Humanismus und Reformation - Frührenaissance

Die Neuzeit, deren Beginn man mit dem 16. Jahrhundert ansetzt, bricht allmählich mit den Schranken, die das Mittelalter um den Menschen gezogen hatte, und macht aus dem Gemeinschaftswesen ein Einzelwesen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass nun alle Bindungen aufhören, dass keine Unterordnung mehr besteht, und dass die großen Zusammenhalte wie Kirche und ständische Gliederung ihre Bedeutung verlieren. Aber der Einzelne, sein ganzes Leben und Wirken, beginnt sich jetzt mehr als früher von diesem Gemeinschaftshintergrund abzuheben. Jetzt erst hören wir von Einzelpersönlichkeiten und ihrem Namen in der bildenden Kunst. Nicht mehr das Werk allein, auch der Schöpfer interessiert jetzt die Menschen, während im Mittelalter der bildende Künstler so gut wie völlig hinter seinem Werk zurücktrat. Die Menschen entdecken aber jetzt nicht nur sich selbst als Einzelwesen, sie entdecken zugleich auch die Welt um sich. Denn es ist ja auch das Zeitalter der großen territorialen Entdeckungen, das mit dem Ende des 15. Jahrhunderts anhebt. Gleich am Anfang steht die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus im Jahre 1492. Erst jetzt wird man sich seiner Umgebung innerlich und äußerlich recht bewusst; das Gefühl und der Sinn für die Natur und ihre bald erhabene, bald intime Schönheit und Eigenart ist neu erwacht. — In Deutschland steht am Beginn der neuen Zeit ein gewaltiges geistes- und religionsgeschichtliches Ereignis, die Reformation der christlichen Kirche durch Martin Luther. Als Luther am 31 . Oktober 1517 seine 95 Thesen an die für der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, wollte er hierdurch nur, wie vor ihm auch schon andere, auf die Schäden, die sich im Priestertum und in der Kirchenlehre des Mittelalters gezeigt hatten, hinweisen und die christliche Lehre in ihrer ursprünglichen Reinheit nach dem Evangelium wieder herstellen. Seine Tat aber rief nicht allein die Kirche zum Kampf auf den Plan. Auch die weltliche Obrigkeit; der Kaiser griff in den Streit ein. Reichstage wurden abgehalten, Kämpfe für und gegen die neue Lehre aus gefochten. Auch soziale Kampfe blieben nicht aus; Der Bauer wollte nicht mehr länger vom Adel unterdrückt sein und empörte sich gegen ihn. Es kam zu blutigen Bauernkriegen, die anfangs erfolgreich für die Bauern, bald noch blutiger unterdrückt wurden. — Heimatlose Landsknechthaufen, die, je nach dem höheren Solde, ihre Dienste bald diesem, bald jenem Fürsten anboten, durchzogen allenthalben das Reich. Der alte ehrenhafte Ritter war vielfach zum plündernden Raubritter geworden.

Das durch die religiösen und politischen Zeitereignisse so erregte deutsche Volk nahm auch willig die neue geistige Bildung auf, die aus Italien zu ihm kam: Die Renaissance, d. h. die Wiedererweckung der Kunstformen und Ideen des klassischen Altertums. Diese Aufnahme fremder Kunst und fremden Geistesgutes wirkte sich freilich in Deutschland nicht durchweg auf allen Gebieten günstig aus. Das einheimische deutsche Recht z. B. wurde durch die „Rezeption“, d. h. die Übernahme des römischen Rechtes nahezu verdrängt. Die kirchlich gebundene Wissenschaft des Mittelalters wurde jetzt durch die freie Forschung ersetzt, den Humanismus, dessen Ziel die allgemein menschliche Bildung auf der Grundlage der griechisch-römischen Literatur und Sprachforschung war. Auch hierbei ging es nicht ohne eine gewisse gelehrt -philologische Überfremdung des deutschen Wesens ab. — In der bildenden Kunst Deutschlands teilt man die Renaissance in Früh-, Hoch- und Spätrenaissance ein. Die Frührenaissance bedeutet für Deutschland einen Höhepunkt künstlerischen Schaffens auf allen Gebieten. Es ist die Zeit, in der Albrecht Dürer, Hans Holbein und Lucas Cranach ihre wundervollen Werke schufen, in der die tief empfundenen Isenheimer Altargemälde des Matthias Grünewald und in Peter Vischers Nürnberger Gießhütte der Sebaldus-Schrein entstanden. Auch das einheitlich-geschlossene Städtebild das wir noch heute gerade in kleinen deutschen Städten wie Dinkelsbühl, Rothenburg u. a. so bewundern, ist im Wesentlichen in jener Zeit geschaffen worden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Kulturbilder - II. Abschnitt: 1500 bis 1550