Das Gebetsleben der Nonne

Dieser Abschnitt kann um so kurzer gefaßt werden, als wir in Wilms „das Beten der Mystikerinnen“, eine an Stofflichem ungemein reichhaltige Arbeit, speziell unsere Dominikanerinnenklöster betreffend, besitzen, während Heilers großes Werk, „das Gebet“, dem Problem des Betens im allgemeinen in allen Tiefen und Breiten nachgeht Doch soll seine Terminologie hier nur teilweise benutzt werden, ebenso wie die Poulains, Wilms u. a., da es weniger darauf ankommt einzuteilen und zu erklären, als zu veranschaulichen und darzustellen und vor allem einmal die Tatsachen selbst reden zu lassen. Vielleicht wird sich dann daraus ungezwungen die ungeheure Bedeutung des Gebetes für die Bewusstseinsstruktur eines Menschen ergeben, eine Bedeutung, deren Tragweite wir Heutigen meist verkennen, indem wir im Beten ein egoistisches Mitsichselbstbeschäftigtsein und unfruchtbares Zeitverschwenden im Gegensatz zur Handlung und charitativen Tätigkeit erblicken, der fast ausschließlich wir ethischen Wert zubilligen. Wir vergessen dabei, dass das Gebet — gleichviel, ob die von ihm vorausgesetzte Gottheit tatsächlich oder untatsächlich ist — eine Reihe von entscheidenden Veränderungen in der Seele hervorbringt, als da sind: Beherrschung der Gedankenabläufe, bewusste Beobachtung ihrer Zusammenhange, Steigerung der Phantasierungsfähigkeit, Ausbildung der Konzentration und Entspannung, kurz, eine Verfeinerung und Vertiefung des Bewusstseins, wie sie etwa dem modernen Nervenmenschen eigen ist, doch ohne dessen Ausgeliefertsein an „äußere“ und „innere“ Vorgänge, sondern im Gegenteil mit einer Ermächtigung darüber, deren Spannkraft wir kaum nachzufühlen vermögen. Bedingung für solche Gebetswirkungen ist freilich das Vorhandensein einer bewußt oder unbewusst angeeigneten Gebetsschulung, wie die der heutige Gläubige selten, die betende Mystikerin aber in hohem Ausmaße besaß.

Dem gemeinsamen Chorgebet wie dem einzelnen Privatgebet wurde im Kloster die gleiche Pflege zuteil. Aus dem Chorgebet wurde gleichsam der Bilder- und Wortschatz geschöpft, der die Einzelandacht adelte und bereicherte. Begleitet war das Beten von den dabei üblichen Stellungen des Stehens, Neigens, Kniens usf. Die häufig geübte „Venie“ bezeichnet einen Kniefall, die sog. „gestreckte Venie“ ein Hinwerfen des ganzen Körpers und regungsloses Verharren in dieser Lage. Die Venie und das Beten in Kreuzesstellung, d. i. mit waagrecht ausgestreckten Armen sind eine Art Verbindung von Gebet und Kafteiung. Bezeichnend dafür ist, daß z. B. Elsbeth von Cellinkon gerade das miserere in Kreuzesstellung zu sprechen pflegte (Töß,S.257). Eine äußere, für jene Zeit besonders charakteristische Begleiterscheinung der Andacht sind die Tränen, die von den Mitschwestern oft als unmittelbares Andachtsmaß gewertet werden (Töß, S. 176 u. a.).


Beim Einzelgebet, um das es sich hier nur handelt, ist zu unterscheiden zwischen dem gebundenen Gebet (es wird auch, nicht ganz eindeutig, als „mündliches“ bezeichnet, obwohl man ja z. B. ein Vaterunser, Ave Maria, Credo u. dgl auch rein „innerlich“ beten kann) und dem freien Gebet, wobei der Mensch mit eigenen, der Stimmungsgewalt des Augenblickes entströmenden Worten zu Gott redet und ruft. So Adelheid Langmann, die unter der Messe klagt: „Herr, nun will ich immer mehr weinen, du kommest denn zu mir!“ Bei unsern Nonnen aber geht diese Art zu beten fast immer in das förmliche Gespräch mit Gott, ob einem Antwortenden, über, so dass auf die Klage das Trostwort, auf die Bitte die Gewahrung innerlich zu hören vermeint wird. „Sie sprach: ,Herzlieber Herre, um der Minne willen, die du mir gestern erzeigtet, laß mich dich sehen.‘ Er sprach: ,Sieh in dein eigen Herze‘“ (A. Langmann, S. 16). Wir neigen unwillkürlich dazu, dem gebundenen Gebet und der Gebetsformel gegenüber dem freien Gebet einen weit geringeren religiösen Wert einzuräumen und finden es mit echter Frömmigkeit unvereinbar, wenn wir von Mystikerinnen hören, dass sie täglich bis zu ihrem Tode eine bestimmte, oft ungeheuerliche Anzahl (zu 50, 100 ja 1000) Vaterunser oder Ave Maria zu beten pflegten. Aber der mit dem Gebetsleben tiefer Vertraute weiß, dass die damit unvermeidlich verbunden scheinende Mechanisierung und Sinnleere wohl eintreten konnte, aber nicht mußte. Einen Weg zum Verständnis auch dieser Gebetsart weisen Stellen wie: „Sie hatte auch die Gewohnheit, dass sie immer vor der Frühmette aufstand, wohl eine Vigilie lang, und las dann drei pater noster, wie sie unser Herr Jesus Christus auf dem Berg gebetet: das erste der Heimatlosigkeit, die sein zartes Herz hatte, da er sich aller menschlichen Gesellschaft begab und in allen Nöten ohne Hilfe irgendeiner Kreatur sein wollte; das zweite der großen Not, die sein einsames Herz hatte, da er aus dem Schirm seines himmlischen Vaters in alle die grimmige, böse Gewalt seiner Feinde ausging; das dritte, dass er ausging aus dem Trost des heiligen Geistes, so dass seine Marter und sein Leiden aufs höchste stiegen. Bei dieser Betrachtung verblieb die bis zur Mette“ (Töß, S. 164). Man sieht, die stillgesprochenen Vater unser Worte waren hier zwar ihrer unmittelbaren und eigentlichen Bedeutung beraubt, aber von einer ganz bestimmten, einheitlichen Gedanken- und Gefühlshaltung getragen, in diesem Fall die tiefste Einsamkeitsstimmung Jesu, in andern Fällen etwa das Mitempfinden seiner fünf Wunden, seiner ganzen Passion u. a. Es ist dies also der deutliche Übergang vom gebundenen Gebet zu einer dritten Gebetsart, die im Andachtsleben der Nonne vielleicht den größten Raum einnimmt: Betrachtung, Beschauung oder Meditation.

Man macht im Gebrauch dieser drei Wörter feinere Unterschiede, derart, daß bei der Betrachtung der gedankliche, bei der Beschauung der anschaulich phantasierte Anteil überwiegen soll, während die Meditation beide umfasst, doch (nach einigen) einen höheren Grad des Ernsterlebnisses mit gewaltsamer Sammlung (Konzentration) aufweist. Ohne auf diese Unterscheidung näher einzugehen, seien Beispiele für diese Gebetsweise erbracht.

„Und besonders begann ich die Untreue zu betrachten und erwägen, die ich Gott dadurch bezeigt hatte, dass ich des edlen, würdigen Schafes meiner edlen Seele, für die er sein heiliges Blut am Kreuz vergossen und die er mir in so großer Treue empfohlen, so übel gepflogen hatte“ usw. (Töß, S. 197). Hier herrscht die denkende Überlegung vor, führt aber in der Folge zu einem so heftigen Reueschmerz, dass der Betenden „alle leibliche Kraft und alle Sinne“ vergehen (Töß S. 198). Sinnenmäßige Anschaulichkeit des Vorstellens hingegen kennzeichnet folgende Versenkungsart: „Sie hatte auch besonders die Übung, dass sie die vierzig Tage lang, die unser Herr in der Wüste war, täglich mit ihrer Andacht zu ihm ging und mit sonderlichem Gebet; und nahm seine Füße in geistlicher Betrachtung in ihren Schoß und durchwärmte die ihm recht wohl“ (Töß, S. 251). Die Einfühlung geht so weit, dass die Nonne die verworrenen Haare Christi sieht, seinen Hunger mitverspürt und die Steine, die der Versucher ihm gereicht, deutlich wahrnimmt. Diese Form der Meditation begegnet uns am häufigsten; sie nimmt ihren Stoff aus allen Ereignissen des Kirchenjahrs, namentlich aus der Geburts- und Leidensgeschichte Christi. Von weiteren Beispielen kann mit Rücksicht auf das bereits gesagte abgesehen werden. Die Meditation bleibt zuweilen im Bereiche sanfter, müheloser Träumerei, zuweilen aber sammelt sie mit äußerster Willenssteigerung alle Vorstellungskräfte auf den betrachteten Gegenstand und wird so zur Konzentration. „Und zu diesem Gebet gewann sie so großen Ernst und kehrte ihr Herz und ihre Kraft so ganz daran, dass kein nichtiger Gedanke in ihr Herz käme und in ihr Gebet hineinspräche, dass es sie etwann dünkte, es müsste vor Überanstrengung ihr Tod sein“ (Töß, S. 221).

Den Inhalt der freien Gebete bilden meist geistige Bedürfnisse (Ringen nach Gelassenheit, Geduld, Minne, Gottnähe usf.) nur selten persönliche Angelegenheiten z. B. die Genesung des eigenen Kindes (Katharinental, S. 167). Die Fürbitte für die armen Seelen wird von den meisten mit heiligem Ernste betrieben. Adelheid Langmann erlöst, fast möchte man sagen „erhandelt“ deren von Christus in fabelhaften Zahlen, jedesmal zu fünftaufend, dreißig-, ja hunderttausend; viel rührender ist das Verfahren Marg. Ebners, die nicht für viele Seelen gleichzeitig, sondern immer nur für eine ganz innerlich beten kann und es zu fühlen meint, wie diese anfangs so schwer, kaum zum „Erheben“ ist, dann aber immer leichter und fröhlicher erscheint, bis Margarete in süßer Lust der gelungenen Erlösung inne wird (M. Ebner, S. 99). Gebete um die eigene Seligkeit, namentlich um ein gutes und gnadenreiches Ende kommen auch oft vor. Manche bringen täglich drei Hauptwünsche vor Gott. ,,Drei Dinge hat die auch viel begehrt: das erste, dass sie der Tod in unseres Herrn Dienst ergreife; das andere, daß sie williglich sterbe; das dritte, dass sein heiliger Fronleichnam ihre letzte Speise werde“ (Töß, S. 182).

Den heften Einblick in die Auffassung der Nonne vom Gebet gewahren uns die vielen Gebetsweisungen, die sie von Gott oder „einer Stimme“ zu vernehmen glaubt. Aus der reichen Zahl dieser wahrhaft mystischen Zeugnisse seien nur die schönsten herausgegriffen. „Da sprach eine Stimme: das ist, was du mich bitten sollst, dass ich dir alle deine Sünden vergebe, und sollst mich bitten, dass ich dich befestige, damit du nicht mehr sündigst, und sollst zu mir beten, dass ich dir gebe eine Seele voll Gnade und dass ich einen Menschen aus dir mache nach meinem allerliebsten Willen und dass ich mich dir gegenwärtig zeige mit meiner Erbarmung bei deinem Tod“ (Katharinental, S. 182). „Du sollst bitten, so wie die Dreifaltigkeit ein Ding ist, dass du so ein Ding werdest mit uns (Töß, S. 172). „Du sollst bitten für deine vergessenen Sünden und deine ungesagten Sünden und deine unerkannten Sünden . . und sollst bitten, dass nimmer kein Mittel zwischen dir und dem Vater werde; und sollst bitten, wie er heute eine Gegenwart ist worden und eine ewige Speise aller Christenheit, dass er auch dir Gegenwart werde und eine ewige Speise“ (Töß, S. 224).

Wer aber solcher Gebetsweisung restlos folgte, der gelangte schon in jene lautlose Bergstille des Seins, wo „kein Bitten mehr ist, nichts als Gott schauen“ und die Seele mit Elsbeth von Beggenhofen spricht: „Ich kann nicht mehr beten; denn in mir sind allwegen neue Wunder, wie denen, die in ewiger Seligkeit sind, die allezeit neue Freude haben und neue Wunder von Gott ewiglich verspüren“ (Oetenbach, S. 270). — Hier endet der Fels der Mühseligkeit, die freien Lüfte der Gnade spielen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Nonnenleben