Grundpfeiler im Begriffsgefüge des Nonnenlebens: Übung und Gnade

Solcher Wertumkehrung (dem „Kehr“, wie er in den mystischen Büchern genannt wird) folgt schneller oder langsamer oder in lebenslänglicher Arbeit die Seinsumkehrung, die Umbildung aus dem alten in den neuen, aus dem weltförmigen in den christförmigen Menschen. Sie vollzieht sich im Kraftfelde zweier Mächte, die in ihrem menschlich-göttlichen Zusammenwirken die beiden Grundpfeiler im Begriffsgefüge des Nonnenlebens darstellen: Übung und Gnade.

Wir begegnen diesem Begriffspaar in allen unseren Chroniken; darum sei ihre Bedeutung hier kurz umgrenzt. Unter „Übung“ versteht die Nonne alle planmäßigen inneren und äußeren Handlungen, welche die Seele befähigen sollen, für die Gnade bereit und offen zu stehen. Andre Ausdrücke dafür, die sich teilweise damit decken, sind: Weg der Reinigung, via purgativa, Askese. Um diese Gottbereitschaft, Gelassenheit, „Leere“ (wie sich die Mystik gern ausdruckt) zu erzielen, muß das normale Zuständliche (Triebe, Gefühle, Stimmungen) wenn nicht zu vollständigem Schweigen, so doch wenigstens zu Bedeutungslosigkeit herabgedrückt werden; und das geschieht den unmittelbar leiblichen Bedürfnissen gegenüber durch Abbruch, Abtötung, Kafteiung in Schlaf, Essen, Bequemlichkeit usw. Die geistlichen Hindernisse hingegen, wie Eitelkeit, Weltlust, Menschenabhängigkeit, Eigensucht und Wille usf. wer den durch systematische Einformung von „Tugenden“, wie Verborgenheit, Gehorsam, Geduld, Armut, Freigebigkeit u.a., in ihr Gegenbild verkehrt (vgl. auch A. Fischer).


Die Andacht, die Einzel- und Chorgebet, Beschauung und Gottesdienst, Sakramente und Sakramentalien umfasst, gehört, insofern sie willensmäßig bestimmte innere Haltung, Gedankenzucht, Wort, Gesang, Gebärde ist, dem Bereich der Übung, insofern die aber unmittelbares Rufen, Warten und Lauschen auf die antwortende Gottesstimme ist, dem Vorhof der Gnade an.

Ist nun Übung das Selberwirken, so ist Gnade das Bewirkenlassen, ist Übung der Opferaltar, auf dem der Mensch sich selbst und all sein eigenmächtiges Triebleben der Gottheit täglich, stündlich darbringt, so ist Gnade das herrlich verzehrende Feuer, das vom Himmel fällt und das Opfer in Flammen der Wonne wandelt und zu sich empor reißt.

„Von der Gnaden Überlast“ heißt der schöne Titel, der über unserm Engeltaler Büchlein steht. Man könnte ihn füglich über alle gleichzeitigen Nonnenbücher setzen; denn es ist kaum ein Blatt, ein Lebensbild, das nicht im goldenen Widerschein des Wortes Gnade leuchtete. Ganz widerspruchslos läßt sich ein so vielgebrauchtes Wort kaum erläutern, doch ergibt sich aus seinen mannigfaltigen Anwendungen ungefähr folgende Deutung: Gnade ist der Nonne jedes fühlbare Wirken Gottes in der Seele, alle Grade des Gottberührtseins, vom einfachen Grundgefühl der Geborgenheit bis zum höchsten Überschwang der Ekstase und unio mystica. Ursache der Gnade ist Gott allein, Bedingung für ihr Erfahrenwerden die zu Gott gewandte Stille, Einfalt und Sehnsucht der Seele. Auf der einen Seite ist jedes menschliche Tun vergeblich, alles steht Gott zu: „Niemand ist kommen zu großer Heiligkeit durch seine eigene Frömmigkeit, er hat sie alle dargezogen aus seiner freien Willkür. Er ist gewaltig dazu, dass er seinen Freunden gütlich tue; denn er erkennt allein alle Dinge. Darum tut er einem gütlich und dem andern nicht“ (Engeltal, S. 265). Engeltal, S. 279 begegnet uns, wie auch öfters bei Adelh. Langmann geradezu der Ausdruck „Spiel“ für Gnade, um das allen Ursächlichkeiten und Weltgesetzen entrückte, mühelos selige, ewig frei- und neuschöpferische Walten der Gottesminne zu veranschaulichen. Auf der andern Seite wiederum wird eben durch die Mystik die Möglichkeit des Gnadenerlebnisses für jeden Menschen aufs eindringlichste behauptet: „Da sprach eine Stimme eines inneren Einsprechens: Gott ist ein Ursprung alles Gutes und ist ein grundloses Erbannen und eine endlose Güte und hat von rechten an sich, dass er seine Gnade niemand versagen kann oder mag, der ihrer von Herzen begehrt, und hat von göttlicher Art und von natürlicher Kraft und von ewiger Gewalt, dass, so kurz der Mensch je an ihn gedenken mag, so schwindet ihm eine Untugend und wächst ihm eine Tugend in der Seele“ (Katharinental, S. 168). Dieser Widerspruch der Gnadenauffassung ist wohl durch den psychisch unterschiedlichen Vorgang des Gnadenerlebnisses bedingt. In einem Fall bricht es scheinbar gänzlich zusammenhangslos in den Vorstellungsverlauf herein und schüttet ein Meer von Lust über die vielleicht noch eben vorhandene Unlust, Gleichgültigkeit, Andachtslosigkeit. Das Gefühl des frei Beschenktwerdens ist hier zweifellos vorherrschend. Ein anderes Mal erfolgt es als Abschluß eines ununterbrochen angespannten Begehrens, eines heftigen, von körperlichen Ausdrucksbewegungen (Blickrichtung, Händezusammenpressen, Fußfall) begleiteten Betens oder wortlosen Flehens. Der Eindruck des „Herabgezwungenwerdens der Gnade“ ist hier die Folge. Fälle, wo man mit „Gnaden“ allgemeinere Gaben bezeichnet, sind selten. Z. B. Katharinental, S. 151: „Sie hatte viel leiblicher und geistlicher Gnade und hatte wohl viel Liebes und Trostes gehabt von den Leuten,“ worunter offenbar Schönheit, Klugheit, Liebreiz verstanden ist. Auch eine gewisse Empfänglichkeit für religiös wertvolle Verhaltungsweisen wird nur hin und wieder als Gnade bezeichnet; so die schlichte Antwort Margret Finkins, die auf ihrem Sterbelager von ihren Mitschwestern gebeten wird, etwas von der Gnade zu sagen, die Gott an ihr gewirkt: „Was soll ich euch sagen? Mich dünkt es ganz genug, dass Gott mir die Gnade gab, dass mich nie verdross, was ich tun sollte und was zur Ordensregel gehörte; denn das war mir allzeit begierlich und fröhlich zu tun“ (Töß, S. 165). Ähnlich Mechtild von Stans, die bei ihrem Tode als größte Gnade, die ihr Gott getan, die nannte, dass sie nicht wusste, sie hätte je Hoffart empfangen über die Gnade, die Gott mit ihr gewirkt (Töß, S. 219). Ebenfalls im Tößer Buch findet sich „die große Erkenntnis der eigenen Gebresten“ und bittere, herzliche Reue als Gnadengabe angeführt (Töß, S. 196).

Weit öfter, ja fast ausschließlich wird jedoch das Wort Gnade in all unseren Schriften für ganz besondere Zustände und Fähigkeiten gebraucht, die über das normale religiöse Erleben hinausgreifen. Verhältnismäßig leicht verständlich ist uns die „Menge der Süßigkeit“, die Christine von Kornburg nach dem Empfang der Eucharistie oder sonst in ihrem Gebet in solcher Fülle verspürt, dass sie es einem übervollen Gefäß vergleicht (Engeltal, S. 307). Auch die Gnade der „Tränen“ ist noch mit einem starken Andachtserlebnis vereinbar zu denken. Am schwersten fasslich in ihren natürlichen Zusammenhängen, doch gerade darum vielleicht am höchsten bewertet, sind jene Gnaden, von denen unsere Chroniken zu Hunderten erzählen, ja um deretwillen die zum Teil entstanden sind, der „Nachwelt zur Aneiferung und Gott zu einem Lob“: Vision, Ekstase, Hellsichtigkeit, Schweben, Durchleuchtung, Erkenntnis, das plötzliche Vermögen schwere Bücher zu deuten, fremde Lateinverse zu verstehen, usf. Häufig waren solche Gnaden der Umgebung äußerlich bemerkbar durch „Sinneloswerden“, Starre, Unempfindlichkeit, durch tage-, ja wochenlang unterbrochene Nahrungsaufnahme, durch Rededrang, Schreien, Jammern, Weinen, Jubeln, augenblickliche Erkrankungen und Heilungen. Das innerliche Wirken der Gnade aber ist unsagbar, unbeschreibbar, „es geht über alle menschlichen Sinne, es könnten's keine Zungen je in Worte bringen“, wie immer und immer wieder von den Begnadeten versichert wird. Dennoch versuchen sie auf Bitten und Drängen oder aus eigener Herzensfülle heraus die erlebte Gottstimme, Gottschau, Gottempfindung in Wort und Bild wiederzugeben. Nur diese stammelnden Worte und blassen Abbilder sind uns in den Nonnenbüchern erhalten. Gleichsam leblose Mücken, eingesargt im tausend jährigen Gold des Bernsteines, jetzt starr und dunkel, einst voll unendlicher Wonne im Lichtmeer der Gottheit spielend.

Ihr Leben faßt nur, wer selbst — und sei es nur einmal — im gleichen Strahle gespielt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben