Das übende Leben der Nonne

Wie begann der Weg der Übung? Gnade stand an seinem Anfang, an seinem Ende, in seiner Mitte. So sah es die Nonne, sah auf den guten, dunklen Wurzelgrund, wo wir Verästelung und Verknotung gewahren und benennen mit Zeitgeiß, Umgebung, Vererbung, Veranlagung, Erziehung usf. Im Wesen ist es eins: es wurde, was werden musste.

Ein fünfjähriges Kind läuft in den Wald und sieht die Vöglein hin und wieder fliegen. Da bittet es: „Lieber Herre Gott, soll ich je ein guter Mensch werden, so heiß die Vöglein zu mir fliegen.“ Und die Vöglein kommen und lassen mit sich spielen. Das Kind aber beginnt von Stund ab ein „geistlich Leben“ (Liutgart, S. 444).


Einem Kinde träumt, unsere liebe Frau empfange es in ihrem Mantel, „so zärtlich wie eine Mutter ihr herzliebes Kind“ und spräche: ,,Sieh, aus diesem Mantel will ich dich nimmer lassen.“ Von da ab will es von der Welt nichts mehr wissen und tritt, elfjährig, ins Kloster ein (Töß, S. 247).

Ein fröhliches, lebhaftes Kind geht mit der Mutter allsonntäglich zur Predigt. Was es da hört, das schließt es in seines Herzens Schrein. Sonderlich des Herrn Marter bewegt ihm das Gemüt. So dass die Leute alsbald sagen, das Kind füge sich nirgend besser, denn in ein Kloster (Langmann, S. 1).

Ein Mägdlein besucht seine große Schwester im Konvent. Es sieht den stillen, klaren Klostertag dahinfließen, es ahnt die Seligkeit auf seinem Grunde; es will nimmer heim und bleibt (Preger I, S. 116).

So beschritten Kinderfüße wie träumend den harten übenden Weg und entwuchsen der Welt, noch ehe sie recht darin gewurzelt. In andern wirkte der „Gnadenzug“ Gottes langsam und schmerzlich durch Jahre weltlichen Lebens; sie übten in einsamer Heilssehnsucht Selbstverleugnung und Liebe, Andacht und Vervollkommnung und fanden ihrer Seele doch erst an „den Stufen des Altares“ dauernd Ruhe und Beschwichtung. Wieder andere riss es plötzlich und gebieterisch von der Höhe und Glanzfülle des Daseins hinweg in den kargen Ernst des „anfangenden Lebens“.

Mit dem Brechen alteingelebter Gewohnheiten, mit dem Kampf gegen die augenscheinlichsten und also greifbarsten Schwächen, Bequemlichkeiten und Bedürfnisse beginnt der radikale Angriff auf das überlaute, alle Innengröße vernichtende, alle Ewigkeitsdurchsonnung hindernde Ich. Die Askese ist gekennzeichnet durch die beständige Aufmerksamkeitsrichtung auf Vorgänge, Verhaltungsweisen und Handlungen, die vorher gänzlich unbeachtet blieben, den mechanisierten Abläufen angehörten und in ihrer Gesamtheit das „Natürliche“ ausmachten. In dem Augenblick, wo bewusste Askese anhebt, sei sie nun mehr geistiger Art, etwa Wunschentsagung, Triebunterdrückung, oder mehr körperlicher, etwa Geißelung (Disziplin), Fasten, Schlafabbruch u. dgl., in dem Augenblick bezeugt der Mensch, dass ihm ein Satz, der dem heutigen selbstverständliches Grunddogma ist, bis in seine letzten Einzelheiten völlig fragwürdig geworden ist: der Satz vom lebensförderlichen und also lebenserhaltenden, als höchstem, einzig maßgeblichem Wert.

Ein klassisches Beispiel für Ansatz und Durchführung der Lebenswandlung ist der Schwester Elsbeth Stagel Unterweisung durch Seuse. Ihr lebhafter Geist hatte auf dem Weg der Erkenntnis, durch Vertiefung in letzte und schwerste mystische Weisheitslehre rasch das Ziel der Vollkommenheit ergreifen wollen. Da warnt Seuse „die ungeübte Schwester“ vor der Berauschung in hohen Gedanken und dem gefährlichen Wahn einer völligen Augenblicksumkehr, die Gott ja wohl zu vollbringen vermöge, aber nur selten wirke, da solche Höhe gewöhnlich „erlitten, erstritten, erarbeitet“ sein wolle (Töß, S. 125). Und dies Erleiden, Erstreiten, Erarbeiten ist eben das übende Leben, in Demut geführt nach dem Vorbilde Christi und aller seiner „Freunde“, wie Seuse seiner Schülerin empfiehlt.

Geheiligt und eröffnet wird der Anbruch dieses neuen Lebenstages auf seinen Rat hin durch eine „ganze, lautere Beichte“ (Generalbeichte), die wohl nicht nur als eine sakramentale Reinigung und Entbindung von aller bisherigen Schuld zu betrachten ist, sondern eben sosehr als Nötigung zu klarster, schonungslosester Selbstbesinnung, dieser Grundvoraussetzung für jegliche Seinsgestaltung. Daß mit solch tiefer Einkehr, nicht allein in einmaliger Beichte, auch in monate-, ja selbst jahrelanger Sondenbetrachtung und Reue, so manches Nonnenleben begonnen hat, zeigen Beispiele wie Töß, S. 197. Jede Selbsterkenntnis aber ist gleichzeitig Schulderkenntnis und diese führt wiederum fast notwendig zu jener ichfeindlichen Haltung, die in der Askese (im engeren Sinne) willkommenen Ausdruck findet. Alle störrischen Ichmächte werden gleichsam — einerlei, ob mit Recht oder Unrecht — in den Leib lokalisiert und in oft rücksichtslosester Selbstkasteiung bekämpft. Die Strenge der Ordensregel mit den zahlreichen Fasttagen, dem gänzlich verbotenen Fleischgenuss, den nächtlichen Schlafunterbrechungen und Gebetszeiten genügt den meisten nicht, namentlich denen, die aus Gemächlichkeit und Wohlleben kommen und nun „also viel weichlich sie in der Welt gelebt, also viel strenger im Kloster zu leben“ sich mühen (siehe Töß, S. 141). Es gibt Nonnen, die ihren Wein salzen oder wässern, die Speise durch Beschütten mit kaltem Wasser unlustlich zu sehen und essen machen, jahrelang den erlaubten sie Genuß von Obst, Eiern und Fischen meiden, sich mit Erbsenwasser als täglicher Nahrung begnügen und auch in Krankheit und Siechtum nur das Notdürftigste zu sich nehmen. Noch unfasslicher ist die Schlafbeschränkung, die sich viele auferlegen. Nach Komplet, vor der Mette, vor der Prim findet man fast immer Beterinnen im Chor. Die kurze Ruhezeit wird durch planmäßige Verhärtung des Lagers (Steine, Bretter, Hürden) beeinträchtigt. Am stärksten jedoch wird unser Natürlichkeitssinn durch die eigentliche körperliche Kasteiung, die absichtliche Zufügung von Wunden und Schmerzen, abgestoßen. In den meisten unserer Klöster werden täglich, einzeln oder gemeinsam, solche „Disziplinen“ genommen. Das Verständnis dieser Selbstpeinigung fällt uns schwer, und wir erleichtern es uns gern mit Urteilen wie „Krankhaftigkeit“ oder „perverse Lust“. Aber um lustvoll zu sein, wurden diese Bußübungen denn doch wohl zu ernsthaft, ausdauernd und oft bis ins höchste Alter betrieben, mit einer Furchtbarkeit, die alle Sinnentändelei und -reizung weit hinter sich lässt. Eine Erklärung dafür finden wir weit eher in der Gesamteinstellung der Nonne gegen ihren Leib. Erstens ist er ihr, wie oben erwähnt wertloses, ja verächtliches Gehäuse für die einzig wertvolle, zur Ewigkeit bestimmte Seele und verdient als solches weder Schonung noch Rücksicht. Zweitens wird er für jede sinnliche Regung und Begierde verantwortlich gemacht und einesteils dafür „gestraft“, andernteils schon vorbauend zerbrochen und vernichtigt, wie z. B. Seuse seine lange und grausam betriebene Selbstabtötung auffasste. Drittens wird wegen der, trotz aller Seelentheorie eigentümlichen fortwährend erlebten Leibbezogenheit der Bewusstseinsvorgänge jedes sog. „böse“ Bewusste — und sei es noch so gedanklicher Art — dem Leibe zugeschoben, während das „Gute“ auf die Seele oder Gott zurückgeführt wird. Viertens soll der Leib als der untergeordnete und doch hier im irdischen Leben auch unumgänglich notwendige Teil der Wesenheit Mensch so vollständig in die Gewalt der Seele und ihrer Ewigkeitsforderung gestellt werden, dass er sich aus dem eigenwilligen, verzogenen Tyrannen in einen stummen, gefügigen, alle „höheren“ Befehle restlos vollziehenden Knecht verwandelt. Diese Auffassung offenbart sich z. B. in der resoluten Art, in der Mezzi von Klingenberg die Widersetzlichkeit und aufsteigende Gefahr des Jähzorns unterdrückt: „Ich ging und nahm eine so starke Disziplin, bis mir der Zorn wohl verging“ (Töß, S. 181). Endlich tritt als verklärendes Element zu solch hartliniger Haltung die Christusminne, die in wörtlich verstandener Nachfolge dem Herrn zu Lieb und zu Lob alle Schmerzfülle an sich reißen möchte, die er von Gethsemane bis Golgatha erlitten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben