II. Neanders Sammlung an und für sich, und im Verhältnis zu ihren Vorgängern.

Wenn zwischen Absicht und Leistung in der Regel eine gewisse Übereinstimmung obwaltet, muss die Sammlung Neanders schon aus diesem einen Gesichtspunkte weit über das Maß der Alltäglichkeit hinausragen. Mit tiefem Verständnis für das Gemütsleben seiner Nation hat er eingestandenermaßen — auch darin ein Kind seiner Zeit und ein echter Zögling und Geistesverwandter Luthers, den fast alle seine Schriften verherrlichen — nicht bloß aus Büchern, sondern auch auf dem offenen Markt des Lebens und aus dem Munde des gemeinen Mannes gelernt, und Weisheit geehrt und dankbar aufgenommen, in welcher Gestalt und wo sie ihm immer begegnete. Das gibt seiner Sammlung einen Charakter der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit, der nicht wenigen seiner Vorgänger und Nachfolger völlig abgeht; und dieser Eindruck verliert sich selbst da nicht, wo Neander erweislich aus fremden Quellen geschöpft hat; war doch auch seine Benutzung nicht zufällig und planlos, sondern mit bestimmter Absicht auf das Wesentliche und Wertvolle gerichtet. (de multis potiora deligens.)

Mit diesen allgemeinen Bemerkungen könnten wir von Neander Abschied nehmen, wenn es uns nicht drängte, für diejenigen unserer Leser, denen das Gebiet der Sprichwörter und ihrer Literatur minder zugänglich oder bekannt ist, oder deren Neigung sie bisher weniger auf diese der allgemeinsten Beachtung und Teilnahme so würdigen Sprüche geführt hat, einige Hauptpunkte besonders hervorzuheben.


Neander erwähnt in seiner Dedication namentlich auch die Scherze, die er der Ergötzlichkeit halber hie und da zu den Sprichwörtern hinzugefugt habe. Es sind darunter insbesondere die sogenannten apologischen Sprichwörter verstanden, „die in erzählender Form, eine kleine Geschichte durchscheinen lassen“ (Goedeke), wie um ein bis dahin ganz unbekanntes Beispiel aus Neander anzuführen: Es ist für Gott zu viel, sagt jener Bürgermeister in der Herberg, gab ein Mercker, vnd hatte für ein gulden Lachs gefressen.

Solcher Sprichwörter hat bekanntlich unser Volk, wie noch neuerdings Edm. Höfer mit seinem „Wie das Volk spricht“ zu allgemeiner freudigen Überraschung dargetan, und haben die germanischen Völker überhaupt eine große Fülle. Keine aber der deutschen Originalsammlungen des sechszehnten Jahrhunderts kann sich in diesem Punkte an Reichhaltigkeit mit Neander messen. Während seine Sammlung überhaupt wenig über 600 Sprichwörter zählt, ist jedes zwölfte derselben schon ein apologisches; Sammlungen hingegen, deren Umfang Neanders Zusammenstellung vielleicht um mehr als das Zehnfache übersteigt, S. Franck z. B. , können in diesem Genre kaum 10 Sprüche aufweisen. Die 50 oder 51 Sprichwörter Neanders sind ferner zu einem nicht unbeträchtlichen Teile bisher geradezu unbekannt; andere führt Edm. Höfer bereits auf, ohne dass er im Stande wäre, sie auf eine ältere Quelle zurückzuführen. Es ist mir eine wahre Herzensfreude, neben unbekannten neuen Sprüchen meiner Heimath dem wackern Herausgeber auch diese literarische Ausbeute für die fünfte Auflage von „Wie das Volk spricht“ zu Gebote zu stellen.*)

•) Zum Behuf des schnelleren Auffindens bemerke ich noch, das die betreffenden Sprichwörter sich so verteilen. Unter B. steht 1; unter D 4; E enthält 8 oder wenn man, wie billig, den Spruch „Er leugt wie Leupold ff.“ mitzählt, 9 Sprichwörter.

Ein weiterer Vorzug der Neanderschen Sammlung ist die besondere Rücksicht auf den Wohlklang and Wohllaut der Rede. Daher die vielen gereimten Sprüche, wie sie so gedrängt gleichfalls selten sind. Beispiele dafür sind kaum erforderlich. Um nur Einiges zu nennen, so wird das Glück des Hausstandes, vielleicht im Hinblick auf sein eigenes glückliches Familienleben, mit folgenden Versen gepriesen:

Ein froms Weib ist des Lebens heyl,
Man findt es aber selten feyl.
Es ist der beste Haussrath,
Der ein frommes Weib hat.
Eygen Rauch vnd Haussgemach
ist vber alle Sach.
Eygener Herd ist Geldes (1. Goldes) werth.
Eygen Nest helt wie ein Maur fest.
Hast du ein Hauss, so dencke nicht drauss.
Klein gemach, gross gemach.
Wer wil haben gemach, der bleib vnter seinem Dach.

Den Wert und beziehungsweise Unwert der öffentlichen Meinung kennzeichnen die Sprüche:

Es ist nicht gar dicht, was der Pöfel gicht.
Es ist nicht gar ahn, was sagt jederman.
Es ist nie nicht gar nicht, was jederman spricht.

Die beiden letzteren eine Bestätigung des gemeinen prosaischen, auch von Neander nicht übersehenen Wortes: Ein gemein Gerücht ist selten erlogen.

Von den wenigen Wetter- und Wirtschaftssprüchen dürfte der nachstehende auch aus sprachlichen Gründen Beachtung verdienen:

Wer nicht recht vnd gabelt,
Wenn die Bräme sticht und krabelt,
Der leufft im Winter mit eim Stroseil,
Fragt, Hat auch jemand Hew feil?

Eine besondere Hervorhebung aber verdienen vor allen die Sprüche, in denen die feste und freudige Zuversicht des Glaubens und die tiefe Innigkeit des religiösen Gefühls ihren beredten Ausdruck gefunden hat. Ich nenne in dieser Beziehung:

An Gott nicht zag, glück kompt alle tag.
Guter Gsell nicht verzag, glück kompt alle tag.
Gott lest vns wol sincken, aber nicht ertrincken.
Tugend leidet offt Noth, aber nimmer den Todt.
Alle Macht vnd Reichtumb auf? Erden ist Staub,
Reich, mechtig, schön vnd gelert ist der an
Christum glaubt.
Wer Jesum Christum hat wol erkannt,
Der hat alle sein Leben wol angewandt.
Dess Christen Hertz auff Rosen geht,
Wenns mitten vnterm Creutz steht.
Wir bawen alle feste,
Vnd sind doch frembde Geste,
Vnd da wir sollen Ewig sein,
Da bawen wir gar wenig ein.

Namentlich der letzte Spruch hat das Gemüth Neanders schon in früher Jugend tief ergriffen. „Ich gedenke oft“, erzählt er selbst in dem Menschen-Spiegel, den er für seine Eltern und Geschwister zur Erbauung geschrieben, „ich gedenke oft an unsern lieben Vetter Andres, das fromme, christliche, rechtschaffene Herz, da er sein Haus baute und diesen Reim daran schreiben liess:

Wir bawen alle veste fl.

Solche Worte gingen mir, obwohl ich Knabe war, tief zu Herzen, also, dass ich nach der Welt nicht mehr fragte und gleichgültig auf schöne Kleider blicken konnte.“ „Und es ist wahrlich zum Erbarmen,“ fügt er schließlich mit der Reife und Ruhe des Alters hinzu, „dass wir am Zeitlichen so fest hangen, als ob uns viele tausend Lebensjahre zugemessen wären, da es doch kaum einen kurzen Augenblick mit uns währet.“*)

*) Havemann, Mittheilungen S. 6.

Auch den unmittelbar vorgehenden Spruch „des Christen Herz auf Rosen geht, Wenns mitten unterm Kreuze steht“, dürfen wir füglich zu den frühesten Erinnerungen Neanders zählen; war es doch der Wahlspruch Luthers, des Gott oder gottgesandten Mannes (Theander), wie er ihn mit Vorliebe zu nennen pflegt. Vielleicht sind auch noch andere Sprichwörter auf den persönlichen Einfluss dieses seines Lehrers oder seine Schriften zurückzuführen, ohne dass wir es bisher zu verfolgen vermöchten.

Andere von den Quellen Neanders liegen ziemlich offen vor. Wer mit den Sprichwörtern Joh. Agricola's, Eberh. Tappius und Seb. Francks einigermaßen vertraut ist, wird sich nicht selten daran erinnert fühlen, ohne dass es gerade immer leicht wäre, einen sichern Beweis für die Entlehnung beizubringen. Zuweilen freilich dürfte selbst das keine: Schwierigkeit haben. Die vier Speichwörter z. B.

Ein jeder hüte sich für dem ersten ausslegen.
Es müssen starcke Beine sein, die gute tage ertragen können.
Es ist besser ein Sperling in der Hand, denn ein Kranich auff dem Landt.
Eyle brach den Halss.

sind sicher aus Agricola entlehnt; sie bilden bei ihm No. 74, 80, 84 und 92 ; und stehen eben so unmittelbar hintereinander im Register unter E.

Anziehender für mich und hoffentlich auch für meine Leser ist der Nachweis, dass Neander für seine deutschen Sprichwörter wesentlich mit aus Melanchthon geschöpft hat. Dass diese Behauptung überraschen muss, entgeht mir so wenig, wie irgend einem andern; gleichwohl hoffe ich ihre Wahrheit vollständig oder wenigstens annähernd erweisen zu können.

Ich bin zunächst weit entfernt, bestreiten zu wollen, was der Augenschein dartut, dass Melanchthon alle seine Schriften in lateinischer Sprache abgefasst hat. Was in deutscher Sprache unter seinem Namen geht, ist nach der bestimmten Versicherung W. Wackernagels stets nur Übersetzung Anderer .*) Aber selbst seine lateinische Schriftstellerei ist der Beziehungen auf deutsche Sprache und zumal auf das deutsche Sprichwort nicht baar. Dies ausführlich nachzuweisen ist mir einerseits zur Zeit nicht wohl möglich; andererseits wäre es auch an diesem, Orte ein wahres Geschenk und opus supererogationis nie für den Leser. Ich beschränke mich zunächst auf das, was Neander im zweiten Teil seiner Ethik bietet.

*) Geschichte der deutschen Literatur S. 387.

Unter den wenigen Versen, die er hier aus. Phil. Melanchthons Epigrammen ausgewählt hat, sind bereits zwei deutsche Sprichwörter enthalten; nämlich diese:

Sunt homines, humeris quos si quis gestet ad urbem
Ausoniam, domiti quae caput orbis erat:
Ni tarnen ad portam placide deponat eosdem,
Gratia praeteriti nulla laboris erit.

d. h. im deutschen Original.

Wer dich erschlich gen Rom trüg vnd herwidder,
vnd setzte dich ongefehr einmal vnsanfft nydder,
so were es alles verloren (Agricola Nr. 374).

Bei Neander: Wenn der Abt würffel gibt, so spielen
die Brüder.

Melanchthon aber hat keineswegs so gering von den deutschen Sprichwörtern gedacht, dass er überall erst ihren Werth durch den Glanz klassischer Übertragung hätte hervorheben müssen. In seinen Vorlesungen zumal scheint er mit Behagen dem volkstümlichen Zuge der Zeit nachgegeben und deutsch Sprichwörter im ursprünglichen heimischen Tone nicht selten herangezogen zu haben. Ich schließe das teilweise schon aus einer Notiz bei Lessing (XI. 1. 556 ed. Maltzahn), wo aus dem Commentar eines seiner Schüler, Nicol. Selneccer, zu den Psalmen der Spruch „Können wir nicht Alle dichten: So wollen wir doch Alle richten“ als ein Lieblingswort*) Melanchthons angeführt wird. In noch höherem Grade aber ergibt sich dies aus der Erklärung des Theognis, die Joh. Major nach den Vorlesungen Melanchthons 1560 und 1561 herausgegeben hat. Franz Sandvoss hat eine geeignete Gelegenheit benutzt, in der Berliner Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1863 S. 946 — 48 sämmtliche deutsche Sprichwörter mitzuteilen, die in diesem Drucke vorhanden sind.

*) Nur in dieser Einschränkung ist Leasings Wort a. a. O. zulässig „Ist ein guter deutscher Reim von Phil. Melanchthon.“ Noch vorschneller urteilte Eiselein Sprichw. S. XXIX., wenn er die Anwendung dieses Spruches von Agricola in der revidirten Ausgabe seiner Sprichwörter von 1584 für eine Übertragung ... ansah. Der Spruch war im 16. Jahrhundert gang und gäbe, s. die Nachweisungen bei Wander u. d. W. dichten, und vergl. etwa noch Luther in der Dedication seines 1520 erschienenen Büchleins „Von den guten Werken.“


Auf diesen dankenswerten Auszug stütze ich vorzugsweise meine Behauptung, Neander habe, sei es aus eigener Erinnerung und Aufzeichnung während seiner Studienjahre, sei es durch die Vermittelung der gedruckten Vorlesungen von Major u. a. eine Anzahl nicht uninteressanter Sprichwörter aus Melanchthons Munde entlehnt.

Ich führe zunächst an:

Major Bl. 10. Man darff nicht Leuse in den Pelz setzen,
sie wachsen sonst wol drinnen.
Bl. 23. Je lenger je lieber ich bin allein,
Denn trew vnd Wahrheit ist worden klein.
Bl. 96. Friss dreck, vnd scheis Golt,
So werden dir die Meidlin holt.
Bl. 103. Vertraw, vnd vertraw nicht zu viel.
Bl. 110. Wer da wil mehr verzeren,
Denn sein Pflug kan erehren,
Der mus zu letzt verderben,
Vnd vieleicht am Galgen sterben. ; —

alles Sprüche, die mit geringer Modification ebenso bei Neander wiederkehren. Namentlich von den beiden letzten scheint es mir evident, dass Neander sie zur Zeit seines Aufenthaltes in Wittenberg kennengelernt hat. Den ersten bezeichnet er selbst als Wahlspruch des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen; zu dem andern aber fügt Major ausdrücklich hinzu, Melanchthons Mutter habe diese Worte oft im Munde geführt. (Dictum matris Philippi).

Dürften diese Stellen zum Beweise ausreichen, so ist bei anderen wiederum die Abweichung und Ähnlichkeit zwischen Neander und Major nicht ohne Interesse. Die Sprüche:

wieder Agricola Spr. 543. Er wirt feysst daruon. Es bekompt einem offt bass, das man yhm nicht vergand, denn das man yhm seht wol gand, villeicht aus der vrsache, dass Gott gesegnet, was die leute verfluchen. Der Leser mag des weiteren ebendaselbst, wenn es ihm gefällt (S. 176 meines Buches), zu seiner Ergötzlichkeit nachlesen, woher es kommt, dass „in den klostern die patres und obersten alle wege feyste beuche haben.“

So weit über Neanders deutsche Sprichwörter. Vielleicht, dass auch die Veröffentlichung seiner leorinischen Verse einem Bedürfnis unserer Zeit entgegenkäme. Ohne alle Ahnung, wie trefflich ihm Neander vorgearbeitet, erklärte noch Eiselein 1838, dass eine solche Zusammenstellung mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, würde. Wir unseren Teils überlasen eine solche Aufgabe billig Berufeneren. Die deutschen Sprichwörter Neanders aber entsenden wir nunmehr getrost in die Öffentlichkeit und fügen nur noch den einen Wunsch hinzu, dass sie im Ganzen wie im Einzelnen alle die Wirkung ausüben mögen, zu der sie die ihnen innewohnende Trefflichkeit befähigt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Sprichwörter.