Religiöse Erziehung beim protestantischen Adel

In den absolutistischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts hatte der Adel eine bedeutende, im Staats- und Militärdienst die führende Rolle inne. Auch gesellschaftlich behauptete er den Vorrang. Durchdrungen von der Hoheit seiner Geburt fühlte er sich erhaben über die Bürgerkanaille und lebte in strengster Absonderung vom Bürgertum.1)

Die überragende soziale Stellung und die Abgeschlossenheit von den anderen Ständen gaben dem häuslichen Leben und damit der häuslichen Erziehung des Adels ein besonderes, eben dem Adel eigentümliches Gepräge. Obwohl aber die aristokratische Familienerziehung jener Zeit in manchen Punkten wesentlich von jener der übrigen Volksklassen sich unterscheidet, so ist sie in anderer Hinsicht doch beeinflusst vom allgemeinen Geiste der Zeit und den geistigen und sozialen Strömungen der wechselnden Jahrzehnte.


Die ständischen Lebensgewohnheiten, besonders des Hochadels, brachten es mit sich, dass das Familienleben nicht den gleichen Charakter wie beim Bürger trug. Der unmittelbare Verkehr zwischen Eltern und Kindern war durch die höfische Etikette und durch ausgedehnte gesellschaftliche Verpflichtungen der Eltern weit geringer als bei den anderen Ständen; es fehlte das stete und unmittelbare Zusammensein von Eltern und Kindern. Zwischen beiden standen als Mittelpersonen Erzieher und Erzieherinnen. Naturgemäß verlor damit die Einwirkung der Eltern an Frische; aber bei den häufig zerrütteten Eheverhältnissen und dem „nichtsnutzigen Treiben“ 2) des Adels war es wohl in vielen Familien für das werdende Kind das kleinere Übel, nicht stets dem elterlichen Beispiel ausgesetzt zu sein.

Das Leben eines fürstlichen Kindes spielte sich also weniger unter den Augen der Eltern als der Gouvernanten und Hofmeister ab. In besonders charakteristischer Weise war dies bei den regierenden souveränen Familien der Fall, wo die einzelnen oder doch die an Alter und Geschlecht einander nahestehenden Kinder mit ihren Dienern, Bonnen, Gouvernanten und Erziehern geradezu einen eigenen Hofstaat führten. Beim Residenz- und vollends beim Landadel aber waren die Kinder nicht in so weitgehendem Maße von den Eltern abgeschlossen, freilich fehlte auch hier nur in seltenen Fällen, wo eben die Armut zur Einschränkung nötigte, der Hofmeister.

Im allgemeinen lässt sich daher über den äußeren Gang eines Kindeslebens im adeligen Hause jener Zeit sagen: nach der Geburt wurde das Kind der Amme übergeben; bis zum sechsten Jahre ungefähr lag die körperliche und geistige Pflege desselben in weiblichen Händen; etwa vom siebenten Jahre an wurden die Knaben einem Hofmeister, die Mädchen einer Gouvernante zur weiteren Erziehung und Bildung anvertraut. Stets aber gaben die Eltern ausführliche Weisungen, beziehungsweise „Instruktionen“, wie die religiöse, intellektuelle und körperliche Ausbildung zu leiten sei.

Was die Einwirkung des adeligen Hauses auf die religiöse Entwicklung des Kindes betrifft, so spiegelt sich in der Familienerziehung vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Wechsel des Zeitgeistes deutlich wieder, bei den Protestanten in weit höherem Grade als bei den Katholiken.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erstarb an den protestantischen Adelshöfen das religiöse Leben mehr und mehr.

1) Vgl. Bezold-Gotheim-Koser „Staat und Gesellschaft der neueren Zeit“ 242/ 248/ 251.
2) Vgl. Biedermann „Deutschlands geistige, sittliche und gesellige Zustände im achtzehnten Jahrhundert“ I 96 ff.