Die letzten Stunden vor der großen Schlacht

Der Pfarrer hatte sich nicht getäuscht, als er, bei dem Aufbruch vom Blockhause, in Lamberts und Katharines Mienen zu lesen glaubte, dass die Beiden sich trotz alledem nicht hatten täuschen lassen, und sein und der Base Vorhaben ahnten. In der Tat war Lamberts Seele, während er die Verteidigungsarbeiten leitete und selbst wacker Hand anlegte, immerdar von der schweren Sorge um Konrad verdüstert gewesen. Sein liebevolles und liebebedürftiges Herz vermochte den Gedanken nicht zu fassen, dass sein Bruder so unglücklich sein sollte, während er selber so glücklich war; dass er ihm, für den ihm nie ein Opfer zu schwer gewesen, zum ersten Mal von dem Sonnenschein des Lebens nicht den besten Teil lassen konnte. Nein, nicht lassen konnte! nicht lassen wollte! um Alles in der Welt nicht, um seiner Seelen Seligkeit nicht! Hier gab es keinen Zweifel, durfte es keinen Zweifel geben, welcher der schnödeste Verrat an sich selbst und an dem teuren Mädchen gewesen wäre, das ihm ihr reines, jungfräuliches Herz vertrauungsvoll geschenkt hatte. Und doch, und doch!

Katharines Herz war kaum weniger traurig. Sie hatte Lambert so unaussprechlich lieb, und mußte nun erfahren, dass sie dem Geliebten, als erste Gabe gleichsam, so schweres Leid gebracht. Ach, und es entging ihr kein Zug dieses Leides in dem Antlitz des teuren Mannes; — sie hatte in den schlichten, ehrlichen Zügen zu gut zu lesen gelernt! — Keine trübe Wolke auf der offenen Stirn, kein düsterer Niederschlag der blauen, milden Augen, kein wehmütiges Zucken um den Mund, der sich sonst so gern und so oft zu einem freundlichen Lächeln öffnete, und der jetzt so fest geschlossen war!


So hatten sie, ohne dass sie es auszusprechen brauchten, über der Möglichkeit, Konrad wieder zu gewinnen, gesonnen und gebrütet, und als Base Ursel nun gestern den Pfarrer einführte, und dem guten Manne kaum Zeit ließ, sich zu setzen und an dem Mittagsmahl Teil zu nehmen, sondern ihn alsbald wieder auftrieb, und bas Blockhaus mit ihm verließ, und nun gar nach wenigen Minuten allein umkehrte und sich den Pluto ausbat, weil auf ihren alten Kettenhund Melac zu Hause kein Verlaß mehr sei — da hatten sich Lambert und Katharine mit einem vielsagenden Blick angesehen, und, sobald sie sich allein sahen, umarmt und gesagt; „Vielleicht, vielleicht wird doch noch Alles gut werden!“

Wie trübe aber auch den Liebenden zu Sinnen sein mochte, sie trugen ihr Leid still für sich, und die Anderen waren wenig geneigt, sich für einen Kummer zu interessieren, den man noch dazu sorgfältig vor ihnen verbarg. Zwar harte Richard Herckheimer Lambert wiederholt sein Bedauern auggesprochen, dass Konrad gerade jetzt eine solche Dummheit machen müsse, wie er sagte; und ähnlich hatten sich auch die Andern geäußert; aber damit war für sie die Sache abgetan. Sie waren entschlossen, mit oder ohne Konrad ihre Pflicht zu tun, und dieses Bewußtsein erhöhte die gute Laune der braven Burschen bis zum Übermut. Ein Umstand kam hinzu, ihren Lebensgeistern noch einen besonderen Schwung zu verleihen, und sie die tief-ernste Lage, in welcher sie sich befanden, in einem durchaus poetischen Lichte sehen zu lassen. Die guten Jungen waren sämtlich von Katharines Schönheit und Liebenswürdigkeit vollständig bezaubert, und gaben dieser Bezauberung den harmlosesten und ergötzlichsten Augdruck. Wenn Katharine bei Tische ein freundliches Wort sagte, erglänzten fünf Paar weißer Zahnreihen; wenn sie einen Wunsch aussprach, ja nur mit den Augen andeutete, streckten sich zehn Hände aus, setzten sich zehn Beine in Bewegung. Wo sie ging und stand, hatte sie zwei oder drei aufmerksame Zuhörer an ihrer Seite, welche sich gegenseitig mit der größten Eifersucht beobachteten und einander den Rang abzulaufen suchten. Dass man sich für Katharine nicht nur totschlagen lassen, sondern in jeder Art — und sei es die barbarischste, welche die Grausamkeit der Indianer erfunden — zu sterben bereit sein müsse, war eine Überzeugung, die bei jedem Einzelnen fest stand; ja sie hatten sich bei einer Gelegenheit, wo Lambert nicht zugegen und sie alle fünf beisammen waren, in einer Aufwallung von Heroismus, auf Richard Herckheimers speziellen Vorschlag, einander die Hände darauf gegeben und gelobt, dass, wer von ihnen den Andern überlebte, bevor er selbst sterbe, Katharine töten müsse, damit sie nicht dem Feinde in die Hände falle.

Diese Einigkeit tragischen Opfermutes verhinderte die fünf Helden aber keineswegs, ihren Witz aneinander zu üben, und sich gegenseitig mit der Leidenschaft für das schone Mädchen auf alle Weise zu necken und zu foppen. Am meisten mußte dabei der arme Adam ausstehen. Sie suchten dem guten Jungen einzureden, dass Lambert eine Kugel bei Seite gelegt habe, welche nicht für die Franzosen bestimmt sei, und wie sie das dem Lambert gar nicht verdächten, da ihm außer Adam niemand sonst gefährlich werden könne. Fritz Volz und Richard Herckheimer — das wisse Adam selbst am besten — hatten ihre Wahl bereits getroffen; Jakob Ehrlich und Anton Biermann weinten heimlich nach ihren Schätzen, die sie am Mohawk gelassen — Adam aber gehe schon seit Jahren herum, wie ein brüllender Löwe, der da suche, wen er verschlinge, ein wandelnder Schrecken und eine beständige Sorge für alle Bräutigams und jungen Ehemänner. Und dann seien die Anderen hierher kommandiert, Adam aber habe sich freiwillig eingefunden, und er möge doch einmal sagen, zu welchem Zweck und in welcher Absicht er gestern Abend, als er Wache stand: „Wie schön leucht' uns der Morgenstern“ so süß gesungen, dass Katharine vor Freuden geweint und gesagt habe! Nein, hört nur den Adam, der singt lieblicher wie eine Nachtigall!

Adam blieb seinen Quälgeistern die Antwort nicht schuldig. Sie sollten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern; er wisse, was er zu tun habe. Dann geriet er wieder in eine weinerliche Stimmung und beschwor die Freunde, ihm aufs Gewissen zu sagen, ob Lambert sich wirklich mit so schändlichen Absichten trage, und ob Katharine alles Ernstes seinen Gesang so schön gesungen und erklärt habe, sie wünsche in diesem Leben nur noch Eines, und das sei eine blonde Locke von dem Haupte des Sängers, um sie mit sich ins Grab zu nehmen? Die Freunde schwuren hoch und teuer, sie hätten es jeder aus Katharines eigenem Munde, und sie hätten versprochen, ihr den bescheidenen Wunsch zu erfüllen, und Adam solle nur gleich freiwillig seinen Schopf hergeben, bevor die Indianer ihm denselben mit Gewalt nähmen und die Kopfhaut dazu. Adam setzte sich zur Wehr und rief um Hilfe und bat um Gnade, bis die stille Sunde von Geschrei und Gelächter widerhallte.

So war es auch am Nachmittag, als Lambert, den die innere Unruhe nicht im Hause ließ, hochaufwärts langsam am Ufer hin nach dem Walde schritt. Er blieb einen Augenblick stehen, als der Lärm vom Hause her an sein Ohr schlug, und setzte dann kopfschüttelnd seinen Weg fort. Sie konnten scherzen und lachen, die guten Gesellen, in dieser Stunde der Trübsal und der Not, die mit bleierner Schwere auf seiner Seele lastete! Und doch wußten sie, dass diese Stunde ihre letzte sein konnte! und doch hatten sie Eltern zu Hause, und Geschwister und Einer oder der Andere ein Madchen, das er liebte: und das Leben dieser geliebten Menschen stand auf dem Spiele, wie ihr eigenes Leben! Aber freilich! sie waren Alle so viel jünger als er, und nahmen das Leben so viel leichter! so leicht, wie man es am Ende nehmen muß, um damit fertig zu werden, um nicht unter der Last zu erliegen! war er nicht schon zu alt, um noch mehr auf sich zu laden, er, der an der alten Last schon so schwer getragen? Wie oft hatten die Andern ihn deshalb verspottet, ihn: Hans, der Träumer, genannt! und es zu einem Sprichwort gemacht, wenn irgend ein schwieriger Fall vorlag: dafür laßt nur den lieben Gott und Lambert Sternberg sorgen! Nun ja: er hatte die Sorge früh genug kennen gelernt, als die Mutter starb und ihn mit dem grämlichen, reizbaren Vater allein ließ, und er zwischen ihm und dem wilden Jungen, dem Konrad, und den Verwandten und der übrigen Gemeinde den Vermittler spielen mußte, und dann, nach des Vaters Tode, ihm die ganze Arbeit für das eigene Anwesen zufiel, und er dabei noch immer mit Rat und Tat helfen sollte, wenn es sonst irgendwo bei den Nachbarn fehlte. So hatte er gearbeitet und immer nur gearbeitet, so hatte er gesorgt und immer nur gesorgt, und es hatte sich ganz von selbst verstanden, dass er in diesem Frühjahr die schwierige und verantwortliche Sendung nach New-York übernehmen mußte. Er hatte sie übernommen, wie er Alles übernahm, was den Anderen zu lästig war, ohne an einen Lohn für sich zu denken, ohne auf den Dank seiner Auftraggeber zu hoffen — und nun hatte es der Himmel gefügt, dass er sie finden sollte, von der ein Blick ihm Lohn, ein Wort ihm Dank für Alles war, was er je getan, was er je gelitten. Zu viel des Lohnes, zu viel des Dankes! Er hatte es von Anfang an geahnt; er hatte es nur zu bald erfahren: Wer gönnte ihm denn ehrlich sein unverhofftes, sein mit bangem Zagen erfasstes Gluck! Nicht die Nachbarn, die es ihm nie vergeben würden, dass er ihren Töchtern die Fremde vorgezogen; nicht Base Ursel, die, trotzdem ihr braver und gerechter Sinn sich dagegen sträubte, doch lieber Konrad an seiner Stelle gesehen hätte; und Konrad selbst, sein einziger, geliebter Bruder! Ja, das war die tiefste Kränkung, das war der gallenbittere Tropfen, der ihm in den süßen Trank der Liebe geschüttet war, und den er immerdar auf seiner Zunge spüren würde! Es sollte eben nicht sein!

Aber, wenn dies nicht sein sollte, welchen Sinn und welche Bedeutung hatte dann noch das Übrige? warum für eine Zukunft sorgen, die ihm keine reine Freude mehr bringen konnte? weshalb an einem Leben hängen, das ihm so verleidet war? Warum den schweren Kampf aufnehmen, der bevorstand? Warum hoffen, aus diesem Kampf als Sieger hervorzugehen? — Da grünten seine Felder — mochten sie doch zertreten werden! Da irrte sein Vieh in der Wildnis — mochte es dem Feinde zur Beute fallen! Da ragte sein Hof — mochte er in Flammen aufgehen! da stand sein, wohlbefestigtes Haue — mochte es ihn und sie unter seinen Trümmern begraben!

So, in tiefster, schwermütigster Bekümmernis, stand Lambert da, am Rande des Waldes, hinabschauend auf sein Heimatstal, das im hellsten Sonnenlicht erglänzte. Kein Laut in der weiten Runde, nur das Summen der Insekten über den sanft nickenden Gräsern und Blumen der Prärie, und eine Vogelstimme dann und wann aus den Wipfeln der dunkelgrünen Tannen, die regungslos die Glut der Sonne tranken. War denn Alles, was eben durch sein Hirn gezogen, nur ein banger, schwerer Traum, aus dem er aufwachen konnte, wenn er nur wollte? war das Fanal dort, welches das Stauch- und Feuerzeichen geben sollte für die Andern den Creek hinab, nur zum Scherz errichtet? hatte Base Ursel, als sie ihm gestern durch Fritz Volz, welchen er, schon nach Anbruch der Nacht, sorgenvoll hinübergesandt, sagen ließ: sie habe sichere Kunde, dass der Feind in nächster Nähe stehe, und sie sollten die schärfste Wache halten — hatte Base Ursel ihm nicht ein Märchen berichtet?

Da — was war das für ein Ton, der plötzlich hinter ihm aus dem Walde sein scharfes Ohr berührte: ein Knistern und Knacken in dem trocknen Gezweig, wie wenn ein Hirsch in vollem Lauf durch die Büsche bricht! — nein, kein Hirsch! — deutlich hörte er jetzt einen anderen Laut, den nur der Fuß eines Mannes hervorbringen konnte! eines Mannes, der um sein Leben rennt! Näher und näher, am Creek herab, den steilen, steinigen, buschüberwucherten Pfad in tollen Sätzen, wie wenn ein Stein den Abhang herabgeschleudert würde!

Ein jäher, freudiger Schrecken durchjuckte Lamberts Seele. So konnte auf der Welt nur eines Menschen Fuß auftreten! seines Bruders Fuß!

In atemloser Spannung steht er da — das wild-pochende Herz zersprengt ihm schier die Brust; — er will rufen, aber der Laut stockt ihm in der Kehle; — er will ihm entgegen, aber die Knie zittern unter ihm; — und im nächsten Moment bricht es durch die Büsche: Konrad ist es, an seiner Seite, in mächtigen Sätzen, und doch nur eben im Stande mitzukommen, die treue Dogge!

„Konrad,“ schreit Lambert, „Konrad!“

Er stürzt auf den Bruder zu: er umschlingt ihn mit seinen Armen. Vergessen ist Alles, was ihn noch eben so grausam gequält! Mag nun kommen, was will, jetzt ist es wert, zu leben und auch zu sterben, wenn es sein muß!

„Sie kommen, Konrad!“

„In einer Stunde sind sie hier!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Pioniere