Klosterideale und Konventionen

Wir nannten oben als Ziel des ordensmäßigen Lebens: Menschenwandlung und Menschenheiligung. In welchem Sinn und auf welchem Wege diese Wandlung zu erfolgen habe, darauf hatte mittelalterliche Frömmigkeit von der kleinsten Nonne bis zum größten Weltdeuter nur eine Antwort: „Per hominem Christum ad Deum Christum.“

Und wenn auch die sog. spekulative Mystik diese Nachfolge Christi in so leibentlöster Form begriffen hat, dass sie aus seiner menschlichen Geburt die ,,Geburt Gottes in der Seele“, aus seinem Tode das „Sterben“ und „Entwerden“ des Ichs und aus seinem Leben und Tun ein einziges hundertfältig abgewandeltes Gleichnis des unsagbaren Wunders der Gotteinigung machte, so blieb es der sog. praktischen Mystik — und mit ihr haben wir es in den Frauenklöstern ausschließlich zu tun — doch unbenommen, aus dem historischen Christusleben mit seinen sinnfällig phantasierbaren Tatsächlichkeiten die Kraft zur Wandlung und Heiligung zu schöpfen, die jener aus höchster, letzter Erkenntnis erwuchs. Und zwar war die Nonne, trotz ihres erwachenden Bewusstseins ihrer selbst, doch noch immer blutwarmer Sinnenmensch, fast möchte man sagen, Kind genug, um in diesem Christusleben das am heftigsten zu erfassen und am höchsten zu bewerten, was ihre Einbildungskraft am lebhaftesten zu reizen, das Herz am heißesten zu erschüttern vermochte: sein körperliches Leiden, die Marter, wie man damals schneidend hart für Passion sagte. Diese Marter in allen grausamen Einzelheiten zu betrachten, zu durchkosten, an der Hand bildhafter Darstellungen oder ausmalend in der Phantasie, das wurde sozusagen Klostertradition. Diese innigste Betrachtung aber, verbunden mit den durch sie erweckten Gefühlen des Dankes: „Für mich!“ der Zerknirschung: „Um meiner Sünden willen!“ mußte in eine hilflos überströmende Liebe ausmünden. Und was ist echter Frauenliebe natürlicher, als die inbrünstige Frage: ,,Was könnt' ich für dich tun?“ und in der folgerichtigen Steigerung der Ausdrucksbedrängnis: „Was könnt' ich für dich leiden?“ Hier sofort erotische Abnormitäten wittern, heißt die weibliche, an sich leidenswilligere Natur verkennen; und für die religiösen Gefühle andre Ausdrucksmittel zu fordern als für rein menschliche Gefühle, ist mit der Begrenztheit unserer Veranlagung unvereinbar und hier noch unmöglicher, wo vor dem betrachtenden Blick der Mensch-Gott Christus stand, und zwar mit jener eigentümlichen, auch wieder echt kindhaften Einschmelzung eines längstvollendeten, leibgebundenen Zeitgeschehens in die Ewigkeitsvorstellung des gegenwärtigen höchsten Himmelsherrn. Der Leidensauftrag, der aus den 5 verklärten Marterzeichen Christi immerfort blutigernst an die minnende Seele erging, war eine der stärksten geistlichen Richtlinien des Nonnenlebens und empfing durch die spekulativ mystischen Lehren der Dominikanerprediger noch unablässig Vertiefung und Vergeistigung.


„Ich behaupte, dass es nächst Gott kein Ding gibt, das edler sei als Leiden.“ (Eckehart.)

„Leiden wollen kommt von Liebe, es nicht wollen kommt von Unliebe.“ (Eckehart.)

„Leiden ist vor der Welt verworfen, vor mir aber unermessliche Würdigkeit . . . Leiden macht aus einem irdischen Menschen einen himmlischen Menschen . . . Leiden ist der sicherste Weg, ist der kürzeste und nächste Weg. Leiden behält die Seele in Demütigkeit und lehrt Geduldigkeit. Siehe, die edle Seele gedeiht im Leiden wie die schönen Rosen im Maientau“ (Seuse). Das sind Worte, die wohl geeignet waren, in empfänglichen Herzen den Schwerpunkt von der primitiven, rein physischen Marterbeschauung und -nachahmung (Kafteiung oft wildester Art, wie die auch Seuse jahrzehntelang betrieb, indem er z. B. ein kleines mit Nägeln besetztes Kreuz 8 Jahre hindurch verborgen auf seinem Rücken trug) in den geistigen Lebensgrund selbst zu verlegen, und jene große Leidbejahung und unbegrenzte Schicksalswilligkeit zu zeitigen, die das Hauptkennzeichen echter Mystik ist und in manchen unterer Nonnenleben ergreifend schöne Verwirklichung gefunden hat. Und wenn auch nicht alle die Höhe einer Jüzi Schulthasin erreichten, die sich, wenn es so Gottes Wille wäre, auch in der Hölle zu einem ewigen Verbleiben geschickt hätte; „denn die war mit Gott so ganz vereint, dass die nichts wollen konnte, als was Gott wollte“ (Töß, S. 227); so war doch die ganze Luft jener Klöster von dieser Leidenswertung so durchdrungen, dass die auch die Schwächsten und Kleinsten kräftigend umströmte und in Widerwärtigkeit, Krankheit und Tod über die Schmerzensscheu des gewöhnlichen Menschen den Mantel der Verklärung breitete. Es gab aber auch genug der hingebungsstarken Naturen, denen das Ausmaß schicksalsmäßigen Leidens noch nicht genügte und die deshalb immer zum Herrn flehten, er möge die seine ganze Passion, vor allem aber seine fünf heiligen Minnezeichen leiblich empfinden lassen. Daß dabei die Stigmatisierung des heiligen Franziskus als glühend begehrte Gnade vorschwebte, liegt nahe. Und so gehört zur Klostertradition jener und auch folgender Zeiten das inständige Verlangen nach solch fühlbarer, sichtbarer Minnezeichnung durch Christus selbst, ein Verlangen, das sich oft durch die heftigsten Schmerzen an den betreffenden Körperteilen (Elsbeth in Katharinental, Margarete Ebner, Mechtild von Stans u. a.) seltener durch tatsächlich ausbrechende Wunden verwirklichte (Zoepf weist in seinem Beitrag „die Mystikerin Margarete Ebner“, einen Weg zum Verständnis dieser viel umstrittenen Erscheinungen).

Wohin sollte nun dieser begierlich geschrittene Leidensweg Christi die Seele fuhren? „Zur ewigen Seligkeit“, wäre die naive Volksantwort gewesen. „Zur Gotteinigung auf Erden“, lautete die mystische Antwort und auch sie war Gemeingut des Frauenkonvents, obschon je nach Schwung- und Fassungskraft der einzelnen Seele verschieden verstanden und erlebt und meist unlöslich verknüpft mit Hoffnung auf Jenseits und Lohn. Hatte man diese Gnade der Gotteinigung — sei es durch Leibabtötung und Askese, sei es durch ein gewaltsames „Nach-innen-ziehen aller Sinne“ in Meditation, oder sei es auf dem edelsten Weg der völligen Willenshingabe an Gott — errungen, herbeigezwungen, wie der Mystiker häufig sagt; hatte man in Traum, Vision, Ekstase oder ganz reiner, bildloser Erkenntnis Gott, den Unermesslichen, auf Augenblicke selbst „geschaut“, erfahren, erlebt, dann blieb nach seinem Entschwinden das Herz in solchem Hungern und Sehnen zurück, dass es nach mehr und immer mehr begehren mußte. „Denn alle Luft: will Ewigkeit;“ dieser Ewigkeitsdurst:, diese Sehnsucht nach „Heilsgewissheit“ (Hauck, Harnak u.a.) nach dem „Nimmer Geschiedenwerden von Gott, weder in diesem, noch im andern Leben“, wie sie in hunderten von Visionen als trottende Zusicherung von oben wiederkehrt, hat nichts Unnatürliches noch Egoistisches, sondern ist ebenso einfach Ausfluss der menschlichen Veranlagung, wie das Bedürfnis, vom über alles geliebten Menschen immer wieder die ohnehin gewusste Gegenliebe beteuert zu hören. Ebenso begreiflich, wenn auch minder sympathisch, berührt das in den Nonnenklöstern so übliche Aushorchen der Mitschwestern nach solchen „Gnaden“; Eifersucht, Sensationslust, wenn man will auch neidlose Verehrung, häufig aber Stolz und Ehrgeiz, so begnadete Nonnen im Konvent zu haben, mögen dabei im Spiel gewesen sein. Besonders zudringlich wird solche Neugierde an Sterbebetten, wo die Verscheidende den Umstehenden mit legten Kräften verkünden muß, wer von den Himmlischen zu ihrer „Auffahrt“ erschienen sei. Übrigens gebietet es meist der gute Klosterton, auf solche Fragen nach göttlichen Erlebnissen hartnäckig zu schweigen. Höchstens darf die Begnadete ihrer vertrautesten Freundin nach langen Bitten ihre Gesichte unter der Bedingung mitteilen, dass es zu ihren Lebzeiten niemand erfahre. Doch finden sich anderseits genug Fälle, wo ein f?rmlicher Rededrang die aus der Verzückung Erwachte überfallt und zum Preisgeben sämtlicher Geheimnisse und Offenbarungen drangt und treibt. Ein Vergleichen solcher Gesichte und Gnaden ergibt eine oft staunliche Übereinstimmung. Es ist eben wieder die einheitliche Vorstellungswelt des Klosters und der Zeit überhaupt, die sich darin spiegelt. Alles Göttliche wird im naheliegenden Bilde des Lichtes gesehen: Gott selbst, die eigene leibentrückte Seele, die der betend verklarten, ganz durchleuchteten Mitschwester, die nach dem Tode Wiederkehrende, entweder als Stern oder als schöne, glänzende Kugel usf. Die Christkind und Marienvisionen gleichen einander oft ebenso aufs Haar, wie die Tröstungen und Zusicherungen der Heiligen. Die liebevolle Beschäftigung mit den armen Seelen der Verdorbenen äußert sich ebenfalls in mancher ähnlichen Traum- oder Wacherscheinung. Eine für das Mittelalter verhältnismäßig unbedeutende Rolle im Vorstellungskreise der Nonnen spielt der Teufel. Vielleicht lag dem Mönch als Mann der Begriff des Kampfes mit dem Bösen (objektiviert im Teufel) näher als der zwiespaltferneren Frau, die teils durch die geringere Sinnlichkeit ihrer Natur, teils durch den eingeborenen Drang nach Vereinheitlichung alles Seelenzuständlichen den mystischen Weg zur Gottheit leichter und durch dunkle Gegenkräfte unbeirrter schritt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben