengeltung, Macht usf., tritt der eine, ungeheuer verdichtete Heiligungsdrang entgegen, sammelt gleichsam die buntzerstreuten Strahlen des Erdenstrebens in den einen weißklaren Unendlichkeitsstrahl des Gottsuchens.

Diese gewaltige Umwertung findet vollendeten Ausdruck und zugleich lebenslängliche Festlegung und Kräftigung durch den Eintritt ins Ordensleben. Sie setzt natürlich schon früher ein — oft im Kindesalter, denn die lag vielfach in der Luft — äußert sich bei glücklich verheirateten, in Ehren. Würden und Wohlsein lebenden Frauen in einem tiefen quälenden Zwiespalt zwischen dem Weltleben, das sie führen müssen, und dem Überwelt-Leben, das sie führen möchten, und treibt die heißwilligen Entweder-Oder-Naturen sogar zur Lösung der Ehegemeinschaft und feierlichen Weltabsage. Und erst mit dem Klostereintritt gewinnt der Wandlungswille jene Symbolkraft, deren das Mittelalter nimmer und nirgend entbehren kann. Über allen Wegen und Taten hangen nun „neue Tafeln“. Geradezu vertauscht sind die Vorzeichen der Wertgeltungen. Man bedenke, was es für eine Frau bedeutet: statt Güter zu sammeln und zu bewahren, sie loswerden und fliehen, statt den Leib zu pflegen und schmücken, ihn zu verachten und „vernichtigen“, statt der Menschen Teilnahme, Liebe und Bewunderung zu suchen, in Verborgenheit, Schweigen und Demut unterzutauchen, statt Arbeit und Haushalt, Kinder und Gesinde zu leiten, den eignen Willen in den Gehorsam eines strenggezirkelten Tagesdienstes ergeben, statt Sinnen- und Augenlust, Spiel und Fest mühelos zu genießen, in einwärtsgekehrter Gebets- und Gedankensammlung stundenlang angestrengt verharren, statt Mühsal, Krankheit, Leid abzuwenden, die auf sich nehmen in täglicher, freiwilliger Inbrunst und Dankbarkeit; kurz, mit den Worten des Evangeliums statt seine Seele (das will hier sagen sein Ich) zu suchen, die in allem zu lassen und zu verlieren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben