Katherine lernt ihr neues Zuhause kennen

Die scheidende Sonne, die über dem kanadischen Wäldermeer hing, strahlte den Reisenden purpurn entgegen. Sie waren eben aus dem Walde herausgetreten, den sie den ganzen Tag auf einsamem schmalen Indianerpfade durchzogen hatten. Zu ihren Füßen lag, den Windungen des Baches folgend, von rosigem Abendduft erfüllt, das Tal. Lambert hielt den starkknochigen Gaul, den er am Zügel führte, an und sagte zu seiner Begleiterin, talauswärts zeigend:

„Das ist der Canada-Creek und das ist unser Haus.“


„Wo?“ sagte Katharine.

Im Sattel vornüber gebeugt und die Augen mit der Hand gegen die Sonne schützend, spähte sie eifrig in der Richtung, welche der junge Mann bezeichnet hatte.

„Dort,“ sagte er, „nach Norden, wo der Bach eben aufblinkt. Siehst Du es?“

„Jetzt,“ sagte Katharine.

In diesem Momente schnob das Pferd mit weitgeöffneten Nüstern in das Waldkraut und prallte dann heftig seitwärts. Die ungeübte Reiterin verlor das Gleichgewicht und wäre herabgestürzt, wenn ihr Begleiter, schnell hinzuspringend, sie nicht im Fallen aufgefangen hätte.

„Es ist nichts,“ sagte er, indem er sie aus seinen Armen aus den Boden gleiten ließ, „alter Hans tust ja, als ob du noch nie eine Schlange gesehen hättest; schämst du dich nicht: so, ruhig, so!“

Er klopfte dem erschrockenen Tiere auf den kurzen dicken Hals, streifte ihm den Zügel ab und befestigte denselben an einen Baumast.

„Du bist wohl sehr erschrocken?“ sagte er.

Seine Stimme zitterte, und seine Hände zitterten während er an dem Reitkissen, das sich verschoben hatte, schnallte.

„Ach nein!“ sagte Katharine.

Sie hatte sich auf eine Baumwurzel gesetzt und blickte wieder in das Tal hinab, wo jetzt auf den üppigen Wiesen, die den Lauf des Wassers begleiteten, leichte, blaue Nebel zu ziehen begannen. Schwimmend in ihrem Glanz tauchte die Sonnenscheibe drüben in das smaragdne Wäldermeer, und die goldenen Flammen auf den Stämmen und Ästen und in den Gipfeln der Riesenbäume, unter denen sie standen, verloschen allmälig. Hoch blickte der grünlich blaue wolkenlose Abendhimmel herein, an dem eben eine Schar wilder Schwäne das Tal hinauf nach Norden zog. Von Zeit zu Zeit ertönte, durch die Entfernung melodisch gedämpft, ihr eigenthümlich klagender Ruf; sonst tiefe lautlose Urwalds-Stille rings umher.

Der junge Mann stand an den Bug des Pferdes gelehnt. Auf seinem braunen Gesicht lag ein tiefer schwermütiger Ernst; ja manchmal flog ein Schatten von Unruhe und Angst drüber hin, der zu dem Augdruck der schlichten, männlich schönen Züge und zu dem Lichte, das aus den großen, blauen Augen leuchtete, gar nicht passen wollte. Er schaute bald nach den Schwänen, die jetzt wie Silbersterne am äußersten rosigen Horizont erglänzten, bald auf das Mädchen, das noch immer halb abgewandt von ihm dasaß. Endlich holte er ein paar Mal tief Atem und trat an sie heran.

„Katharine,“ sagte er.

Sie hob das schone Antlitz; die großen braunen Augen Waren mit Tränen gefüllt.

„Es ist Dir leid, dass Du mit mir gezogen bist?“ sagte der junge Mann.

Katharine schüttelte mit dem Kopfe.

„Nein,“ erwiderte sie; „wie undankbar müsste ich da sein.“

„Und doch weinst Du!“

„Ich weine nicht,“ sagte Katharine, indem sie sich mit der Hand über die Augen fuhr und zu lächeln versuchte: ich dachte nur eben daran, wie mein Vater glücklich gewesen sein würde, hätte er als Ziel seiner Wanderschaft diesen stillen Platz gefunden. Ach, gerade so hatte er es sich gewünscht, geträumt. Doch, es hat nicht sein sotten. Wie werden sich Deine Eltern freuen, Dich wieder zu sehen.“

Sie wollte sich schnell erheben; Lambert berührte ihre Schulter.

„.Bleib noch einen Augenblick, Katharine,“ sagte er, „ich habe — ich muß Dich etwas fragen.“

Die Unruhe, die sich schon vorher auf seinem Gesicht gezeigt hatte, war noch größer geworden. Seine Brauen waren gespannt; seine Augen hatten einen starren, zornigen Ausdruck. Katharine blickte verwundert zu ihm auf.

„Wenn meine Eltern nun gestorben wären während dieser Zeit, Katharine; und wir beide, Du und ich, müßten allein hausen da unten.“

„So musst Du nicht sprechen, Lambert Sternberg,“ sagte Katharine; „man soll Gott vertrauen. Sie werden leben und gesund sein, sie und Dein Bruder. Weshalb verlieren wir die Zeit? Laß uns aufbrechen, der Abend sinkt herein, und ich habe mich vollkommen ausgeruht.“

Lambert wollte etwas erwidern, aber die Worte kamen nicht über die Lippen: er starrte wie in Verzweiflung vor sich und wandte sich endlich nach dem Pferde, dem er mit einer gewissen Heftigkeit das Gebiss zwischen die Zähne schob. Dann warf er die Büchse, die er seitwärts an einen Baumstamm gelehnt, über die Schulter, und begann, das Pferd am Zügel führend, den Felsenhang hinabzusteigen. Schweigend folgte Katharine, vorsichtig nach den Stellen spähend, wo sie mit Sicherheit den Fuß aufsetzen konnte, und manchmal nur einen Blick auf den Gefährten werfend. Der Pfad war sehr steil und das Pferd kam manchmal in's Rutschen; Lambert hatte gewiss seine Kraft und Aufmerksamkeit nötig, und es war erklärlich genug, dass er sich nicht einmal nach seiner Begleiterin umsah, nicht einmal fragte, ob sie gut vorwärts komme. Dennoch klopfte Katharine das Herz; es war, als ob die Unruhe, die geheime Angst, die aus den Worten und Blicken Lamberts gesprochen, auch sie ergriffen hatte und sie wiederholte mehrmals für sich: Wenn sie nun gestorben wären, wenn Alle gestorben wären, und wir Beide, er und ich, müssten allein hausen da unten!

Sie waren in dem Tale angekommen. Hier längst des Baches der in manchen Windungen zwischen seinen Wiesenufern sanft dahinglitt, lief ein besser gehaltener, wenn auch nur schmaler Weg. Das Pferd spitzte die Ohren und wieherte und schritt rascher dahin: Lambert mußte es fest am Zügel halten: Katharine ging ein wenig seitwärts. Es machte dem schlanken rüstigen Mädchen keine Mühe, mitzukommen, aber ihr Atem flog; das Schweigen, welches Lambert noch immer nicht gebrochen hatte, bedrückte sie mehr und mehr. Sie war daran so wenig gewöhnt, im Gegenteil: er hatte — das merkte sie jetzt erst — sie so sehr verwöhnt während der wochenlangen Reise, hatte immer so lieb und gut mit ihr geplaudert: nur über seine näheren Verhältnisse war er sehr schweigsam gewesen; hatte nie von den Seinen gesprochen; ja sie würde nicht gewusst haben, dass ihm die Eltern noch lebten, hätte er nicht einmal auf ihre Frage: ob er glaube, dass seine Mutter mit ihr zufrieden sein würde, geantwortet, darüber solle sie sich keine Sorge machen: und hätte er nicht eben jetzt die Befürchtung geäußert, die Eltern nicht mehr am Leben zu finden.

„Der gute Mann,“ sprach sie bei sich, „er hat der armen Waise nicht das Herz schwer machen wollen, wenn er mir so viel von seinen Eltern erzählte: und nun kann er die Zeit nicht erwarten.“

„Katharine,“ sagte er plötzlich.

„Lambert,“ erwiderte sie, an seine Seite kommend, froh, dass er endlich das Schweigen brach, und als er wider Erwarten nicht weiter sprach: „Du wolltest sagen?“

„Wir werden nicht allein dort wohnen,“ und er deutete mit den Augen nach dem Blockhause, das jetzt nur noch wenige tausend Schritte vor ihnen lag.

„Nein, gewiss nicht!“ erwiderte sie.

Er sah sie mit einem seltsamen Blick an.

„Ängstige Dich nicht so, guter Lambert.“ sagte sie, „wir stehen in Gottes Hut.“

„Nein, gewiss nicht!“ erwiderte er.

Er hatte wohl nicht vernommen, was sie zuletzt gesagt, und nur ihre Worte von vorhin wiederholt; dennoch berührte es sie peinlich, als sie, wenn auch aus Missverständnis, verneinen hörte, woran sie aus voller Seele glaubte, wie ihr guter alter Vater daran geglaubt in aller Not und Trübsal. Wir stehen in Gottes Hut! das war der Text seiner legten Predigt gewesen, die er, selbst schon ein Sterbender, den unglücklichen Leidensgefährten in dem Zwischendeck des Schiffes hielt; das war sein letztes Wort gewesen, als er wenige Stunden später die reine, gottergebene Seele in ihren Atmen aushauchte. und hatte er sich denn nicht wundersam an ihr bewährt, der fromme Kinderglaube? war nicht, als alle Menschenhülfe unmöglich schien, dennoch, von Gott gesandt, ein guter Mensch gekommen und hatte sie mit starker Hand herausgeführt aus dem Irrsal?“ und sie sorgsam geleitet über Hügel und Berge, Bäche und Ströme, durch endlose Wälder und unabsehbare Prärien! Nie, nie war ihr an der Seite des Guten und Starten ein Gefühl der Furcht, der Sorge gekommen, und nun, da sie sich dem Ziele der langen Pilgerfahrt endlich nahte, sollte doch der Zweifel sie beschleichen? — „Ich will dich schirmen und schützen. Wie ein Bruder die Schwester?“ — Hatte er zuviel gelobt? Warum schritt er so in sich gekehrt, so still und stumm an ihrer Seite, jetzt, gerade jetzt, wo er im Begriff war, an seinen Herd, an den Herd seiner Eltern zurückzukehren? fürchtete er, nicht gut, vielleicht um der Fremden willen, die er heimbrachte, nicht gut empfangen zu werden? und warum so still das Haus da vor ihnen? Kein Hundebellen! kein Lebenszeichen von Menschen, die im nächsten Moment dem Heimkehrenden in die Arme fliegen! Still und stumm das einsame Haus auf dem kleinen, nach allen Seiten gleichmäßig abfallenden Hügel am Rande des Baches, der still und stumm zwischen dem Röhricht dahingleitet wie ein Schlange, die durch das Gras schlüpft. Still und stumm die dunklen Wälder, die hüben und drüben von den Uferhöhen in's Tal schauen!

Katharinen war, als sollte ihr das Herz springen, wie sie jetzt an dem Hause anlangten, das, aus ungeheuren Balken gefügt, in seinem unteren Stockwerk statt der Fenster nur schmale Öffnungen hatte, wie die Schießscharten in einer Festungsmauer — und ihr mit der weit vorragenden, massiven Brustwehr um den niedrigen, oberen Stock und dem hohen Schindeldach, Alles in Allem, wie ein Gefängnis erschien. Lambert band das Pferd an einen schweren, eisernen Ring, der neben der Tür angebracht war, warf prüfende Blicke über das Haus und rings umher, murmelte etwas, das sie nicht verstand, drückte endlich, wie zögernd, gegen die schwere Tür, die nur angelehnt war und sich nach innen öffnete. Er verschwand in dem Hause, kam nach wenigen Minuten wieder heraus und sagte: „Es ist Niemand da — wir werden ganz allein sein. Willst Du mit mir gehen?“

Es waren dieselben Worte, die er zu ihr gesprochen, damals auf dem Deck des Auswanderungsschiffes, und wiederum antwortete sie wie damals: „ich will mit Dir gehen.“

und sie faßte seine Hand, die er nach ihr ausgestreckt hatte, und folgte ihm in das verlassene Haus.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Pioniere