Teil 07: Russland wendet sich nach Westen

Peter I., durch Albert Lortzing in allen westlichen Kulturländern volkstümlich gemacht, war nicht gerade der Mann, wie er sich mit der sentimentalen Arie im "Zar und Zimmermann" darstellt. Mit ihm beginnt vielmehr eine erneute, sorgfältig geplante und stete machtvolle Ausdehnung des russischen Reiches nach mehreren Richtungen, vornehmlich aber an die eisfreien Häfen der Ostsee.

Peter, später nicht nur wegen seines riesenhaften Körpers der Große genannt, wurde Russlands bedeutendster Herrscher. Er war der erste Russe, der sich vorwiegend als Europäer fühlte. Seine junge und schöne Mutter war des Zaren zweite Frau, aus niederem Adel und daher von den führenden Moskauer Fürstenhäusern verachtet. Hinzu kam ihre von ihrem Pflegevater übernommene Neigung zu westlicher Kultur. Sie las nicht nur Bücher, was allein schon verdächtig war, sie übte zusammen mit dem Pastor Gregori von der deutschen lutherischen Gemeinde Theaterstücke in deutscher Sprache ein. Und die Musikanten, die bei ihren Aufführungen aufspielten, hatte ihr Mann eigens aus den deutschen Städten Kurlands holen lassen.


Nach der grauenvollen Ermordung seiner Mutter wurde Peter zusammen mit seinem schwachsinnigen Halbbruder zum Zaren gekrönt. Die Regentschaft der beiden Kinder übernahm ihre Schwester Sophia, in Wahrheit jedoch deren "Sklave" und Geliebter, der Fürst Golizyn. Auch Sophia hatte es durchgesetzt, sich mit westlicher Kultur zu umgeben. Ihre Mahlzeiten wurden von Tafelmusik begleitet, wie an den Höfen von Dresden oder Berlin üblich. So ließ die emanzipierte Sophia auch Peter gewähren, wenn er in der Njemezkaja Sloboda, für ihn Abbild der großen Welt, in der die Mehrzahl der etwa 18.000 in Russland lebenden Deutschen wohnte, daran ging, Kontakt mit dort wohnenden Menschen aus ganz Europa zu suchen: Künstler, Gelehrte, Ärzte und Apotheker, Handwerker und Handeltreibende. Der deutsche Arzt Dr. Laurentius Blumentrost sowie dessen Söhne, alle in Deutschland studiert, weil es in Russland keine Universität gab, regten zeitlebens sein Interesse an der Medizin an. Einen der Söhne machte er später zu seinem Leibarzt.

In einem abseits von Moskau gelegenen kleinen Dörfchen, Preobraschenskoje, fern von den Intrigencliquen des Kreml, baute der junge Peter sich seine eigene Welt auf: mit aus der deutschen Njemezkaja Sloboda entlehnten Freunden und Kameraden, von denen er, vielbelächelt, einen Teil als ein "Kinderregiment" zusammenstellte, mit Kartographen und Ingenieuren, Brückenbauern, Sprengmeistern, Artilleristen, Taktiklehrern und Fechtmeistern.

Sophia hatte lange Peters Treiben mit nachsichtigem Lächeln beobachtet und ihn für ebenso harmlos gehalten wie seinen Halbbruder. Doch eines Tages gingen ihr die Augen auf, und sie beschloss, ihn mit Hilfe ihr ergebener Strelitzen zu liquidieren. Zu seinem Glück wurde Peter gewarnt und konnte im Nachthemd entfliehen. Nach seinem sofortigen Gegenschlag, bei dem immer mehr Strelitzen zu ihm überliefen, ließ er seine Halbschwester festnehmen, kahlscheren und in ein Kloster sperren. Ihre Strelitzen aber ließ er an einem Baum unter Sophias Fenster aufhängen.

Peters Regierungsprogramm wies drei Hauptziele auf: Eine gründliche Reform des Staates im Innern, einen breitbandigen Zugang nach Süden zum Asowschen und Schwarzen Meer, und vor allem den Durchbruch zu den für seine Verbindungen nach Europa wichtigen Häfen der Ostsee. Die Eroberung Asows erfolgte zu Beginn seiner Regierungszeit. Damit hatte er mit 23 Jahren sein erstes Ziel erreicht. Bevor er jedoch seine weiteren Pläne in Angriff nahm, ging der stets unternehmungs- und wissensdurstige Peter auf eine große Lehrreise in alle bedeutenden Länder Europas.

Unter dem bescheidenen Namen Peter Michailow suchte er zuerst die deutschen, jetzt zu Schweden gehörenden Städte in Livland und Kurland auf. In Berlin traf er durch Vermittlung der Kurfürstin Sophie Charlotte mit dem Universalgenie Leibniz und mit dem berühmten preußischen Architekten Andreas Schlüter zusammen, dem Erbauer des Berliner Schlosses und des Denkmals des Großen Kurfürsten. Von Leibniz, mit dem er sich bei einer zweiten Reise jeden Nachmittag in Bad Pyrmont unterhielt, holte er sich Anregungen für die Schaffung eines modernen Staatswesens. Leibniz wurde darüber hinaus der geistige Vater der späteren Petersburger Akademie der Wissenschaften. Schlüter wurde später von ihm für die Baupläne von Petersburg angeworben, starb jedoch schon ein Jahr nach seiner Ankunft in der neuen Stadt. Nach dem Besuch der Niederlande und Englands kam Peter über Dresden nach Wien. Dort erreichte ihn allerdings die Nachricht von einem Putsch der Strelitzen.

Am 4. September 1698 wieder in Moskau, wo ihm getreue Männer den Aufstand schon niedergeschlagen hatten, übte er grausame Rache. Wiederum vor Sophias Klosterfenster ließ er Galgen errichten, an denen er 130 der Verschwörer aufhängen ließ, wobei er mehreren Strelitzen eigenhändig den Kopf abschlug. Die Strelitzenregimenter wurden aufgelöst und eine völlig neue Armee von ihm geschaffen unter der Leitung von 900 ausländischen Offizieren, in erster Linie Deutschen.

Nachdem Peter damit die volle Kontrolle über sein Land erreicht hatte, konnte er es wagen, einige seiner eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Neben einer neuen, mehr westlichen Kleiderordnung verbot er sogar die langen Bärte, ohne die bis dahin ein echter Russe undenkbar war. Frauen durften nicht länger als Lustobjekt ihres Mannes im Terem eingesperrt bleiben. Neben mehr persönlichen Schrullen wie etwa seine Vorliebe, Leuten mit geschwollener Backe ihre Zähne zu ziehen oder Widerstrebenden den Bart abzuschneiden, ging er mit großer Energie an die Reform der russischen Verwaltung, wobei er unfähige oder korrupte Beamte kurzerhand nach Sibirien verbannte.

Seine kulturellen Errungenschaften bestanden in der Gründung des ersten öffentlichen Theaters in Moskau und im Ankauf und der russischen Übersetzung von wissenschaftlichen, philosophischen und schöngeistigen Büchern aus den Ländern Mitteleuropas. Für eine fürstliche Gage holte er den deutschen Theaterdirektor Johannes Kunst aus Danzig an den Kreml und ließ ihn gleich seine Schauspieler und Musikanten als Grundstock für das Moskauer Ensemble mitbringen. Dort wurden zuerst die deutschen Komödien und Singspiele aufgeführt, oder auch aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt.

Da Moskau für ihn sozusagen Symbol russischer Rückständigkeit war und neben geheiligten Traditionen auch Korruption, Cliquenwirtschaft, Intrigantentum, Faulheit und Bestechlichkeit bedeutete, ging sein Bestreben dahin, eine völlig neue Stadt nach seinen Vorstellungen zu schaffen, weltoffen und zugleich Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Meer und dem großen russischen Flusssystem: Sankt Petersburg, nach ihm benannt! Das Problem war, dass er dieses Gebiet noch gar nicht besaß. Das Baltikum war seit dem 30jährigen Krieg in schwedischer Hand. Während das Deutsche Reich durch diesen Krieg weitgehend zerstört und entkräftet war, über die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hatte und machtlos am Boden lag, hatte Schweden ohne die geringsten Zerstörungen seinen Machtraum entlang der Ostsee um ein bedeutendes erweitert.

In einem dann 21 Jahre dauernden Krieg gelang es Peter, im Bündnis mit Polen und Dänemark die Schweden zu besiegen. Die Deutschen, denen das Land an der Ostsee einst gehört hatte, waren nach dem durch den deutschen Partikularismus bedingten Untergang von Orden und Hanse gezwungen, auf schwedischer Seite gegen die Russen zu kämpfen, in deren Reihen ebenfalls Deutsche standen! Zwei Drittel aller schwedischen Offiziere waren Deutsche noch aus den alten Familien der Ordensritter. Jeder dritte von ihnen ist gefallen!

Die Russen hatten zunächst Narwa, Dorpat und Marienburg erobert. Erst 1710 fielen auch Riga und Reval. Peter wusste jedoch um die Bedeutung dieser deutsch-baltischen Städte. Er gab den Gutsbesitzern ihr Land zurück und bestätigte die früheren Privilegien der Bürger sowie ihre städtische Selbstverwaltung und die evangelisch-lutherische Landeskirche. Während die Deutschen hier die oberen Stände ausmachten, bestand die breite Landbevölkerung vorwiegend aus Esten, Letten und Litauern. Russlands spätere Kaiserin, Katharina I., die damals noch Martha hieß, entstammte diesen Kreisen. Sie wuchs als Hausmädchen bei dem Pastor Ernst Glück in Marienburg auf, wo sie wie alle Einwohner der von Deutschen gegründeten Stadt deutsch sprach.

Als die Russen 1702 diese Stadt eingenommen und reiche Beute gemacht hatten, dann die Stadt niederbrannten, war auch Pastor Glück mit seiner Familie in einer Herde von Flüchtlingen nach Russland vertrieben worden. Nur Martha, die schon früh neben einem gefälligen Wesen über besondere körperliche Reize verfügte, wurde im Lager des russischen Heerführers, des steinreichen Generals Scheremetjew, zurückbehalten. Doch als der noch mächtigere Fürst Menschikow Martha bei einem Besuch im Lager des Generals entdeckte, sah dieser sich genötigt, sie an den Fürsten abzutreten. Und als Peter sie bei einem Besuch erblickte und gleich für sie entflammt war, blieb auch dem Fürsten keine andere Wahl, als sie dem Zaren zu überlassen. Zu Peters Entzücken zeichnete sich Martha, wohl von Menschikow angelernt, nebenbei durch besondere Trinkfestigkeit aus. Und bald hatte er keine Bedenken mehr, auch öffentlich mit seiner geliebten Mätresse aufzutreten.

Zur Besänftigung des russischen Volkes und der Geistlichkeit ließ Peter die katholisch getaufte, dann evangelisch konfirmierte Martha russisch-orthodox neu taufen. Obwohl sie ihr Leben lang, auch später als Zarin nie ihren deutschen Akzent verlor, war Martha nun als echte Russin eingestuft mit dem neuen Namen Katharina Alexejewna. Ungewohnt unter den arglistigen Cliquen am Hofe, war einer der Grundzüge Katharinas, dass sie gegenüber Menschen, die ihr Gutes getan hatten, nie das Gefühl der Dankbarkeit verlor. Sie ließ sobald wie möglich die Familie von Pastor Glück, die in Marienburg alles verloren hatte, nach Moskau holen. Der hochgebildete Pastor erhielt den Auftrag, ein Volksbildungswerk aufzubauen und Bücher aus etlichen Sprachen ins Russische zu übersetzen. Auch für seinen Sohn und seine Tochter sorgte sie. Der Sohn wurde Kammerherr im Finanzministerium, und die Tochter wurde von ihr als ihre Hofdame mit einem angesehenen Admiral verheiratet. Peter lebte mit Katharina zehn Jahre zusammen, bevor er sie heiratete. Es dauerte 20 Jahre, bis sie den Thron als Katharina I. besteigen sollte. Sie gebar Peter insgesamt acht Kinder, teils vor, teils nach der Hochzeit. Nur zwei überlebten: Anna, die später Herzogin von Holstein wurde, und Elisabeth, die spätere Zarin Elisabeth I.

Es konnte nicht ausbleiben, dass Katharina wegen ihrer schönen, üppigen Figur auch die Aufmerksamkeit anderer Männer am Hofe erweckte. Im November 1724 wurde sie von Peter in einer peinlichen Situation mit einem Hofbeamten ertappt; Wilhelm Mons hieß der Unglückliche. Peters Rache war furchtbar. Mons erduldete nach seiner Kerkerhaft die Folter, ohne ein belastendes Wort gegen die Kaiserin zu verlieren. Peter zwang Katharina, während seiner Enthauptung dicht neben ihm zu stehen. Als sie am Abend schlafen gehen wollte, entdeckte sie bei Kerzenlicht zu ihrem Entsetzen den in Spiritus in einem Glasbehälter konservierten Kopf ihres Liebhabers. Erst nach Wochen erlaubte Peter ihr auf ihr flehentliches Bitten, den Kopf von Wilhelm Mons in die neugegründete Akademie der Wissenschaften holen zu lassen, wo er noch lange Zeit ausgestellt blieb.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche helfen Russland bauen
Zar Peter der Grosse

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Das heutige Russland

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An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

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