Teil 14: Bismarck und sein Verhältnis zu Russland

Der Mann, der das große Einigungswerk vollbrachte, war ein unbekannter preußischer Junker, der sich nach Jura- und Landwirtschaftsstudium als Landtagsabgeordneter durch seine intelligenten Reden und seinen praktischen politischen Instinkt alsbald einen Namen machte. Dass er im Gegensatz zu heutigen Jammergestalten ein ganzer Kerl war, bewies er schon als Abgeordneter beim Frankfurter Bundestag, wo es nach heiligem Brauch nur dem österreichischen Gesandten erlaubt war, zu rauchen. Bismarck hatte den Schneid, eben diesen Gesandten, den Grafen Thun, um Feuer für seine Zigarre zu bitten, was dieser ihm auch tief bestürzt reichte.

Über Bismarck urteilt Johannes Haller in seinen Epochen der deutschen Geschichte: "Hier ist er erschienen, der rechte Mann zur rechten Zeit. . . Die Nation hat ihren Erlöser nicht erkannt; wäre es auf sie angekommen, man hätte ihn ans Kreuz geschlagen und verbrannt. Er musste sie bezwingen, wie er einst seinen Reitknecht vom Ertrinken gerettet hatte, indem er ihm die Kehle zudrückte. . . Schwerlich hat jemals ein Staatsmann, ausgenommen vielleicht Richelieu, mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. . . Er stand allein. Von denen, die dazu berufen gewesen wären, half ihm keiner, die meisten widerstrebten. . . Nicht einmal aussprechen durfte er, was er vorhatte. Hätte er es getan, der alte König, sein Herr und einziger Rückhalt, wäre vor so viel Kühnheit erschrocken und hätte ihn fallen gelassen."


Nach acht Jahren Erfahrung im Frankfurter Bundestag, im "Parlament der Professoren", wurde Bismarck im Frühjahr 1859 als preußischer Gesandter nach Petersburg beordert. Er sollte abgeschoben werden, weil der kraftvolle Hüne neidischen und kleinlichen Geistern unbequem war. Bismarck hatte das Glück, den Fürsten Alexander Gortschakow, den führenden Staatsmann Russlands, von Frankfurt her zu kennen, wo Gortschakow Bevollmächtigter beim Bundestag gewesen war. Der Fürst schätzte Bismarck und führte ihn, obwohl dieser weder hohen Adels- noch militärischen Rang innehielt, in die Petersburger Gesellschaft ein.

Bismarck, der fließend Englisch und Französisch sprach, lernte auch bald Russisch hinzu. Wegen seines Witzes und seiner Schlagfertigkeit öffneten sich ihm als amüsantem Unterhalter bald Tür und Tor bis in die höchsten Kreise. Auch den Zaren hatte er durch sein offenes Wesen bald für sich gewonnen. Alexander II. zeichnete Bismarck betont vor den anderen Vertretern der 39 Staaten des Deutschen Bundes aus, und Bismarck fühlte sich wohl in der warmherzigen Gastfreundschaft der Russen, obwohl er schon damals bei der jüngeren Generation eine gewisse Abneigung gegen Deutschland feststellen musste.

Schon unter Alexanders Vater, Zar Nikolaus I., hatte es Anzeichen gegeben, dass der seit Peter dem Großen aus Deutschland rührende, stets als Bereicherung empfundene Einfluss einem neu erwachenden russischen Nationalbewusstsein zu weichen begann. Die Partei der "Slawophilen", die sich später sogar in eine förmliche Religion des Panslawismus auswachsen sollte, wollte, losgelöst von westlicher Kultur, nur noch das bodenständige Slawentum gelten lassen. Gar mancher spätere fanatische "Slawophiler", so Leo Sievers, "holte sich an deutschen Universitäten das Rüstzeug für spätere panslawische Polemiken."

Bezeichnend für die den Deutschen eigene, bei anderen Völkern unbekannte Fremdenliebe, war die neue Bewegung auf den Einfluss des deutschen Theologen Johann Gottfried Herder aus Mohrungen in Ostpreußen zurückzuführen. Herder, der ob seiner vielseitigen Bildung von Goethe hoch geschätzt war, wurde weithin bekannt durch seine Stimmen der Völker, was ihn zum "Erwecker der Slawen" machte. Es war Herder, der sich unentwegt für die Emanzipation und eigene nationale Identität der Ostvölker einsetzte, ob Russen, Letten, Esten oder Finnen.

Der von ihm angeregte russische Dichter Chomjakow schrieb: "Russland, welch wunderbare Erscheinung auf dem Schauplatz der Welt! Welches Land kann sich an Größe mit ihm messen. . . O Russland, o mein Vaterland! Dir ist es beschieden, die Entwicklung der Menschheit zu krönen." Chomjakow begnügte sich jedoch nicht mit der sprichwörtlichen Vaterlandsliebe des russischen Menschen. Er forderte weiterhin, dass Russland sich klugerweise der schöpferischen Kräfte des Westens bedienen solle, um eben diesen Westen beherrschen zu können!

Auch Deutschenhass und Großmannssucht der Polen dürften nicht zuletzt auf die "selbstlosen", merkwürdig weltfremden Anregungen deutscher Dichter und Denker zurückgehen. Der polnische Hass auf alles Deutsche ist umso unverständlicher, als die Polen, die von den Russen nach den Teilungen offen und brutal unterdrückt wurden, von den Deutschen bzw. von Preußen nur Vorteile erfahren hatten. In typisch deutscher Gutherzigkeit hatte Preußen neue Schulen gebaut, in denen die polnischen Kinder in ihrer Sprache unterrichtet wurden. Die Preußen schafften auch die in Polen noch übliche Leibeigenschaft im Großherzogtum Posen ab, womit sie sich allerdings den unversöhnlichen Hass des polnischen Adels zuzogen. Während Polen in den russischen Teilen unter der Knute seufzten, konnten ihre Umstürzler in Preußen ungehindert und unbespitzelt ihr Wesen treiben.

Um der Ausweisung nach Sibirien zu entgehen, hatten sich Tausende von Polen nach Deutschland gerettet, das sie mit offenen Armen aufnahm. Liberale und Katholiken wetteiferten in ihren Bemühungen um das Wohl der Armen. Die Polenfreundlichkeit wurde zur Polenschwärmerei, überschwappend sogar in Kunst und Musik wie etwa in Millöckers "Bettelstudent". Die Folge war, dass die polnischen Insurgenten, denen die Russen das Handwerk gelegt hatten, unter der ihnen von den Deutschen entgegenbrandenden naiven Sympathiewelle anfingen, neue Aufstände zu organisieren. Über ein von einer Pariser Zentrale ferngesteuertes Unternehmen versuchten sie nun ihr Glück unter den wohlwollenden Augen des preußischen Regimes. Statt sich um eigene Belange zu kümmern, feierte schon damals die deutsche Affenliebe und Bewunderung alles Fremden ihre tragikomischen Erfolge.

Bismarck schrieb dazu: "Die Berliner haben die Polen mit ihrem Blute befreit und dann eigenhändig im Triumph durch die Stadt gezogen. Zum Dank dafür standen die Bewaffneten bald darauf an der Spitze von Banden, welche die deutschen Einwohner einer preußischen Provinz mit Plünderung und Mord, mit Niedermetzelung und barbarischer Verstümmelung von Weibern und Kindern heimsuchten. So hat deutscher Enthusiasmus wieder einmal zum eignen Schaden fremde Kastanien aus dem Feuer geholt."

Der Lyriker Georg Herwegh schrieb seinen Landsleuten ob ihrer schläfrigen Verträumtheit ins Stammbuch:

      Lass jede Freiheit dir rauben,
      setze dich nicht zur Wehr,
      du behältst ja den christlichen Glauben:
      Schlafe, was willst du mehr?

      Und ob man dir alles verböte,
      doch gräme dich nicht zu sehr,
      du hast ja Schiller und Goethe:
      Schlafe, was willst du mehr?

In den drei Jahren seines Petersburger Aufenthalts lernte Bismarck Land und Leute kennen. Er verstand es, Beziehungen anzuknüpfen, die ihm später als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler so nützlich werden sollten. "Er lebte mit den Russen," schreibt Leo Sievers, "und lernte mit den Russen zu denken und sie zu verstehen."

Am 24. Mai 1862 holte König Wilhelm Bismarck aus Petersburg zurück und ernannte ihn zum Gesandten in Paris. Dort verbrachte er nur vier Monate, bis ihn der König am 24. September zum Staatsminister ernannte. Damit hatte er die Ausgangsbasis gewonnen, um aus dem preußischen Kernland den Jahrhunderte alten Traum der Deutschen zu verwirklichen: Die Schaffung eines einigen und starken, in der Welt geachteten deutschen Reiches. Es war nicht die von den Streitern der Freiheitskriege ersehnte großdeutsche Lösung. Aber in Anbetracht der vielen damals zu Österreich gehörenden Fremdvölker wäre dem Realpolitiker die Erfüllung dieses Wunsches unmöglich gewesen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche helfen Russland bauen
Fürst Otto von Bismarck 1815-1898

Fürst Otto von Bismarck 1815-1898

Otto von Bismarck

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Bismarck mit seinen Hunden auf

Bismarck mit seinen Hunden auf "Friedrichsruh"

Bismarck, der Diplomat

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Der alte Kaiser und sein Kanzler

Der alte Kaiser und sein Kanzler

Bismarck, der Schmied der deutschen Einheit

Bismarck, der Schmied der deutschen Einheit

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