Teil 06: Boris Godunow und der falsche Demetrius

Schon 100 Jahre vor der Westorientierung Peters des Großen und seinem Bemühen um Wissens- und Bildungseinfuhr aus Deutschland entstand in Boris Godunow ein Zar, der erste aus tatarischem Geblüt und selbst Analphabet, der Schulen einrichtete und begabte junge Russen auf deutsche Universitäten schickte. Boris, Hauptfigur in Mussorgskys grandioser Oper, war durch eine gewiegte Heiratspolitik zum Herrscher aller Reußen aufgestiegen. Aber der gutaussehende, gewandte und vor allem auch außenpolitisch erfolgreiche Emporkömmling hatte unter den Fürsten gefährliche Neider, die nach Wegen suchten, ihn zu beseitigen. Die Gelegenheit dazu ergab sich unverhofft, als ein in Polen von Jesuiten herangezüchteter angeblicher Sohn Iwan Grosnys, den man schon lange für tot erklärt hatte, auf den Plan trat.

Der deutsche Kaiser Rudolf II. hatte Boris die Warnung zustellen lassen, dass die Polen mit einer neu aufgestellten großen Armee Russland zu überfallen beabsichtigten. An die Spitze dieses Heeres hatten sie mit schlauer Berechnung besagten Dimitrij, Iwans des Schrecklichen auf mysteriöse Weise wieder aufgetauchten jüngsten Sohn, gestellt. Obwohl nie genau aufgeklärt, so darf als höchstwahrscheinlich angenommen werden, dass der falsche Dimitrij ein raffiniertes Retortenprodukt aus der Giftküche der Jesuiten war, mit allen Einzelheiten der orthodoxen Lehre vertraut gemacht und sogar in jeder seiner Verhaltensweisen den Eindruck der Echtheit erweckend. Papst Klemens VIII. hatte ihn wie sich später beweisen ließ persönlich in Rom geprüft, um mit diesem genialen Streich die Millionen russischen Orthodoxen wieder in den Schoß der Mutter Kirche zurückzuführen freiwillig, notfalls aber auch "mit Feuer und Schwert".


Geschulte Agenten waren dem polnischen Heer vorausgeschickt worden, geführt von polnischen Jesuiten. Psychologisch äußerst geschickt setzten sie Gerüchte über den Zaren in Umlauf: dass Boris ein Mörder sei, und allerlei mehr, um sein Ansehen im Volk zu untergraben und seinen Sturz vorzubereiten. Eine zu der Zeit durch eine lange Dürre und Missernten entstandene Hungersnot ließen das abergläubische Volk Dimitrij wie einen vom Himmel gesandten Retter in der Not erwarten.

Gegen diese Unterwanderung erwiesen sich selbst die triftigsten Argumente des Zaren als machtlos er wurde ermordet. Doch sein Tod sollte sich für das Volk als verhängnisvoll erweisen. Der seine Rolle teilweise hervorragend spielende falsche Dimitrij wurde am 30. Juli 1605 zum neuen Zaren gekrönt. Die ihm als Zarin zugedachte gerissene polnische Adlige Maryna, Tochter des einflussreichen und noch gerisseneren Jurij Mnischek am polnischen Hofe, ließ ihn zappeln und mit immer neuen Forderungen ihres Vaters hinhalten. Eine von dessen Bedingungen zur Heirat war die Einwilligung Dimitrijs gewesen, Nowgorod und Pleskau abzutreten und das Recht, überall in russischen Landen katholische Kirchen zu errichten!

Nach den früheren Erfahrungen mit der mongolischen Schreckensherrschaft lernten die Russen nun die Polen kennen, die sich in Moskau als Herren aufspielten, Fußgänger niederritten und Mädchen in ihre Bordelle verschleppten. Sie entweihten die orthodoxen Kirchen der Russen, zerschlugen die Ikone, fütterten ihre Hunde vor den Altären und zwangen Mönche und Nonnen, ihre Kirchenlieder in Zoten zu verwandeln. Und im Untergrund sammelte sich Widerstand.

Der schwelende Hass der Bewohner entlud sich in einem Massaker von elementarer Gewalt. Nur mit Äxten und anderen primitiven Waffen ausgerüstet, aber voll grenzenloser Wut, fielen die Moskowiter am 17. Mai 1606 unter dem Geläut von tausend Glocken über die Polen her. Zur selben Zeit drang Fürst Schujskij mit etlichen hundert Bojaren in den Kreml ein, wo die gesamte Bewachung niedergemacht wurde. Der durch die Gänge flüchtende Zar sprang in seiner Not aus einem Fenster und blieb bewusstlos am Boden liegen. Die Aufrührer quälten ihn auf barbarische Art zu Tode, verbrannten anschließend seine Leiche und feuerten die Asche aus einer Kanone in Richtung Polen.

Fürst Schujskij wurde der neue Zar. Doch schon vier Jahre später verlor er seinen Thron bei einer erneuten polnischen Invasion. Für ihren neuen Raubkrieg hatten die Polen einen zweiten Dimitrij in Reserve gehalten, der sich wiederum als rechtmäßiger Zarennachfolger ausgab. Obwohl er unter dem einfachen Volk gläubige Anhänger fand, ließen die Polen ihn fallen, nachdem sie sich in Moskau festgesetzt hatten und bescheiden erklärten, ganz Russland sei ein Teil des polnischen Reiches und der König von Polen der von Gott für die Russen bestimmte Zar!

Die von den Russen als "Zeit der Wirren" bezeichnete Periode bot zahlreichen russischen wie auch deutschen Dramatikern und Komponisten reichen Stoff, u.a. Puschkin, Mussorgski, Rimski-Korsakow, in Deutschland Schiller, Hebbel und Walter Flex. Doch die schlimmste Zeit, die sogenannte Polenzeit, stand den Russen noch bevor. Die Polen fühlten sich in ihrer Arroganz den Russen turmhoch überlegen. Von willigen Opportunisten unter den russischen Adligen unterstützt diese Sorte scheint unausrottbar zu sein wie die Fliegen überboten sie sich in ihrer Grausamkeit und Verachtung gegenüber dem russischen Volk.

Wieder waren es die einfachen Menschen, die dem polnischen Spuk ein Ende bereiteten, und es waren Frauen, die sich als erste, ohne Organisation, ohne Planung spontan mit Waschhölzern, Beilen und Messern auf die polnischen Peiniger stürzten. Ihre Tat wurde zum Fanal für den allgemeinen Aufstand, der die Polen völlig überraschend traf. Die im Kreml eingeschlossenen Polen wurden ausgehungert, wo sie nach Abschlachtung ihrer Pferde ihre eigenen Toten verzehrt hatten. Ein vom polnischen König entsandtes Entsatzheer wurde 1612 von den Russen bei Moschaisk geschlagen. Der polnische Traum, aus ihrer Großmannssucht geboren, war ausgeträumt!

Am 21. Februar 1613 setzten die russischen Würdenträger den erst 16jährigen Michael Romanow, dessen Vorfahren um 1280 aus Preußen eingewandert waren und dessen Vater die höchste geistliche Instanz in Russland war, auf den Zarenthron. Mit dem Tode von Iwans des Schrecklichen Sohn Fjodor war das Haus der Rurikiden 1598 ausgestorben. Der junge Zar, der erste aus dem Hause Romanow, empfing am 19. August 1634 eine holsteinische Gesandtschaft unter Führung von Adam Olearius (Ölschläger) im Kreml. Die Audienz wurde erleichtert durch den Leiter der Dolmetscherabteilung, dem vielsprachigen Deutschen Hans Helms, der es am Zarenhofe zu hohem Ansehen gebracht hatte. Der Reichtum und der Prunk des russischen Hofes waren für die Deutschen sehr beeindruckend. Allein der von dem Nürnberger Goldschmied Zinckgräff gebaute Zarenthron stellte mit seinen 800 Pfund Silber, den goldenen Adlern und vielen anderen kostbaren Verzierungen einen unermesslichen Wert dar.

Olearius war im Herbst 1633 mit einer 34 Köpfe zählenden Expedition, finanziert vom Herzog Friedrich III. von Holstein-Gottorf, von der Schlei nach Moskau aufgebrochen. Vor dieser für die späteren deutschrussischen Beziehungen bedeutungsvollen Reise hatte schon im Frühjahr 1517 ein Mann namens Sigismund von Herberstain das fast in Vergessenheit geratene, vom Westen weitgehend isolierte Russland neu entdeckt. Herberstain sollte im Auftrag von Kaiser Maximilian I. versuchen, den russischen Großfürsten als Bundesgenossen gegen den gemeinsamen Feind, die von Süden Wien bedrohenden Türken sowie die unberechenbaren Polen, zu gewinnen. Von seinen unter ungewöhnlichen Strapazen gewonnenen Eindrücken rührt die erste ausführliche Beschreibung Russlands, seiner Geographie, Geschichte, seiner viele Zungen sprechenden Völker, seines Rechtswesens und seiner Verkehrsverhältnisse.

Olearius, der Sohn eines Schneiders aus Aschersleben, war Philosoph und Mathematiker. Seine Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit befähigten ihn, ein reich illustriertes, 800 Seiten umfassendes Werk, eine russische Chronik von unschätzbarem Wert herzustellen. Der intelligente, humanistisch gebildete Herzog Friedrich, der schon damals Pläne für einen Nord-Ostsee-Kanal anfertigen ließ, hatte der Gesandtschaft den Auftrag gegeben, Russlands Verkehrswege und Klima, dazu Möglichkeiten für Handelsverträge zu erkunden. Zur Gesandtschaft gehörten u.a. der Rechtsgelehrte Philipp Kruse aus Eisleben, unter dem Namen Crusius bekannt, der Hamburger Kaufmann und Wirtschaftsexperte Brughmann, ferner der Hofarzt des Herzogs Dr. Sybelist, dessen Ruf schon bis Moskau gedrungen war.

Ihre erste Station war Riga, das seit 1621 zu Schweden gehörte, obwohl nach wie vor eine fast rein deutsche Stadt. Die Schweden waren von den Bürgern als förmliche Befreier begrüßt worden, nachdem die Polen während ihrer Besatzung nach anfänglichem Versprechen der Religionsfreiheit mit brutalsten Mitteln versucht hatten, den lutherischen Glauben und die deutsche Kultur auszurotten.

Ihre nächste Station war Dorpat, die alte Bischofsstadt, wo an der schwedischen Universität vorwiegend deutsche Professoren, Theologen, Philosophen und Mediziner lehrten. Sie fanden zu ihrem Staunen, dass hier, nahe dem Peipus-See, noch plattdeutsch gesprochen wurde wie daheim an der Kieler Förde. Auf dem Weg nach Nowgorod trafen sie mehrfach deutsche Landsknechte, darunter auch deutsche Offiziere, die unter den Russen bei der Abwehr der polnischen Invasoren gedient hatten.

Die Reise der Deutschen dauerte insgesamt sieben Jahre, während der sie alle russischen Städte und Landschaften kennenlernten. Sie bauten sogar nach den Plänen des Kapitäns Cordes einen eigens für die Wolga konstruierten flachen und breiten Dreimaster, den sie nach ihrem Landesherrn Friedrich tauften. Großes Aufsehen erregten sie, als sie, unbeeindruckt von den Geschichten über plündernde und mordende Kosaken, bis nach Astrachan, zum Kaspischen Meer und nach Persien gelangten.

Olearius erhielt wegen seiner Kenntnisse und bewiesenen Tüchtigkeit das Angebot, Hofastronom und Hofkartograph zu werden, ferner eine Sternwarte zu bauen, das Land zu vermessen und ein entsprechendes Kartenwerk anzulegen. Gern hätte er diese Aufgabe angenommen; doch angesichts der finsteren Borniertheit des Hofadels, dem alle Naturwissenschaft Teufelswerk war und für den nur die Theologie als einzig Wahres galt, musste er ablehnen. Die Gefahr war zu groß, eines Tages als Zauberer verbrannt, gepfählt oder vergiftet zu werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche helfen Russland bauen
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