Lambert Sternberg lernt Katharina kennen

In die verregneten, missmutigen Gruppen auf dem Quai kam neues Leben. Man stellte sich auf die Fußspitzen, und blickte eifrig nach der Ecke des Broadway, wo der Zug eben sichtbar wurde; Viele liefen ihm auch entgegen, Andere wieder drängten nach der Stelle, wo das Schiff anlegen sollte, und von welcher es jetzt nur noch so weit entfernt war, dass man bereits die Seile hinüberwarf. Lambert, der noch immer am äußersten Rande stand, sah sich von einer dichten Menge umgeben und auf seinem Platze festgehalten, welchen er nun gern einem Andern geräumt hatte, dessen Auge und Herz besser gegen den Anblick äußersten menschlichen Elends gewaffnet war.

Und das Verdeck des Schiffes, welches er jetzt unmittelbar vor sich und unter sich erblickte, war die Stätte solches Elends. Schon von Weitem hatte das wüste Durcheinander von Warenballen, Fässern, Koffern, Kisten, Körben, die zu Bergen aufgetürmt waren, und zwischen denen die Gestalten von Frauen und Kindern herumirrten, ihn mit traurigen Empfindungen erfüllt. Aber sein Herz zog sich zusammen und der Atem stockte ihm in der Brust, als deutlicher und deutlicher, und jetzt aus nächster Nähe Schreien und Keifen, Weinen und Wimmern der Unglückseligen an sein Ohr schlug; als sein Blick von einer Jammergestalt zur anderen schweifte, und überall, überall aus todesbleiche, von Hunger und Krankheit entstellte Gesichter traf, aus deren tiefgesunkenen Augen dumpfe Verzweiflung oder wahnsinnige Angst ihn fürchterlich anstierten. Wie sie da in Gruppen standen, regungslos, als hätten sie jede Kraft, jeden Trieb zu selbsttätigem Handeln eingebüßt, die Köpfe vorgestreckt, furchtsamen Schafen gleich, die der Metzgerhund bis an die Tür des Schlachthauses gebellt hat! wie sie dort sich hasteten und eilten und zwischen den Kisten und Kasten kramten und gierig ihre ärmliche Habe zusammenrafften! und auf einer anderen Stelle wieder in wüstem Zank und Streit sich die Bündel wegrissen und einander mit den Knochenhänden bedräuten, bis der Super-Cargo dazwischenfuhr und sie mit Scheltworten und Stößen und Schlägen auseinander trieb! Lambert konnte das Entsetzliche nicht länger ertragen; er drängte zurück, die ihn jetzt wie eine Mauer umgebende Menge zu durchbrechen, als ein letzter Blick, den er, widerwillig nur, über das Verdeck schweifen ließ, auf eine Gestalt traf, die ihm bisher entgangen war, und er, wie vom Blitz getroffen, stehen blieb.


Unmittelbar vor ihm lehnte an einem hochgetürmten Haufen Warenballen ein junges, großes, schlankes Mädchen. Sie hatte den rechten Arm gegen den Ballen und den Kopf auf die Hand gestützt, der andere Arm hing schlaff herab. Ihr Gesicht, das er nur von der einen Seite sehen konnte, war so mager und so bleich, dass die lange, schwarze Wimper des gesenkten Auges sich seltsam scharf darauf abzeichnete. Das glänzend dunkle Haar war in zierlichen Flechten vielmals um den Kopf gewunden, und der Anzug, obgleich ärmlich und fadenscheinig genug. war geschmackvoller und weniger bäuerisch, als die Kleidung der übrigen Frauen, von denen sie sich durch den Ausdruck ihres Gesichte ganz und gar unterschied. Lambert konnte keinen Blick von diesem Gesichte wenden, als ob ein mächtiger Zauber ihn gefangen hielte. Er hatte etwas so Schönes nie gesehen, nie geglaubt, dass etwas so Schönes je könne gefunden werden. Atemlos fast, ohne zu wissen. was er tat, ja vergessend, wo er war, starrte er die Fremde an wie eine überirdische Erscheinung, bis sie mit traurigem Kopfschütteln den aufgestützten Arm ebenfalls sinken ließ, und, sich langsam um die Warenballen, an welchen sie gelehnt hatte, herumbewegend, seinen Blicken entschwand.

In demselben Augenblicke ertönte lautes Geschrei und Getrommel hinter ihm auf dem Platze, und Gejohle und Gepfeife. Die Menge drängte und stieß vorwärts, und wurde wieder zurückgedrängt und gestoßen, denn die Constabler, welche den Zug der Auewanderer begleiteten, hatten schon aus dem ganzen Wege durch die Stadt ihre Not mit dem Pöbel gehabt, und mussten jetzt, wo sie, bei dem Übergang auf das Schiff, die auf dem Quai dicht zusammenstehende Menge passieren mussten, ihre ganze Autorität aufbieten und ihre Stäbe rücksichtsloser schwingen. So kam es, dass Lambert über die lebendige Mauer vor ihm nur hier und da ein bleiches, verhärmtes Gesicht der armen Auswanderer erblickte, bis sie das schmale Laufbrett passiert hatten, und das Verdeck des Schiffes betraten. Hier nun begannen die Zurückgekommenen alsbald nach ihren Frauen und Kindern zu suchen und zu rufen, die ihrerseits die mühsam eroberte Habe nicht wieder fahren lassen, und doch auch so schnell als möglich zu den Männern gelangen wollten. Ein gräulicher Wirrwarr entstand, der durch die Schiffsleute, welche rücksichtslos in die Menge hineinfuhren, und mit Schlägen und Stößen sich Platz schafften, noch vermehrt wurde, und seinen höchsten Grad erreichte, als jetzt die auf dem Quai, den dicken Mr. Pitcher voran, in dichten Haufen sich hinterher drängten, und jenen, welche mit ihren Bündeln und Packen vom Schiffe wollten, den Weg versperrten. Die Männer schrieen, die Weiber heulten, die Kinder wimmerten dazwischen, der Kapitän und die Matrosen wetterten und fluchten, die Constabler schwangen ihre Stäbe — es war ein entsetzliches Chaos, in welchem Lamberts angstvolle Blicke nur immer nach dem armen Mädchen spähten, das so einsam und verlassen und so still und geduldig in den Lärm, der sie umbrauste, geschaut. und jetzt, da er ihre Gestalt — diesmal an dem äußersten vorderen Ende des Verdeckes — wieder auftauchen sah, hielt es ihn nicht länger. Ohne sich weiter zu besinnen, schwang er sich von dem Rand des Quais mit einem mächtigen Sprunge an Bord des Schiffes, und arbeitete sich mühsam nach der Stelle hin, wo er sie zuletzt erblickt hatte. Er wusste nicht, wozu er das Alles tat; er hatte keine Ahnung davon, was er dem Mädchen sagen wollte, wenn er bis zu ihr gelangte; — es war, als ob er von unsichtbaren Händen gezogen würde, denen zu widerstehen ganz unmöglich gewesen wäre, und deren Führung er sich daher willig überließ.

Endlich, nachdem er sie wiederholt aus den Augen verloren, und zuletzt schon gefürchtet hatte, er werde sie nicht wiederfinden, kam er plötzlich in ihre unmittelbare Nähe, Sie kniete auf dem Verdeck vor ein paar Kindern, — einem Knaben und einem Mädchen von sechs bis acht Jahren, — denen sie die schlechten, fadenscheinigen Kleiber ordnete, und sprach zu einer Frau, die mit einem ganz kleinen Kinde auf dem Arm daneben stand und fortwährend keifte, bis der Mann herantrat und die größeren Kinder unter Schelten und Fluchen mit sich fortriss. Die Frau folgte ihm, ohne nur einen Blick oder ein Wort des Dankes für die Zurückbleibende zu haben. Die richtete sich langsam in die Höhe, und blickte traurig den Davoneilenden nach, dann lief sie hinter ihnen her, band dem kleinsten Kinde ein Tüchelchen, das sie eben selbst noch getragen, um den Hals und schritt langsam nach der Stelle zurück, wo sie von der Familie Abschied genommen. Ihre Miene war noch trauriger, als zuvor; Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen.

„Kann ich Dir irgend helfen, Jungfer?“ fragte Lambert.

Das Mädchen hob die dunklen Wimpern, und blickte mit großen, braunen Augen dem jungen Mann prüfend in das gute, ehrliche Gesicht.

„Mir kann Niemand helfen,“ sagte sie.

„Hast Du keine Eltern, keine Verwandten, keine Freunde?“ fragte Lambert; er wusste nicht, wie er den Mut zu der Frage fand.

„Ich habe Niemand, Niemand,“ erwiderte das Mädchen, und wandte sich ein Wenig ab, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihr jetzt in Strömen aus den Augen stürzten.

Auch Lamberts Augen wurden feucht; der Kummer der Ärmsten presste ihm das Herz ab.

„So darfst Du auch wohl das Schiff nicht verlassen?“ fragte er weiter, und als die Unglückliche, ohne zu antworten, noch heftiger Weinte: „Halte mich nicht für zudringlich, gutes Mädchen; aber ich sah Dich schon vorhin so verlassen dastehen, das dauerte mich; und nun sagst Du selbst, dass Du hier allein bist, wo es gewiss nicht gut ist, allein zu sein, und dass Du Niemand hast, Dir zu helfen, und dass Dir Niemand helfen könne. Vielleicht kann ich es doch, wenn Du Vertrauen zu mir fassen wolltest; ich würde gewiss tun, was ich vermöchte.“

Das Mädchen hatte, während der junge Mann also sprach, leiser und leiser geweint. Jetzt wandte sie ihm das bleiche Gesicht wieder zu und sagte:

„Ich danke Dir, guter Mann; danke Dir von ganzem Herzen, und der liebe Gott wird Dich für das Mitleid segnen, welches Du mit einem armen, hilflosen Geschöpfe gehabt hast. Aber helfen, ach, das kannst Du wohl nicht. Wer könnte mir helfen! mir von diesem Schiffe helfen!“

Ihr Gesicht nahm einen seltsamen Albbruck an; sie blickte mit starren Augen über die Brüstung in das Wasser, das an dem Schiffsbuge auf und nieder schwankte. „Für mich gibt es nur einen Ausweg,“ murmelte sie.

In diesem Momente drängte sich ein Mann fluchend durch die Menge, die ihm nach allen Seiten Platz machte. Es war ein untersetzter, breitschulteriger Gesell mit einer fuchsigen Perücke und einem brutalen Gesicht, aus dem ein Paar kleiner, grüner Augen giftig glitzerten. Er trug eine Art von Schiffsuniform, und zog hinter sich her einen stämmigen Pachter, der halb widerwillig zu folgen schien, und mit dumm glotzenden Augen das Mädchen anstierte, Während der in der Uniform an sie herantrat, und, die Beine spreizend, in schlechtem Deutsch rief: „So, Jungfer Katharine Weise! da hätte ich ja gleich Einen aufgegabelt. Er ist der reichste Farmer auf zehn Meilen in der Runde, wie er selber sagt, und braucht ein tüchtiges Mädchen auf seiner Farm. Vierzig hat er mir schon geboten auf meine bloße Empfehlung hin. Das ist freilich kaum die Hälfte; aber vielleicht gibt er nun doch die ganze Summe, nachdem er Euch selbst gesehen und sich überzeugt hat, dass ich nicht gelogen. Was meint Ihr, Mr. Triller? ist es nicht ein Blitzmädel! werdet Ihr nun blechen wollen. Mann? he?“

Und er schlug dem Pachter auf die Schulter und brach in ein höhnisches Gelächter aus.

„Lasst es fünfundvierzig sein, Kapitän,“ sagte der Pachter, „und ich nehme sie. Wie sie geht und steht.“

„Keinen Schilling unter neunzig,“ schrie der Kapitän; „keinen Schilling und wenn ich sie selber behalten müsste. Na, sie bleibt gern bei mir; nicht wahr, Jungfrau Katharine? Blitzmädel?“

„Rührt sie nicht an, wenn Ihr nicht den Schädel eingeschlagen haben wollt,“ schrie Lambert.
Der Kapitän wich einen Schritt zurück und stierte wütend auf den jungen Farmer, den er gar nicht beachtet hatte, und der jetzt plötzlich mit funkelnden Augen und geballten Fäusten vor ihm stand.

„Oho,“ schrie er, „wer seid denn Ihr? Wisst Ihr, dass ich der Kapitän van Broom bin? Wisst Ihr, dass ich Euch sofort ins Wasser werfen lasse, Ihr — wie heißt Ihr denn? was wollt Ihr denn?“

Er war noch einen Schritt zurückgewichen und hatte die letzten Worte in einem viel weniger sicheren Tone gesagt. Es schien ihm offenbar nicht geraten, so ohne Weiteres mit einem Manne anzubinden, aus dessen Mienen die größte Entschlossenheit sprach, und der ihm augenscheinlich an Körperkraft weit überlegen war.

„Mein Name ist Lambert Sternberg, vom Canada-Creek,“ sagte der junge Mann; „es leben hier in der Stadt New-York angesehene Bürger, die mich wohl kennen, und was ich will, das werde ich Euch sofort sagen, wenn Ihr die Güte haben wolltet, mit mir ein wenig auf die Seite zu treten.“

„Wie Ihr wünscht, wie ihr befehlt,“ brummte der Kapitän; „kommt!“

„Einen Augenblick,“ sagte Lambert, und er trat an das Mädchen heran, das blass und am ganzen Leibe zitternd dastand, und sagte leise, so dass nur sie es hören konnte: „ Katharine Weise, willst Du mich zu Deinem Beschützer annehmen und mir verstatten, für Dich zu tun, was in solchem Falle ein ehrlicher Mann für ein hilfloses Mädchen tun muss?“

Eine tiefe Röte stieg in Katharinens bleichem Gesichte auf; ihre dunklen Augen richteten sich auf den Frager mit einem so seltsamen Ausdruck, dass es ihn bis ins tiefste Herz schauderte; sie wollte etwas erwidern, aber es kam kein Laut über die bebenden Lippen.

„Erwarte mich hier,“ sagte der junge Mann.

Er wandte sich zu dem Kapitän und ging mit demselben das Verdeck hinauf; der vierschrötige Pachter hatte sich auf die Seite gedrückt; er hatte kein Interesse mehr an dem Handel, nachdem er gesehen, dass sich ein anderer Käufer für eine Ware gefunden, die ihm unter allen Umständen zu teuer war.

„Nun Mr. van Broom,“ sagte Lambert, der jetzt den Kapitän eingeholt hatte; „ich stehe zu Diensten.“

„Ich will verdammt sein. Wenn ich weiß, was Ihr wollt!“ sagte der Kapitän.

„Einfach dies: jenes Mädchen dort, das Ihr Katharine Weise nennt, mit mir vom Schiffe nehmen, und das sogleich.“

„Oho,“ sagte der Kapitän: „Ihr habt's eilig! Hat sie Euch gesagt. Wie viel sie uns schuldig ist?“

„Nein,“ sagte Lambert; „aber ich habe, däucht mir, die Summe von Euch vorhin gehört.“

„Neunzig Pfund! Herr! neunzig Pfund! Das ist keine Kleinigkeit!“ schrie der Kapitän.

„Ihr werdet hoffentlich beweisen können, dass Euch dos Mädchen so viel schuldet, und dann werdet Ihr mich bereit finden.“

Der Kapitän blickte den jungen Mann mit seinen Schielaugen grimmig von der Seite an — einer Hyäne gleich, der ein Leopard die Beute abjagt. Er hätte sie gern für sich gehabt, die schöne Beute, aber er war ein viel zu guter Geschäftsmann, um eine solche Chance nicht mitzunehmen. und die Herren van Sluiten und Compagnie in Rotterdam, und Mr. Pitcher, der jetzt vermutlich schon im Schiffscomptoir mit dem Buchführer rechnete, hatten doch auch ein Wort mitzureden! So sagte er denn, indem er plötzlich aus dem groben Ton in einen widerlich höflichen verfiel;

„Ob ich es beweisen kann? Ei, mein Herr, wofür haltet Ihr den Kapitän van Broom? Bei uns geht Alles genau zu; doppelt gebucht, Herr, bei Heller und Pfennig. Wundert Euch, dass die Summe so groß ist? will es Euch erklären! Das Mädchen ist die Tochter eines Herrn Weise, der vor acht Tagen gestorben und mit allen Ehren über Bord gekommen ist. Der Herr Weise aber war Prediger in dem Ort, von dem die meisten meiner Passagiere her sind; er hat sich's unterwegs! — ich muss es ihm nachsagen — sauer genug werden lassen mit dem schmutzigen Volk, und über seine Kräfte für sie getan, als sie in Southampton hungerten und froren, und jetzt unterwegs, wo — unter uns — der Proviant zuletzt ein wenig knapp wurde und das Wasser. — Nun, man hat denn doch ein Herz in der Brust, und ich habe dem Herrn Prediger gewillfahrt, wenn er für seine Pfarrkinder zu borgen kam; und so ist es denn geschehen, dass seine Rechnung ein wenig höher gelaufen, als sonst wohl die Regel. und wenn an dem alten Herrn auch im besten Fall nicht viel zu verdienen war — so blieb doch noch immer das Mädel, für die sich schon ein Käufer finden würde, und so habe ich's riskiert, und ihnen nach und nach hundert Pfund kreditiert.“

„Ihr sagtet vorhin neunzig.“

„Hundert Pfund, bei Gott!“ schrie der Kapitän, „kommt mit in das Comptoir, da will ich's Euch zeigen schwarz auf weiß. Ihr da, Super-Cargo, passt mir darauf, dass die diebischen Schufte nichts vom Bord schleppen; und Ihr, Mr. James, geht mir nicht vorn Laufbrett weg und behaltet Jean und Jakob bei Euch, und schlaget Jeden zu Boden, der ohne Passierschein vom Schiff will. Wenn jemand nach mir fragt, muss er einen Augenblick warten: ich habe mit diesem Herrn zu sprechen. Wollt Ihr mir folgen, Mr. Sternberg?“

Der Kapitän öffnete die Tür zu einer niedrigen, aber geräumigen Kajüte, welche auf dem Deck selbst angebracht war. Ein schwärzlicher Kerl mit ungeheuren messingenen Ringen in den Ohren saß eifrig schreibend an einem mit dicken Büchern und Papieren aller Art bedeckten Tisch. Neben ihm stand, den großen dreieckigen Hut auf der Perücke, und die roten Hängebacken aufblasend, Mr. Pitcher, und schaute dem Schreibenden über die Schulter.

„Ah,“ sagte der Kapitän, „da seid Ihr ja auch, Mr. Pitcher! das trifft sich charmant. Da können wir die Sache gleich vollständig ins Reine bringen. Dies ist Mr. Charles Pitcher, unser Generalagent für New York; dies —“

„Habe, glaube ich, bereites die Ehre,“ sagte Mr. Pitcher, seinen Hut lüftend; „seid Ihr nicht Mr. Sternberg vom Canada-Creek, den ich vor zwei Jahren in Albany traf? Habt doch das Geschäft mit Mr. Brown gemacht? Sah Euch vorhin mit ihm auf dem Broadway; nun, andere Leute wollen auch leben. Nicht für ungut, Mr. Sternberg; nicht für ungut! Setzt Euch! was führt Euch diesmal zu uns, Mr. Sternberg?“

„Es ist wegen der Katharine Weise,“ sagte der Kapitän, in dessen Augen der einfache Landmann, mit dem selbst der reiche Mr. Pitcher Geschäfte zu machen wünschte, ein ganz anderes Ansehen gewann. „Ich habe Euch gestern von ihr berichtet, Mr. Pitcher.“

Zwischen Mr. Pitcher und dem Kapitän fand nun ein kurzes aber eifriges Zwiegespräch statt, von welchem Lambert, da es auf holländisch geführt wurde, nichts verstand. Man musste indessen wohl darüber einig geworden sein, das Mädchen freizugeben, denn der hässliche Kerl am Pult hatte bereits ein dickes Buch aufgeschlagen und sagte: „Katharine Weise, Folio 470 bis 475, beginnt am 6. September vorigen wahres zu Rotterdam, läuft bis heute den 15. April 1758, Hafen von New-York, Summa 89 Pfund 10 Schilling. — “

„Neun und neunzig Pfund!“ verbesserte Kapitän van Broom.

„Neun und neunzig Pfund,“ wiederholte der mit den Ohrringen; „es müsste denn sein, dass der Herr auch noch gleich den Miets-Kontrakt von uns ausfertigen lassen will, zu dem hernach nur die gerichtlich bestätigten Unterschriften nötig sind. Wir berechnen dafür ein Pfund. Hier ist das Schema. Der Herr wolle nur die Güte haben, mir seine Angaben in die Feder zu diktieren.“

Und der schwärzliche Kerl ergriff einen Pergamentbogen und las mit bleiern geschäftsmäßiger Stimme:

„In nomine Dei. Zwischen Herrn Lambert Sternberg vom Canada-Creek und Johanna Katharina Weise aus Zellerfeld, Kurfürstentum Hannover, 20 Jahr alt, ledigen Standes, ist nachfolgender Dienstkontrakt auf, — sagen wir sechs Jahre, Mr. Sternberg? — sechs ist die gewöhnliche Zahl — sechs auf einander folgende Jahre verabredet und unter heutigem Dato, unter folgenden Bedingungen, von beiden Seiten abgeschlossen worden.“

„Pro primo: Johanna Katharina Weise, gebürtig etc., vermietet sich als Magd auf dem Lande, freiwillig und wohlbedächtlich bei Herrn Lambert Sternberg, und verpflichtet sich, mit demselben oder auf dessen Anweisung nach dem West-Canada-Creek, in der Provinz New York, zu reisen, und dort von dem Tage an, wenn sie in besagtem Distrikt angelangt sein wird, auf sechs nacheinanderfolgende Jahre, alle ihr anzuweisende Magddienste treu und rechtschaffen zu leisten, und auch binnen dieser sechs Jahre unter keinem Vorwande den Dienst loszukündigen, noch weniger ohne Bewilligung des Herrn Lambert Sternberg aus dem Dienst zu treten. Dagegen pro secundo: verspricht Herr Lambert Sternberg --“

„Es ist genug,“ sagte Lambert.

„Wie?“ sagte der mit den Ohrringen.

„Es ist genug;“ wiederholte Lambert; „ich möchte denn doch die Bedingungen erst mit dem Mädchen verabreden.“

„Mein lieber Herr, wozu die Umstände!“ rief Mr. Pitcher in wohlwollendem Beschützerton; „Wenn man neun und neunzig Pfund bezahlt, kann man die Bedingungen diktieren.“

„Mag sein,“ erwiderte Lambert; „ich glaube aber das Recht zu haben, nach meiner Weise zu handeln.“

„Wie Ihr wollt, ganz, wie Ihr wollt,“ sagte Mr. Pitcher; „wir drängen uns Niemand auf. Ihr wünscht also -“

„Einfach über die Rechnung der Katharine Weise zu quittieren.“

„Wie Ihr wollt?“ sagte Mr. Pitcher.

Während der mit den Ohrringen die Quittung ausschrieb und Lambert das Geld — es war dasselbe, welches er vor einer Stunde von Mr. Brown empfangen — auf den Tisch zählte, zogen hinter seinem Rücken Mr. Pitcher und der Kapitän höhnische Fratzen über den Gimpel, der so leicht auf die Leimrute ging, und sich nicht einmal die famose Rechnung ansah, über die er quittierte.

„So,“ sagte Mr. Pitcher, „das wäre abgemacht; und nun wollen Wir —“

„Auf glückliche Reise des Herrn trinken,“ sagte der Kapitän, nach einer Rumflasche langend, welche auf einem Regal in der Nähe stand.

„Und auf et cetera, et cetera,“ rief Mr. Pitcher.

„Guten Morgen, Ihr Herren,“ sagte Lambert, die Quittung, den halb ausgefertigten Kontrakt und Katharinens Passierschein zusammenraffend, und aus der Kajüte stürmend, als ob der Boden unter ihm brenne. Ein brutales Gelächter schallte hinter ihm her. Er stand einen Moment still. Seine Wangen glühten, sein Herz pochte ungestüm gegen die Rippen; es zuckte ihm in aßen Fibern, umzukehren und den wüsten Schurken ihr Lachen einzutränken; aber er dachte an das arme Mädchen, und dass sie Schlimmeres erduldet und dass er nichts Besseres für sie tun könne, als sie sobald als möglich aus dieser Hölle erlösen.

Das Verdeck hatte sich jetzt etwas gelichtet; die Glücklichen, welche das dicke Buch in den Händen des Mannes mit den Ohrringen nicht zu fürchten brauchten, hatten das Schiff bereits verlassen; die, welche notgedrungen bleiben mussten, saßen und standen in Gruppen umher, stumpfe Gleichgültigkeit oder Verzweiflung in den blassen Mienen; und zwischendurch bewegten sich neugierige Gaffer und die Andern, welche gekommen und auch sehr gewillt Waren, Kontrakte der Art abzuschließen, von welcher Lambert ein zerknittertes Exemplar in der Rocktasche trug. Der dicke Farmer, welcher vorhin auf Katharine geboten, sprach jetzt mit einem andern Mädchen, das ihre Lumpen mit ein Paar roten Bändern aufgeputzt hatte, und über das gebrochene Deutsch und die Scherze des Mannes herzlich lachte. Sie schienen bereits Handels einig zu sein.

Lambert eilte so schnell er konnte nach dem vorderen Verdeck, wo er bereits Katharinens Gestalt noch auf derselben Stelle erblickt hatte. Aber da er in ihre Nähe gekommen war, stockte sein Schritt; es wollte ihn bedünken, als ob noch nichts geschehen, als ob noch Alles zu tun sei. und jetzt wandte sie sich um, und erblickte ihn. Ein melancholisches Lächeln flog über ihre Züge.

„Nicht wahr, es kann mir Niemand helfen,“ sagte sie.

„Hier ist Deine Quittung und hier Dein Passierschein,“ sagte Lambert.

Seine starken, braunen Hände zitterten. Während er ihr die beiden Papiere gab, und ihre magern, weißen Hände zitterten, indem sie dieselben zögernd nahm. Ein brennendes Rot flog über ihr Gesicht.

„Das hattest Du für mich getan?“ sagte sie.

Lambert erwiderte nichts; er war auch nicht im Stande, das Mädchen anzusehen, und war tief erschrocken, als sie sich plötzlich beugte, seine Hände ergriff und gegen ihr Weinendes Gesicht und an ihre Lippen drückte.

„Gutes Mädchen, gutes Mädchen,“ stammelte Lambert, „was tust Du? Weine nicht, ich habe es gern getan; ich bin glücklich, dass ich Dir diesen Dienst habe leisten können; ich würde gern dasselbe für alle die andern Unglücklichen hier tun, wenn ich es könnte. Aber nun lass uns fort; ich habe nur noch wenige Stunden, dann muss ich die Heimreise antreten und ich möchte Dich gern vorher in Sicherheit wissen. Kennst Du irgend jemand in der Stadt oder der Umgegend, zu dem ich Dich bringen soll?“

Katharine schüttelte den Kopf.

„Oder hast Du auch keine Freunde unter den angekommenen, die Dich vielleicht nur erwarten, um in Gemeinschaft mit Dir weiter zu ziehen?“

„Ich habe Niemand, Niemand,“ sagte das Mädchen; „und es denkt eben jeder nur an sich, Du siehst es; ach, und es hat ja auch Jeder genug mit sich zu tun.“

Lambert stand ratlos da; er dachte flüchtig an seinen alten Geschäftsfreund, Mr. Brown; aber Mrs. Brown war keine gute Frau, die ihres Gatten Vorliebe für die Deutschen sehr lächerlich fand, und es war nicht wohl anzunehmen, dass sie die Fremde Willkommen heißen würde, und sonst kannte er kein Haus in der Stadt, außer der Herberge, in welcher er sein Pferd eingestellt, und wo außer dem Ale nichts gut war, am wenigsten die Gesellschaft, die dort verkehrte. Er blickte Katharinen an, als ob ihm von ihr ein Rath kommen müsse; aber auch ihre Augen hatten einen ängstlich gespannten Ausdruck.

„Du willst mich anderen Leuten übergeben?“ sagte sie.

„Wie meinst Du?“ fragte Lambert.

„Guter Mann,“ sagte Katharine, „Du hast schon so viel für mich getan und scheust Dich nun, zu sagen, dass Du nicht mehr tun kannst. Ich werde lange, lange brauchen, die ungeheure Schuld ob zuverdienen — ich weiß es wohl, aber Dir und Deinen Eltern wollte ich dienen mein Leben lang, und mein Leben für Euch lassen. Nun willst Du mich zu Andern bringen. Sag' es frei heraus; ich will mich gerne auf so viele Jahre binden, wie sie verlangen, und Deiner Empfehlung Ehre machen.“

Sie lächelte wehmütig und ergriff ein kleines Bündel, welches neben ihr lag.

„Ich bin bereit,“ sagte sie.

„Katharine!“ sagte Lambert.

Sie blickte fragend zu ihm auf.

„Katharine,“ sagte er noch einmal, und seine Brust hob und senkte sich, obgleich er alle Kraft aufbot, ruhig Zu sprechen: „ich wohne weit, sehr weit von hier, wohl zwanzig Tagereisen, an der äußersten Grenze, der letzte aller Ansiedler in einer unwirtlichen Gegend, die dem Angriffe unserer Feinde offen steht, und noch im vergangenen Jahre grausam heimgesucht ist, aber wenn Du mit mir ziehen willst —“

Ein freudiges Erschrecken flog über Katharinens. blasses Gesicht.

„Wie magst Du fragen?“ sagte sie leise.

„Wohl mag ich fragen,“ erwiderte Lambert, „und wohl muß ich fragen. Steht es doch bei Dir. Dein Schuldschein ist in Deiner Hand, und nimmer würde ich ihn wieder in meine Hand nehmen. Du bist frei wie ich, zu kommen und zu gehen. Und so, Katharine Weise, frage ich dich noch einmal: willst Du, als ein freies Mädchen, mit mir gehen in meine Heimat, wenn ich Dir verspreche auf Manneswort, dass ich für Dich sorgen und Dich beschulen und beschirmen will, wie ein Bruder seine Schwester?“

„Ich will mit Dir gehen, Lambert Sternberg,“ sagte Katharine.

Sie legte ihre Hand tiefaufatmend in seine dargebotene Rechte.

Dann schritten sie über das Verdeck. Katharine winkte diesem und jenem der Zurückbleibenden weinend zu; sprechen konnte sie nicht, ihr Herz war zu voll zum Sprechen. und Niemand erwiderte ihren stummen Scheidegruß als mit stummen, oben, hoffnungsleeren Blicken, die dem Mädchen durch die Seele schnitten. Sie hatte auf der langen, entsetzlichen Reise aus der Heimat bis hierher getan nach ihrer Kraft und über ihre Kraft, das grenzenlose Elend zu mildern, wo sie konnte. Nun konnte sie nichts mehr, nichts, als die Ärmsten ihrem Schicksal überlassen. Ach! und welches Schicksal würde derer harren, die hier an den fremden Strand geschleudert Waren, wie die zusammenhanglosen Trümmer eines Wracks, mit denen die Wellen ihr grausames Spiel treiben! Tränen des Jammers verdunkelten ihre Augen; die Sinne wollten ihr vergehen. Sie wußte nicht, wie sie aus dem Schiff gekommen, als sie plötzlich das feste Land unter ihren Füssen fühlte, und ihr Begleiter, der sie noch immer an der Hand hielt, sagte: „Gott sei gelobt!“

Katharine sagte nichts; aber in ihrem tiefbewegten Herzen hallte es wieder: Gott sei gelobt!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Pioniere