Von der seligen Schwester Wansaseller

Wir hatten auch eine andre selige Schwester, die hieß Schwester Anna Wansaseller und war eines gar süßen, sanften Wandels. Sie hatte auch sonderliche Gnade in andächtigen, innigen Gebeten und hatte die Gewohnheit, dass sie oft süße Verse aus dem Psalter sprach und auch minnigliche Wörtlein von unserem Herrn. Sie hatte auch die Tugend, dass sie armen Leuten so gar gütlich tat; viele Tugenden hatte sie an sich, davon manches zu Tagen wäre. Sie war auch so demütig und schätzte ihre Schwachheiten also groß, dass die sich unsern Herrn nicht zu bitten getraute, er möge zu ihrem Ende kommen. Nun hatte sie die Gewohnheit, dass die oft vor dem Antlitz Christi betete, das vor dem Kapitelhaus hängt, dasselbe Gebet, das dabei geschrieben steht: „Salve summe deitatis“; und wenn die zu dem Vers kam, in dem steht: „Te saluto milies“. Ich grüß' dich tausendmal, so neigte die ihr Haupt gar andächtig und sprach es oft mit sehnendem Herzen. Und als die einstmals so betete, da redete das Antlitz unseres Herrn mit ihr und stärkte sie und sprach: „Du sollst mich bitten, dass ich dir deine Sünden vergebe, so wie ich die an dir erkenne, und dass ich dir meine Marter zu Ehren gebe, so wie ich, die erlitten habe, und dass ich dich meiner Mutter befehle und Sankt Johannes, so wie ich die einander befahl, und dass ich selber zu deinem Ende komme.“ Hierdurch empfing die unermesslichen Trost und vollbrachte ihr Leben seliglich bis auf ihr Ende.

Nun hatte ihre getreue Gespielin, die selige Schwester Lucia, unserer Lieben Frau tausend Salve regina für ihrer beider Ende gelesen und hatte ein andres Gebet angefangen, damit unser Herr helfe, dass die vor Schwester Anna stürbe; und das gewahrte er ihr. Und zur Stunde, da man sie begrub, kam Schwester Anna der Tod an, und sie starb am fünften Tag und nahm das schönste Ende, das wir je an einer Schwester sahen. Sie zeigte mit Worten und mit Wandel, dass die eine große, minnigliche Zuversicht auf Gott hatte und dabei auch eine demütige Furcht. Zuweilen redete sie gar tröstlich und süß und gar begierlich und oft sprach sie die Verse: „Quoniam mille“, Herr, vor deinen Augen sind tausend Jahre wie ein Tag; „Quoniam suavis,“ O Herr« wie süß und wie sanftmütig und wie voll Erbarmen bist du allen denen, die dich anrufen! Und wenn man die irgend mit Reden mühen wollte, so sprach die: „Was quält ihr mich? So ich noch heute vor Gericht muss und Gott Rede stehen um all meine Worte und Werke, so wird es genug sein.“ Als sie verscheiden wollte und man sie fragte, ob unser Herr gegenwärtig wäre, da hob die ihr Haupt und ihre Hände auf und legte die Hände andächtig zusammen und neigte sich tief. Da fragte die Priorin sie, ob unsere Frau auch da wäre. Da gab die es auch zu verstehen wie zuvor und machte ein bescheidenes Kreuz und legte ihre Hände ordentlich übereinander und verschied alsbald zu derselben Stunde. Und es ward eine große, andächtige Bewegung im Konvent, da er gegenwärtig war.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben