Allgemeines (Fortsetzung)

Auf den Höhen des Roten Kliffs bei Wenningstedt auf der Insel Sylt ist’s gewesen, als ich zum ersten Mal die brausende Nordsee erblickte (Abb. 003). In meinem Leben habe ich viel Schönes gesehen und manches herrliche Landschaftsbild im Norden und Süden, im Westen und Osten bewundert. Nichts aber von dem allem hat mir jemals wieder einen so großartigen Eindruck gemacht, nichts meine Sinne wieder in solchem Maße gefangen genommen, als diese meine erste Bekanntschaft mit dem brandenden und tosenden nordischen Meere. Noch ebenso lebendig, als ob es gestern gewesen wäre, steht heute, nach mehr als zwanzig Jahren, jenes herrliche Bild in meinen Erinnerung. Vor mir am Rande, des steil wie eine Mauer abfallenden Kliffs die stark bewegte, wild aufschäumende See, zu meinen Füßen das lang dahingestreckte, wie ein Schild gegen den unermesslichen Ozean vorgeschobene Eiland mit seinen weiß schimmernden Dünenketten, seinen freundlichen Dörfern und seiner braunen Heide, im Norden die klargezeichnete Insel Röm, tief am südlichen Horizont der Leuchtturm von Amrum und die Umrisse von Föhr und hinter mir die grauen, schlammigen Fluten des Wattenmeeres, begrenzt im fernen Osten von der nur leicht angedeuteten Küstenlinie Schleswigs. Und das alles beschienen von der warmen Sonne eines schönen nordischen Sommertages, während um mich herum die Bienen summten und die Möwen in den Lüften umherflogen, fürwahr ein Bild, an dem sich mein schönheitstrunkenes Auge nicht genugsam satt sehen konnte! Ganz im fernen Westen aber, auf den Wellen schaukelnd und nicht größer als wie Nussschalen erscheinend, die rauchenden und hochmastigen Panzerkolosse unserer zu jenen Zeiten noch in ihren Kinderschuhen steckenden deutschen Flotte, die auf einer Übungsfahrt in den heimischen Gewässern begriffen waren.

Nichts von der leuchtenden Farbenpracht, welche den blauen Spiegel des Mittelmeeres verklärt, nichts von der Lieblichkeit und Anmut der vom Schatten der Buchenwälder und vom schwellenden Grün der wiesenumrahmten Ostsee zeigen die Gestade des nordischen Meeres. Grau in grau, nur selten unbewegt und meist gepeitscht von schäumenden Wellen liegt es da. Keine großen Städte, keine üppigen Fluren spiegeln sich in seinen Fluten, allein der von einer dünnen Grasnarbe bewachsene Deich oder der blinkende weiße Sand der Dünen rahmen seine weiten Ufer ein. Eine gewisse Öde und Einförmigkeit schwebt auf dem Wasser, aber eine Öde und Einförmigkeit, welchen der Stempel der Erhabenheit und Gewaltigkeit aufgeprägt ist. Wie ein überirdischer Schimmer, wie ein mystischer Schleier liegt’s über dem Gebrüll und Getobe der Nordseewellen. Freilich, die menschliche Sprache ist zu arm, um das in Worten ausdrücken zu können, aber die Tonkunst vermag’s. Einer ihrer größten Meister hat es fertiggebracht, den Zauber, den die Nordsee auf ihren Beschauer ausübt in Töne zu bannen: Richard Wagner in den gespensterhaften Akkorden seiner Einleitung zum Fliegenden Holländer. Ob sie mit ihrer wellendurchfurchten Fläche im Sonnenschein daliegt, ob das scheidende Abendrot sie rosig erglühen lässt, oder ob aus schwarzer Wolkenwand der zackige Wetterstrahl rasch aufleuchtet über das wüste, wogende Wasser, wenn der Donner weithin rollt und des Boreas weiße Wellenrosse dahinspringen die Nordsee bleibt sich doch immer gleich in ihrer eigenartigen Pracht, ein Abglanz der Unendlichkeit und der Allmacht Dessen, der sie ins Dasein gerufen hat.


Goethe hat einmal gesagt: „Das freie Meer befreit den Geist.“ Wohl auf wenige Stellen auf unserem Planeten dürfte dieses Wort bessere Anwendung finden, als auf dasjenige Gebiet, dessen Beschreibung dieses Büchlein gewidmet ist. Die Unbeugsamkeit und der Freiheitsdrang des steifnackigen Friesenvolkes, das seine Wohnplätze an den Ufern der Nordsee hat, sie sind zweifellos Produkte jenes fortgesetzten und harten Kampfes, den es seit mehr denn zweitausend Jahren mit den wilden Meeresfluten um seine Heimat führen musste. Denn nur durch unausgesetzte Anstrengungen sin die Bewohner der Nordseeküste imstande gewesen, das ihnen von der Vorsehung angewiesene Land dem Meere abzugewinnen und dasselbe vor dem Untergang zu bewahren.

          Deus mare, Friso litora fecit,

so lautet ein alter stolzer Spruch des friesischen Stammes. Seine Richtigkeit werden wir im Verlaufe der nun folgenden Schilderungen kennenlernen, zugleich aber auch die Wahrheit der Verse vom alten Vater Homer:

Denn nichts Schrecklicheres ist mir bekannt, als die Schrecken des Meeres.

Ist doch die Nordsee zugleich auch eine Mordsee!
Nordseeküste, 011 Grab Theodor Storms in Husum_

Nordseeküste, 011 Grab Theodor Storms in Husum_

Nordseeküste, 012 Hafen von Tönning

Nordseeküste, 012 Hafen von Tönning

Nordseeküste, 013 Kirkeby auf Röm

Nordseeküste, 013 Kirkeby auf Röm

Nordseeküste, 014 Die Blockhäuser des Seebades Lakolk auf Röm_

Nordseeküste, 014 Die Blockhäuser des Seebades Lakolk auf Röm_

Nordseeküste, 015 Mädchen in Römertracht_

Nordseeküste, 015 Mädchen in Römertracht_

Nordseeküste, 016 Strand von Sylt zur Zeit der Flut_

Nordseeküste, 016 Strand von Sylt zur Zeit der Flut_

Nordseeküste, 017 Westerland auf Sylt

Nordseeküste, 017 Westerland auf Sylt

Nordseeküste, 018 Kurhaus in Westerland

Nordseeküste, 018 Kurhaus in Westerland

Nordseeküste, 019 Friedhof für Heimatlose

Nordseeküste, 019 Friedhof für Heimatlose

Nordseeküste, 020 Leuchtturm bei Kampen_

Nordseeküste, 020 Leuchtturm bei Kampen_

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