Das Gnadenleben der Nonne

Begriff und Äußerungsformen der Gnade wurde bereits behandelt. Beispiele für visionäre und ekstatische Erlebnisse enthalten das Tößer und Engeltaler Buch in solcher Fülle, dass hier deren wenige nötig sind. Den ganzen Problemkreis der Gnade, der letztlich auf die zwei mehr oder weniger verhüllten Grundgegensätze: „natürliche“ — „übernatürliche“ Erklärungsmöglichkeit hinausläuft, aufzurollen oder gar eine diesbezügliche Entscheidung zu versuchen, wird an dieser Stelle unterlassen. Maßgeblich blieb: erstens, es ist unfachlich, mystische Phänomene, die auf natürlichem Weg nicht erklärbar sind, aus diesem Grunde dem übernatürlichen Wirken einer Gottheit oder sonstiger übersinnlichen Mächte zuzuschreiben, wie es auch ebenso unfachlich ist, „Natürliches“ bloß wegen dieser Natürlichkeit als weniger „göttlich“ zu betrachten. Zweitens, es geht anderseits nicht an, jedes mystische Phänomen sofort in eine jedermann einleuchtende „Selbstverständlichkeit“ aufzulösen, wie z. B. E. Schiller die „gesanglichen Wunder“ in Töß mit dem Rauschen des Tößflusses oder die Vision des Wächters von Winterthur mit der geographischen Ortslage und der Stellung der Venus als Morgenstern zu begründen sucht (Schiller, S. 67, 74; Töß, S. 205). Noch gefährlicher als solch äußerliches Erklärungsverfahren kann eine Deutung werden, die mit psychologischen Ausdrücken wie Unterbewusstsein, Bewusstseinsstufen, Bewusstseinsverengung, -trübung, Spaltung der Persönlichkeit usf. operiert, ohne die bloß bildlich schematische Funktion dieser Wörter zu beachten und ausdrücklich zu betonen. Deshalb soll hier, anstatt einer erschöpfenden Behandlung aller Gnadenerlebnisse, der die gewissenhafte psychologische Forschung unserer Tage sich noch lange nicht gewachsen bekannt, nur auf einige grundlegende Bewusstseinsvorgänge im Gnadenerlebnis gewiesen werden, mit größtmöglicher Ausschaltung aller psychologischen Fachausdrücke und der reinen Bloßlegung des Tatsächlichen.

Die Nonne unterscheidet zwischen „leiblichen“ und „geistlichen oder innerlichen Sinnen“. „Das däuchte sie, dass sie das (Erscheinung Christi) mehr sähe mit leiblichen Augen, denn mit innern Augen“ (Oetenbach, Seite 250). „Dies widerfuhr ihr geistlich und nicht leiblich, denn sie erzählte, dass sie leiblich nur selten je ein Ding gesehen.“ „Da sah sie geistlich, dass der Teufel die Priorin führte an seiner Hand.“ „Da sah sie mit leiblichen Augen, als er unsern Herrn empfing, dass unser Herr stund über dem Altar in seiner Person . . . (A. Langmann, S. 75, 79).“


Bei unserer normalen Gesichtswahrnehmung haben wir für den Bewusstseinsvorgang des Sehens die dreigliedrige Bedingung Sinnesreiz Nervenerregung Gehirnzustand; bei der Vorstellung (z. B. ein erinnerter Baum, ein phantasierter Engel) fallen die beiden ersten Glieder der Bedingung weg und es bleibt als physiologisch Wirksames nur der Gehirnvorgang (nach Rehmke, Die Seele des Menschen, S. 69, 75). Die Nonne betet vor dem Kruzifix; zuerst findet der gewöhnliche Wahrnehmungsvorgang statt. Das Sehen des Kruzifixes ist aber bald von einer Reihe von Vorstellungen über den lebend und leidend gedachten Christus begleitet. Es werden seine körperlichen und seelischen Schmerzen, sein Verzeihen und Erbarmen, und zwar immer in die geschnitzte Holzgestalt hineinphantasiert, bis sich plötzlich die Vorstellung mit der Wahrnehmung unlöslich verbindet, der eine Arm Christi sich vom Kreuz löst und ausstreckt und die Nonne umschlingt. Die ganze Umgebung, Chorraum, Mauer, Betstuhl, eigene Lage bleiben dieselben; daraus, und weil die Augen geöffnet sind, ergibt sich der Eindruck des Sehens mit „leiblichem Gesicht“. Ebenso wird von A. Langmann die Erscheinung Christi während der priesterlichen Kommunion beurteilt, wo sich aber noch übermächtiger und selbständiger die Vorstellung in das Sehen mischt. Doch scheinen solche Visionen weniger häufig gewesen zu sein. Das Sehen mit dem „inneren“ Gesicht, also Vorstellung ohne (oder mit minimaler) Wahrnehmung überwog; entweder bei geschlossenen Augen oder mit jenem der Ermüdung eigentümlichen Blick, der „ins Leere“ geht. Welche besonderen Gehirnvorgange dabei mitwirken, entzieht sich natürlich unterer Kenntnis. Dass aber aus dem Wirklichkeitseindruck — und käme er dem des Sehens völlig gleich — auch auf die gleichen bedingenden Ursachen, also ein dinglich Gegebenes (hier die leiblich oder zum mindesten substantiell gedachte Jesusgestalt), und deren Reizwirkung auf das Sinnesorgan geschlossen werden müsste, ist keineswegs mit Berechtigung zu folgern. Denn gerade das Traumleben, dessen tatsächlichster Unterschied vom Wach- und Wirklichkeitsleben im Fehlen der „äußeren“ Sinnesreize besteht, gibt diesem oft an Greifbarkeit und Lebhaftigkeit nichts nach, so dass wir z. B. den ebengeträumten Apfel — wie es ja das Kind tut — in unserm Bett suchen würden, wüssten wir nicht aus Erfahrung, dass die Traumdinge beim Erwachen nicht mehr vorhanden, also nicht dinglich und wirklich gegenwärtig sind und waren. Diese Überzeugung aber fehlt der Nonne in bezug auf ihre Visionen, auch auf manche ihrer Träume. Ganz natürlich! Denn die glaubt ja, aus ihrem räumlichen Welt- und Wesensschema heraus, an die substanzielle, ja leibliche Existenz Christi, der Heiligen, Engel usw. Die Allgegenwart wird für gewöhnlich nicht als geistige Bewusstseinseinheit Gottes mit allen Seelen, sondern als ein luftartiges im Raum Verbreitetsein, noch öfter als ein näheres oder ferneres Überschweben der Erde und namentlich der eigenen Person vorgestellt, je nach deren mehr oder weniger intensiven Gebetseinstellung. Was liegt nun näher als anzunehmen, dass sich diese schwebende Wesenheit, sei es aus freiem Gnadenspiel, sei es auf inbrünstige Bitte, ganz nah zur betenden Nonne niederlasse und sich „zeige“, entweder durch eine Art Verdichtung der Substanz, oder wie man sich einen Verwandlungsakt (man denke an das Märchen!) noch vorstellen mag, Oder aber, was wohl die häufigere Auffassung war, durch eine Gnadenberührung des „inneren“ Sinnes, die diesen auf einmal zur Schau ermächtigt. Und wiederum erhellt daraus die Wahrscheinlichkeit, dass dieses „Untenweilen“ der heiligen Wesenheit zeitlich begrenzt, nur ein Erden-„Besuch“ sei. Damit jedoch ist der Nonne das wichtigste Kriterium für die Vision, nämlich das plötzliche Nichtmehrvorhandensein des Ebengeschauten, benommen. Ein weiteres Kriterium, das wir heute für Illusionen und Halluzinationen zur Hand haben: das Verneinen der Erscheinung durch die mitanwesenden Personen, entbehrt die Nonne ebenfalls, da sie eben an das geistliche Gesicht als eine besondere, augenblicklich nur ihr verliehene Gnade glaubt. Nur wie ein Ausnahmefall wird das Benehmen Mezzi Sidwibrins behandelt, der die Mutter Gottes erschienen ist: „Nun war sie so guter Einfältigkeit, dass sie wähnte (und auch so tat), es wäre jedermann zumut wie ihr“ (Töß, S. 156). Erblickten nun auch die anwesenden Mitschwestern eine Erscheinung nicht mit eigenen Augen, wohl aber zuweilen Mienen- und Gebärdenspiel der also „Begnadeten“, so setzten sie durchaus keinen Zweifel in deren Gesichte, sondern begehrten von ihr im Gegenteil, wie wir schon gehört, eingehendere Auskunft, etwa wie ein Kurzsichtiger oder Blinder einen Gutsehenden um die Beschreibung eines von diesem wahrgenommenen Dinges bittet, oder sie endeten gar damit selbst das Geschilderte, oder wenigstens einen wunderbaren Lichtschimmer zu erschauen. Dieses bestärkende Verhalten musste für die „geistlich Sehende“ selbstverständlich den Eindruck der Objektivität erhöhen. Mit alledem soll jedoch die Vision nicht in die Kategorien des „Träumens im halbwachen Zustand“, oder der Illusion oder der Halluzination u. a. eingereiht werden; denn es kann sich, wie bei der indischen Yogapraxis oder bei okkulten Phänomenen, um ganz andere, noch völlig unübersehbare psychische Zusammenhänge und Möglichkeiten handeln; vielleicht auch um ganz andersgeartete Gehirnvorgänge. Mit dem Wort Vorstellung sollte nur die Unterscheidung vom eigentlichen Wahrnehmen (Sehen mit Sinnesreiz) und die vermutliche Verwandtschaft mit Erinnerung, Phantasie, Traum, keineswegs aber eine Identität mit irgendeiner schon „klassifizierten“ Seelenerscheinung festgesetzt werden.

Eine ebensolche Rolle wie die Gesichte spielen im Gnadenleben der Nonne die göttlichen „Einsprachen“, also Gehörsvorstellungen von großer Deutlichkeit. Lassen sich diese, was das Vorgängliche betrifft, von uns Normalmenschen weit leichter nacherlebend begreifen als die Gesichtsvisionen — denn wie oft hören wir in der Stille ganze Gesprächsfetzen von bekannten oder unbekannten Stimmen an uns gleichsam vorbeigesprochen —, so liegt hier die Schwierigkeit für das Verständnis am Gegenständlichen der Vorstellung. Die Herkunft dieses Gegenständlichen ergab sich bei der Gesichtsvision ganz ungezwungen aus dem Inhalt der Bildwerke, der Heiligen Schrift, der Legenden usf. Bei der Gehörsvision aber (die übrigens häufiger, wenn auch nicht immer, mit einem dementsprechenden Gesicht verknüpft ist), ist das scheinbar Unerklärliche, das sich namentlich in den vielen Gesprächen Gottes mit der Seele offenbart, die Selbständigkeit der vernommenen Rede vom augenblicklichen Denken der Nonne. Es werden ihr Mahnungen erteilt, Entscheidungen getroffen, Fragen beantwortet, Zusicherungen gegeben; und das alles mit einer oft zwingenden Logik, einer ergreifenden Ausdrucksgewalt, einem hoheitsvollen, durchdringenden Ernst, der uns in Staunen versetzt. Dennoch liegt es auch hier nahe genug, Inhalt und Sprachformung der Gehörsvision auf den Einfluss von Brevier, Predigt und Lektüre zurückzuführen, was auch tatsächlich in vielen Fällen nahezu wörtlich gelingt. Allein das Verwunderliche des raschen Wechsels von Zuständen des Nichtwissens und Wissens, der Traurigkeit und des Trostes, der Schwäche und der Stärkung, des Zweifels und der Gewissheit und vor allem des jedesmaligen Passens der Antwort auf die Frage bleibt bestehen und ist aufzuhellen.

Man hat zur Erklärung solcher Phänomene mit Vorliebe die Lehre vom „Unterbewusstsein“ oder der „Bewusstseinsstufen“ herangezogen, die sehr anschaulich, aber gerade ob ihrer Anschaulichkeit höchst verhängnisvoll, zum mindesten für den Laien werden kann. Denn dieser gerät unfehlbar in Versuchung, sich das Seelische oder Bewusstfein, das — es kann nicht oft genug gesagt und sich klargemacht werden — unräumlich ist, als ein räumliches Etwas mit einem Oben und Unten zu denken, eine Art von Meer, auf dessen Grunde Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, das Unter- oder Unbewusste, ruhen, während auf dessen Oberfläche gleichzeitig andere Vorstellungen, Gedanken, Gefühle im Tageslicht spielen, um dann plötzlich von den aus dem Grunde „auftauchenden“ „verdrängt“ zu werden. In Wahrheit hat die Seele als Unräumliches keine Schichten oder Stufen, auch keinen Aufbewahrungsort für einstmalige Wahrnehmungen (deren „Behalten“ fußt auf Gehirnvorgängen; siehe Rehmke, Die Seele des Menschen, S. 80), kein Über- und Unterbewusstsein, sondern nur mehr oder minder deutlich bemerkte Wahrnehmungen und Vorstellungen, Gedanken, Zustände.

Der Herr hat Adelheid Langmann nach dem Empfang der Kommunion, wie schon oft dreißigtausend Seelen aus dem Fegefeuer gegeben und ebensoviel gute Leute bestärkt und ebensoviel Sünder bekehrt. „Sie sprach: ,Herre, mich wundert, dass du so gern bei dreißigen gibst.‘ Unser Herr sprach: ,Weil ich um dreißig Pfennig verraten ward‘“ (A. Langmann, S. 25). Ein analoges Traumerlebnis, wie es häufig vorkommt: Mir träumt, ich wolle X. besuchen; sowie ich an seine Wohnungstür komme, finde ich sie verschlossen, niemand öffnet auf mein Läuten. Ich wundere mich. Plötzlich fällt mir ein: er ist ja vergangenen Monat umgezogen! Ich gehe in seine neue Wohnung und treffe ihn da. Dabei kann der Umzug nur im Traum, oder aber in Wirklichkeit stattgefunden haben, also die Erinnerung daran im Traum als sinnvoller Ausweg rein und spontan erfunden, oder aus einer ruckartigen Annäherung an das frühere Wacherleben und seine Tatsachlichkeit geschöpft worden sein. Beide Falle sind bei Adelheid Langmann möglich.

Jede Frage enthält eine Aufgabestellung, nicht nur an den andern, sondern auch an mich selbst, wie jeder leicht erkennen kann, wenn ihm der Betreffende erst nach einer Pause antwortet. Dann denke ich in dieser Pause schon die erwartete oder sogar mehrere verschiedene Antworten, Aufgabenerfüllungen. Ist meine Spannung groß, so kann mir das entgehen, zumal diese Antworten meist unformuliert oder nur als einzelne Wortgruppen vorschweben. Ähnliches ereignet sich auch bei jeder, besonders erstmaligen Behauptung. In dem Augenblick, wo ich sie ausspreche oder auch nur denke, erfolgt nach dem Selzschen „Gesetz der Berichtigung“ eine Selbstkontrolle, die entweder verwirft (im eigentlichen Berichtigungsfall) oder bestätigt und annimmt. Unser ganzes Denken verläuft fast fortwahrend in einem solchen Wechsel von Aufstellungen und Berichtigungen, Unklarheiten und Klarheiten, der, wenn er immer satz- und wortmäßig ausgesprochen wurde, dem Denkverlauf etwas Dialogisches verliehe. Auch das Sicherleben des Denkenden als Einheit (Ich) läßt diesen Eindruck nur selten (etwa im inneren Widerstreit, wo das stärker mitsprechende Gefühl ihn unterstreicht) aufkommen. Deutlicher kann man die uns allen mehr oder minder innewohnende Dramatik beobachten, wenn man mit irgendeinem nicht gegenwärtigen Widersacher in Gedanken „hadert“, alle seine möglichen Angriffe vorwegnimmt und vernichtend erwidert. Dieser Fall kommt, so seltsam es klingen mag, dem Visionserlebnis unserer Nonne am nächsten. Man bedenke, dass die durch das beständige Beten (nicht zuletzt auch geschult am machtvollen Gott-Ich-Zwiegespräch der Psalmen) ihr ganzes, scheinbar so einsames Leben in eine selige Zweiheit ergossen hatte, die, auch im nichtvisionären Zustand, ein ewiges Geben und Nehmen, Fragen und Antworten, Sehnen und Stillen bedeutete, ja, sogar das Hadern mit Gott ist ihr keineswegs fremd. „Und da die in dieser Angst war, da zieh die unsern Herrn, dass er ihr ungetreu wäre.“ „Da ward ihr Leiden so groß, dass sie Gott anrief mit allen Kräften ihrer Seele, was er damit meinte, dass ihr Leiden so bitter war“ (Oetenbach, S. 251, 264)Kann es da wundernehmen, dass im Augenblick der Vision mit seiner tiefveränderten Zuständlichkeit, Gedanken- und Vorstellungsfolge der immer unsichtbare Zweite plötzlich sichtbar und hörbar wurde und Frage und Antwort mit traumhafter Sicherheit dahinrann? Ob dabei die Antwort schon durch früheres Fragen und Denken vorgebildet war, also eine allmähliche „Wissensaktualisierung“ (Selz), oder ob die automatisch erfolgt, ist gleichgültig. So kann Adelheid Langmann die Zahl Dreißig schon öfter betrachtet, befragt, in Beziehung zu Schriftstellen (der dreißigjährige Jesus, die dreißig Silberlinge) gesetzt haben; oder sie kann ihr im Augenblick wirklich zum erstenmal mit Verwunderung auffallen, sie zur Frage drangen und unmittelbar darauf spontan (doch natürlich darum auch dem Vorstellungsgesetz folgend, hier die einmal erlebte Gleichzeitigkeit der Vorstellungen: Jesu Verrat — dreißig Silberlinge) ihre Erklärung finden.

Ita von Hutwil hört auf ihre Anklage der Untreue sofort „mit einer lauten Stimme von außen“ die Antwort: „Wo ward ich dir je ungetreu?“ und: „Was ich dir tu, das tu' ich dir aus rechter Treue.“ Elsbeth von Beggenhofen, die Gott wegen ihres Leidens zur Rede stellte, verbringt die Nacht darauf im Refektorium und hört die leuchtende Jesuserscheinung zu ihr sprechen: „Ich meine nichts, als dass du ein jeglich Leiden in mir ewiglich vergessen wirst.“ Hier ringt sich also die Trostantwort nur langsam durch; sie organisiert sich, wie in allen Fällen von Aufgabebewusstsein (Frage) in jenen Prozessen, die durch die Frage selbst angeregt werden. Dieses Sich Organisieren der Antwort (der Lösung), das mit der bewussten Frage einsetzt, deckt sich fachlich mit dem Sich-Entfalten der „determinierenden Tendenzen“ Achs, die mit dem Fragebewusstsein gesetzt sind (vgl. Bd. I dieser Sammlung, S. 59).

Zusammenfassend sei über die Gehörsvision gesagt, dass sie vermutlich mit den psychischen Tatsachen der Aufgabestellung, Berichtigung, der Einfühlung in andre Personen nahe zusammenhängt und in der Dramatik des Traumlebens mit seinen unvorhergesehenen Wendungen und „Einfällen“ eine uns leicht zugängliche Parallelerscheinung besitzt.

Der Anteil der übrigen Sinne, namentlich der noch viel zu wenig beachteten Innen- (Körper-, Muskel-, Organ-) Empfindungen an der Vision kann hier nicht mehr behandelt werden, ebenso wenig die interessanten körperlichen Begleitumstände der Ekstase, die Zoepf bei Margaretha Ebner ausführlich schildert und ins rechte Licht setzt. Auch auf andere „Gnaden“, Schweben, Durchleuchtung, Hellsichtigkeit, Heilkraft usf. ist hier nicht möglich einzugehen. Den Beschluss dieser Darstellung bilde die Gnade aller Gnaden: die Gotteinigung.

Man hat sie tatsächlich (wie auch Heiler wiederholt getan) mit der Ekstase identifiziert, die nur für den unbeteiligten Zeugen der auffälligste und für den Selbsterlebenden der erschütterndste, vielleicht auch luftvollste Ausdruck des Einigungserlebnisses ist. Dieser Irrtum stammt aus der Verkennung des Gotteinigungserlebnisses und diese ist wiederum verzeihlich in einer Zeit, die, gleich der unsern, mehr religiöse Sehnsucht als religiöse Eigenerfahrung besitzt und diesen Mangel durch ein Psychologisieren, Klassifizieren, Typisieren, das weder ganz Wissenschaft noch ganz Dichtung ist, vergeblich zu verdecken und wettzumachen sucht.

Jedes religiöse Erlebnis ist Gotteinigungserlebnis, Einigung im Sinne von Sicheinswissen mit dem wirkenden Gott, d. h. Gottes Wirken an sich erfahren (erleiden). „Dem Religiösen kommt es aber nun vor allem eben darauf an, dass das göttliche Bewusstsein, mit dem er sich als Seele eins weiß. Wirkliches ist“ (F. K. Schumann, S. 145). Wirklichkeit aber ist, nach dem unumstößlichen Satz Johannes Rehmkes, an dessen grundwissenschaftlichen Aufstellungen das Folgende orientiert ist, gleichbedeutend mit Wirkendem; und Religion haben ist demnach nichts anderes, als den wirklichen Gott als wirkend erfahren (eine Auffassung, der wir gerade bei den Mystikern häufig begegnen). Diese n Wirkenszusammenhang mit Gott wissen und — sofern solches Wissen eng mit Zuständlichem verknüpft ist — fühlen (das sog. Werterlebnis), ist das Erlebnis der Gotteinigung. Wie aber gelangt man zu diesem Erlebnis? Wieder weist Rehmkes entschiedene Klarheit den Weg. Auch zwischen Mensch und Mensch gibt es ein Sicheinswissen, und zwar auf der einzigen Grundlage des „selbstlosen“ Handelns, d. i. nicht für sich (im Sinne der eigenen Lust), sondern „für den andern wollen“ und handeln. Die Ethik der Selbstlosigkeit (Liebe) wird als „die“ Ethik aufgestellt im Gegensatz zu der „Klugheitsethik“, die alles Tun dem Zweck der eigenen Glückseligkeit, und der „Gesetzesethik“, die es dem Gebote eines Gesetzgebers (z. B. des alttestamentlichen Jehova-Gottes) unterordnen.

Dieselbe Haltung der Liebe, Selbstlosigkeit kann der Mensch Gott gegenüber einnehmen. Wenn ich in all meinem Tun und Lassen nicht meine eigene Lust und mich selbst, sondern, nach einem oft gebrauchten Wort Meister Eckeharts, „Gott meine“, so wirke ich für ihn, will, was er will, fühle mich eins mit ihm. Ich kann mich aber (nach Schumann) auch mit einem Bewusstseinswesen eins wissen, das gar nicht wirklich existiert, z. B. für einen Menschen ein Opfer bringen, der inzwischen ohne mein Wissen gestorben ist, oder für einen fingierten Armen, von dem mir ein Betrüger erzählt. Um also das Einigungserlebnis vollkommen, wertvoll zu machen, muss das Bewußtsein, mit dem ich mich eins weiß, zugleich als Wirkliches gewußt werden, was beim Wirken für Menschen immer als selbstverständlich vorausgesetzt wird; d. h. jedoch im religiösen Falle: es genügt mir nicht, für Gott zu wirken, vielmehr muß ich auch Gottes Wirken auf mich spüren, wissen. Oft ist dies zwar im Augenblick des selbstlosen Nur- „aus“ Gotthandelns erreicht, indem ich sein verspürtes Wirken gleich wirkend weitergebe und mich in diesem selbstlosen Handeln nach dem schönen Bild des Frankfurters als „Gottes rechte Hand“ fühle. Aber nicht immer ist der Zusammenhang so rein und selig fühlbar. Die Seele, auch wenn sie an Gottes Wirklichkeit glaubt (und an der zweifelt die mystische Nonne wohl nie), will diese Wirklichkeit immer wieder stark und tief erfahren, sich bewirken lassen. In der Ekstase scheint nun dieses Erlebnis, wenn auch vielleicht nicht am reinsten (darüber steht uns keine Entscheidung zu), so doch am mächtigsten, glanzvollsten und dauerndsten verspürt worden zu sein. Das bezeigt die Stelle Töß, S. 229, wo erzählt wird, dass Jüzi Schulthasin nach einer siebenjährigen Periode häufiger höchster Verzückungen wieder zu sich selber kam und „war ein Mensch wie ein anderer Mensch und musste nun glauben und alle Dinge tun wie ein anderer Mensch“. Aber dass der Nonne die Gottschau (Einigung) in der Ekstase nicht als der höchste religiöse Wert galt, geht aus der ihr später unter Schmerzen geborenen Erkenntnis hervor, „dass der Glaube das Allersicherste und Allerbeste sei“, dass Glaube größer sei „als die Sicherheit und die Schauung, die sie gehabt, und nun richtete sie ihr ganzes Leben nach dem Glauben“. Niemand aber wird behaupten wollen und beweisen können, Jüzi Schulthasin habe in den nun folgenden 27 visionslosen Jahren ihres Lebens darum dauernd der Gotteinigung entbehrt. Diese mag stiller, schlichter, vielleicht schwankender und schwerer zu bewahren gewesen sein als in den sieben Gnadenjahren, aber deshalb wohl nicht minder innig und groß. „ ,Glaube‘ ist das Erfahren und Erleben dieses Gotteswirkens auf Seiten der Seele“ (Schumann II, S. 110). Die Chronistin freilich schweigt bezeichnenderweise über diese 27 Lebensjahre, während sie jener sieben Jahre in ausführlicher Erzählung gedenkt. Und ebenso wird es in hundert anderen Fällen ergangen sein: das eigentliche Mit-Gott-Leben in Alltag, Arbeit, Gebet, die Gotteinigung, die sich beständig wirkend als unsichtbare Bewusstseinseinheit erneut und offenbart, blieb ungesagt und unbeschrieben, während nur das gesteigerte, von einer traumartig erregten Phantasie in Bilder und Gleichnisse „umgedichtete“, also eigentlich schon der Urklarheit beraubte Einigungserlebnis in den zahlreichen Visionsberichten auf uns kam. Bei solcher ungewollten Umdichtung war naturgemäß wieder die räumlich-körperlich konstruierte Vorstellungswelt der Nonne maßgeblich und brachte durch die fortwährende Vermengung von Bewußsseinsmäßigem und Substantiellem eine Unausdenkbarkeit in die Vorgangsschilderung, die uns weit schärfer auffiele, krankten wir nicht selber zumeist an ähnlich unklaren Vorstellungsschemen.

Die erotische Verbildlichung, an die man in der Regel zuerst und ausschließlich denkt, wenn das Wort „mittelalterliche Nonnenmystik“ fällt (auch Heiler nennt irreführend als Beispiel für „glühend erotische Mystik“ die mystischen Nonnen), spielt in unsern Chroniken durchaus nicht die allbeherrschende Rolle, die man ihr meist einräumt. Wohl tritt hier Christus als Herr, Freund, Tröster, aber nur selten als Bräutigam oder Gemahl auf; diese Vorstellungsweise, die sog. Brautmystik begegnet uns hauptsächlich in vereinzelten, hochgespannten Ericheinungen der Frauenmystik, wie sie sich in der Offenbarungsliteratur einer Mechtild von Magdeburg, Christine Ebner, Adelheid Langmann, Margaretha Ebner u. a. spiegeln. Während in deren Schriften immer wieder Umarmung und Vermählung Bild der Gotteinigung werden, findet diese in unsern Nonnenbüchern auch andre Darstellungsart. „Da saß sie in ihrem Stuhl im Chor und ward aufgezogen in ein göttlich Licht, und es war ihr, wie wenn sich ihr Leib auseinander täte, so dass sie in sich selber sah, und sie sah zwei schöne Kindlein in ihr, die hatten einander gar inniglich und lieblich umfangen und in diesem Gesicht ward ihr zu erkennen gegeben, dass das eine Kindlein unser Herr war und das andere ihre Seele und wie sie und Gott vereint waren“ (Katharinental, S. 177). „Und in dem Untrost sah sie mit innern Augen zwei Menschen, die waren lauter wie die Sonne und rot wie ein Feuer; die fuhren durcheinander tausendmal schneller, als man ein Auge zutun mag . . . Hiermit ermahnte sie unser Herr . . . wie die Seele mit ihm vereinigt ist und sein kann in diesem Leib“ (Oetenbach, S. 249, 250), „und ward ihr Herz also erleuchtet mit dem Licht göttlicher Wahrheit, dass sie in allen Dingen den Willen Gottes erkannte . . . Und in diesem Licht ward sie erkennend, wie Gottes Geist und ihr Geist ein Geist würden und so mit ihm vereinigt, dass sie ihm allein lebte . . . Und in dieser Gnade war sie mannig Jahr. Darnach begann sich ihr die Freude zu mindern, aber die. Sicherheit verlor sie nie“ (Oetenbach, S. 252). Wie schön und klar ist hier das Sicheinswissen und das daran nicht immer notwendig gebundene hohe Lustgefühl unter schieden! „Wiewohl sie in etlichen Ämtern und so aus Gehorsam mit großer Arbeit belastet war, so dass sie bis zur Nonzeit keine Ruhe hatte, so war doch ihr Herz so gänzlich mit Gott vereint, dass es sie nicht um einen Punkt beirren konnte in Gott, in der inwendigen Ruh und Süßigkeit, die sie inwendig hatte, recht als ob sie im Chor gesessen wäre“ (Oetenbach, S. 265). Dass es sich hier um keinen ekstatischen Zustand handelt, begreift sich ohne weiteres. — „Da hörte sie . . . inwendig eine Stimme, die . . . gab ihr klar zu erkennen, dass er und der Vater ein Ding waren, bevor er je den Menschen geschaffen oder selber je Mensch wurde; und dass dies nichts anderes ist, als dass er ein Wille und eine Minne ist, und dass auch sie gleicherweise mit ihm ein Wille und eine Minne werden sollte. Und da kam sie in ein stetes Innebleiben und vereinte ihren Willen mit ihm“ (Töß, S. 227).

In diesem letzten Beispiel tritt das Gotteinigungserlebnis vielleicht am lautersten zutage, nicht als meteorhaftes Aufleuchten außerordentlicher Zustände, Zeichen einer religiös überbieten Zeitepoche, sondern, damals wie je, dazu imstande und bestimmt, das ganze Leben groß, selbstlos und sinnklar zu durchstrahlen.

Worin liegt dann aber das Zeitbesondere jener Frauenmystik, deren eng-weite Welt wir nun durchschritten?

In der übermenschlichen Kraft, mit der tausende schwacher Frauen durch Übung und Andacht starke Menschen aus sich formten, leid- und tatwillige Menschen, nach dem Bilde des Kruzifixus, eins mit dem Vater.

Und das Ewiggültige hinter den Härten ihrer Askese, den Wonnen ihrer Verzückungen, den Traumgebilden ihres Himmelreiches?

Der wirkliche Gott, der wirkend erfahren wird von dem, der reines und das ist eines Willens mit ihm ist.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben