Quellen des religiösen Vorstellungsbesitzes; Chorgebet, Lesungen, Bücher, Predigten

Wie kam nun eine derartige Klostertradition zustande, die eine ganze Reihe oft weit auseinanderliegender Dominikanerinnenkonvente gleichzeitig und gleichförmig beherrschte und sich häufig in der wörtlichen Übereinstimmung der dort erzählten Begebenheiten, Zustände und Gesichte ausdruckt?

Reichsten Aufschluss darüber gibt die für das Verständnis mystischen Nonnenlebens unerlässliche Arbeit von Engelbert Krebs „die Mystik in Adelhausen“, aus der im Folgenden zum guten Teil geschöpft wird. Im Gegensatz zu E. Schiller, welcher, nicht ohne Gewaltsamkeit, versucht, ein Großteil gemeinsamer Klostererscheinungen auf den zeitgenössischen Einfluß Eckeharts und Seuses, teilweise auch der etwas früheren Mechtild von Magdeburg zurückzuführen, weist Krebs überzeugend die viel ältere Herkunft des Bilder- und Gedankengutes nach, das die geistliche Gesamthaltung der damaligen Nonne bestimmt.


Da ist zunächst das tägliche Chorgebet oder Brevier, das in den sieben schon erwähnten Tagzeiten gelesen und gesungen wurde und aus dem Officium divinum (dem eigentlichen großen Offizium) und dem Officium Marianum (zu Ehren der Jungfrau Maria) besteht. „Das Brevier,“ sagt Krebs, „machte an sich schon mit den Büchern des alten und neuen Testamentes, mit den schönsten Blüten kirchlicher Dichtung und den erhabensten Stellen der Kirchenväter bekannt“ Im Marienoffizium war es das „Hohe Lied“, das sich den Nonnen mit seiner sinnlichen Bildersprache so einprägte, dass seine Situationen in so mancher ihrer Offenbarungen überraschend ähnlich wiederkehren. Hier mag auch das mystische Lied „Tochter von Sion“ erwähnt werden, „das im 15. Jahrhundert nicht weniger als dreimal dichterisch behandelt wurde und auch in unseren süddeutschen Dominikanerinnenhäusern gern gelesen wurde“ (Krebs, S. 89).

Noch auffälliger sind die Beziehungen und Anklänge, die sich aus dem Inhalt der Tischlesungen aufdecken lassen. Wir wissen z. B., dass dabei mit Vorliebe Heiligenlegenden gelesen wurden, so besonders die um 1270 geschriebene Legenda aurea des Dominikaners Jakob von Varazze (de Veragine), ferner die um 1260 entstandenen Vitae fratrum des Gerard von Frachetto, die Lebensgeschichte des hl. Dominikus von verschiedenen Verfassern (Jordanus, Dietrich von Apolda), der Dialogus miraculorum des Cäsarius von Heisterbach, Abschnitte aus den Kirchenvätern, der heiligen Schrift, Homilien über die Evangelien u. a. Krebs weiß nun aus dieser Tischlektüre, namentlich aus Legenden und Heiligenleben, eine ganze Reihe von Motiven namhaft zu machen, die auch unsere Nonnenbücher kennzeichnen und durch diese Aufhellung alles Überraschende verlieren. Aus der Fülle dieser Motive feien nur einige genannt: die Erscheinung Gottes und der Heiligen am Sterbebett, die Tränengabe, der Schutzmantel Maria, die Fähigkeit, den Gnadenstand der Mitschwestern und anderer Menschen mit geistlichen Augen zu erkennen, der Vergleich des Ordens mit einem Garten, das Versprechen, nach dem Tode zu erscheinen, die Wiederkunft des Verstorbenen und seine Erzählung über sein Befinden im Jenseits, die Heilsversicherung aus dem Munde Gottes oder der Heiligen (certitudo gloriae), Hostien- und Kommunionwunder aller Art, Durchleuchtung und Verklärung von Antlitz oder Leib, das Verlangen nach bestimmten Gnaden, z. B. dem Nacherleben der Passion Christi, der Erkenntnis der Trinität, des Heiligen Geistes, Visionen Christi als Kindlein, als „zierer, junger Herre von 30 Jahren“, Speisungswunder usf.

Außer der Tischlesung waren der Nonne auch noch andere geistige Bildungsmöglichkeiten geboten. Die des Lesens Kundigen lasen selbst in den Werken einer oft reichhaltigen Bücherei. Mahnungen, Vorlesungen und Vorträge der Priorin im Kapitel oder bei den sog. Abendkollationen gaben ebenfalls mancherlei Anregung.

Erst in letzter Linie nennt Krebs den Verkehr mit den Ordensobern und Beichtvätern; darunter den Provinzial Wolfram (siehe Töß, S. 215), die Prediger Konrad von Füssen (Engeltal, S. 516), Meister Eckehart (Katharinental, S. 177, Ötenbach, S. 263), Seuse (Töß, S. 121), Heinrich von Nördlingen u.a. Interessanten Einblick in die Beichtpraxis und die seine Seelenführung durch diese Männer gewährt das Tößerbuch im Lebensbild der Jüzi Schulthasin (S. 229).

Abschließend mag mit Krebs gesagt werden, „dass eine Frau, die in den Konvent zur Zeit der ersten Blüte eintrat, ein Leben voll hoher geistiger Bekräftigung auf sich nahm. Sie erfüllte, wenn die eifrig war, tatsächlich ihr Denken und Fühlen mit Himmlischem, schöpfte täglich aus der hl. Schrift, den Vätern, Dichtern, Lehrern, aus der bei den Dominikanern besonders poetischen Liturgie, aus den nicht minder zahllosen Heiligenlegenden und Ordensgeschichten, aus den Erzeugnissen einer vom christlichen Geiste und Leben durchdrungenen Kunst und aus den Lehren zum Teil hochgebildeter, vom ersten Scholastizismus zur dichterisch neuplatonischen Weltanschauung hinübergreifender Theologen“ (S. 87).

Die Auswirkung dieser geistig-religiösen Bildung in Wandel und Werken, Gebet und Vision wird noch gegebenenorts plastisch ersichtlich werden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben