Abschnitt. 8 - Das Adreßbuch verzeichnet 44 Gasthöfe, 18 Wein- und 90 Bierwirtschaften...

Und die vielen Kneipen, sagt ich schon, stimmen zum Stadtbild. Die alten Deutschen tranken immer noch eins; auch daran halten die Zerbster treulich fest – alle Wetter, was müssen die für einen Durst haben! Das wimmelt nur so von Bier- und Weinstuben, von Herbergen und Gasthöfen; jedes fünfzehnte Haus ist ein Wirtshaus; das hab ich all meine Tage noch nicht gesehen. Ja, jedes fünfzehnte! Das Adreßbuch verzeichnet 44 Gasthöfe, 18 Wein- und 90 Bierwirtschaften (in vielen wird wohl auch edler Branntewein zu finden sein); in summa also 152 Troststätten für durstige Kehlen – und nicht ganz 2 000 Häuser gibt es. Wie könnten diese 152 Wirte leben, wenn nicht der alte Herrgott den Zerbstern, die er liebt, zu allem anderen auch einen besonders schönen Durst beschert hätte! Rechnen wir von den 18 000 Seelen 1 000 Soldaten, die wenig aus ihren Kantinen herauskommen, ab, veranschlagen wir von den restlichen 17 000 dann die Frauen nur mit der Hälfte – die kneipen doch nur ausnahmsweise mit! – und subtrahieren wir von den nun verbleibenden 8 500 Mannsleuten nur 3 500 als solche, die noch nicht oder nicht mehr ins Wirtshaus gehen können, so entfallen also auf jeden Wirt bestenfalls 37 Zecher; die müssen dann natürlich durch Eifer ersetzen, was an der Zahl fehlt. Aber 37 – das wäre für viele Wirte noch eine herrliche Ziffer. In Wahrheit haben die einen sehr viele und die anderen fast keine Gäste; der schöne Rephunsche Garten vor dem Tor zum Beispiel sieht an Konzerttagen, wie mir ein Kellner stolz erzählte, viele Hunderte von Gästen; ob der Musik, ob des Bieres, ob des Gemeinsinns wegen, weiß ich nicht. Denn mit dieser Wirtschaft hat es eine besondere Bewandtnis, die schwerlich irgendwo ihresgleichen findet; was es so alles auf diesem kuriosen Planeten gibt! Ein Wohltäter der Stadt, der verstorbene Kammerherr von Rephun, hat ihr das schöne Anwesen mit der Bestimmung vermacht, daß der Pachtzins kapitalisiert und dann, sobald der nötige Betrag erreicht ist, zum Bau eines neuen Kranken-, eines Pfründenhauses usw. verwendet werden soll – und je stärker der Konsum, um so höher die Pachtsumme. „Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci!“ – die Zerbster dürfen das wahrlich von sich sagen! Anderswo muß die Kommune die Steuerschraube anziehen, daß den Bürgern die Schwarten krachen – und diese glücklichen Leute saufen sich in aller Gemütlichkeit die großartigsten Wohltätigkeitsanstalten zusammen. Ich bin überzeugt, bei diesem Durste wird Zerbst in zehn Jahren eine Musterstätte der Philanthropie sein. Sobald dies erreicht ist, denken sie wohl auch an die kleinen Wirte mit wenig Gästen; bis dahin müssen sich diese Leute aus eigener Kraft helfen, und das tun sie auch. Soll bei geringem Einspruch das Bier süffig bleiben, so muß der Wirt es trinken; und das geschieht. Weiß der Himmel, ich bin doch von meinem heimatlichen Halbasien her schöne, lebhaft kolorierte, stattlich entwickelte Trinkernasen gewöhnt, aber solche Prachtexemplare wie an zwei Zerbster Bierwirten habe ich noch nie vorher anstaunen dürfen. Betrunken aber waren die Leute nicht. Ich habe in diesen zwei Tagen nur einen einzigen Betrunkenen gesehen; er johlte just vor dem Rathaus, an dem doch der Spruch von 1541 geschrieben steht: „Wer hierrein nicht will, der halt sich ehrlich und still.“ Nun, er kam auch „hierrein“. Aber wie rücksichtsvoll die beiden Schutzmänner ihn faßten, ordentlich höflich! Alle dreizehn Schutzmänner von Zerbst sind höflich. Sind keine Schutzmannsposten in Berlin frei?
Was mich betrifft, so habe ich, um bei dem feuchten Kapitel zu bleiben, von wegen Brägenwurst und Bitterbier Schulzen gegenüber der Nikolaikirche in Nahrung gesetzt. Nicht ohne Bangen betrat ich das Lokal, das mir ja schon mein Gönner in Güterglück empfohlen hatte. Aber ich bin in wichtigen Dingen vorsichtig, und darum fragte ich vor St. Nikolai einen Mann, der von ungefähr des Wegs daher kam und mir durch seine Nase den Eindruck eines Sachverständigen machte, wo das beste Bitterbier geschenkt werde. „Gut ist's überall“, erwiderte der Mann, ein Handwerker. „Aber... was sind Sie denn?“ Ich sah ihn verblüfft an; auch der Schlächtermeister hatte ja aus diesem Anlaß zunächst nach meinem Stande gefragt! „Warum?“ – „Weil wir hier“, erwiderte dieser immerhin schon gebildete Mann, „Ordnung halten, dafür sind wir berühmt. Die Kaufleute gehen dorthin, die Krämer dorthin, die Schüler dorthin, die Handwerksmeister dorthin, die Gärtner dorthin (er benannte jedesmal das Lokal und wies nach der Himmelsrichtung, wo es lag), und die Richter und Ärzte gehen zu Schulzen.“ – „Wohin gehen denn die Zeitungsschreiber?“ fragte ich. – „Wir haben hier“, erwiderte er, „zwei Zeitungen, die ›Zerbster Extrapost‹ ist amtlich, die ›Zerbster Zeitung‹ ist unabhängig. Ich weiß nicht, wo die Herren kneipen, aber – das kann ich Ihnen sagen – in demselben Lokal gewiß nicht.“ – „Ich bin selbst von diesem Fach“, sagte ich. „Was raten Sie mir?“ Er zuckte die Achseln. „Riskieren Sie's bei Schulzen!“ Ernst schritt er von dannen; ich sah ihm lange nach... Dann riskierte ich's; man hat mich nicht nach dem Stand gefragt. Mein Urteil über die beiden berühmten Zerbster Erzeugnisse aber fasse ich wohlerwogen wie folgt zusammen: Brägenwurst ist gut; Bitterbier ist sehr gut. Brägenwurst will ich gern essen, wenn ich wieder einmal nach Zerbst komme, aber Bitterbier möchte ich auch in Berlin trinken. Ein starkes, nahrhaftes, würziges Bier.
So gestärkt, machte ich einen Spaziergang um die Außenseite der Stadtmauer. Der Stadtgraben ist zum Teil zugeschüttet, ebenso die Wälle teilweise nivelliert. So ist der Raum für stattliche Anlagen gewonnen worden. Der Blick geht hier ins Grüne, dort auf die düstere Mauer mit den ragenden Zinnen. Es ist ein hübscher Spaziergang.
Mitten in diesen Anlagen liegt die Vogelwiese. Das heutige Fest warf dort natürlich schon am Morgen seine Schatten voraus; einige Buden mit Lebkuchen und viele mit Bier und Wurst, eine „dickste und schönste Dame der Welt“, Kraftmesser, Schnellphotographie usw. Aber es war noch nichts fertig, nur die „schönste Dame“ ausgenommen, die es bereits ganz war. Ein wildbärtiger Herr mit märchenhaftem Schmerbauch, den ich anfangs für ihren Konkurrenzriesen hielt, entpuppte sich als Festordner. „Unsere Schützengilde“, sagte er mir stolz, „ist mehr als fünfhundert Jahre alt, und zur Königskette haben sogar russische Zaren beigesteuert, aber wir gehen trotzdem mit der Zeit... Lesen Sie!“ Er reichte mir die heutige „Zerbster Zeitung“ mit dem Abschiedsgedicht des abtretenden Schützenkönigs. Einen ungestümen Fortschritt schien es mir nicht zu beweisen; so schlechte Verse hat man schon vor hundert Jahren gemacht, und die durch Sperrdruck hervorgehobenen Zeilen: „Zum neuen Jahrhundert im neuen Zug / Die Königsfahrt war mir beschieden!“ waren mir sogar nicht verständlich, obwohl „fahrt“ noch obendrein fett gedruckt war. „Aber da steckt's ja eben!“ erwiderte der Zerbster auf meine Frage, „durch fünfhundert Jahre ging der neue König vom Schützenhaus zur ›Deutschen Schenke‹, seit 1900 fährt er per Droschke im Zuge; ist das kein Fortschritt?“ – „Gewiß“, gab ich zu, „besonders, wenn er dick ist.“ – „Er ist dick!“ bestätigte er mit Würde. Sollte mir da am Ende gar das Glück beschieden gewesen sein...?
Auch zum Friedhof bin ich auf dieser Wanderung um die Stadt gekommen; er ist nicht „der schönste in Deutschland“, wie gestern mein wackerer Meister in zerbstischer Geschichte und Topographie meinte, aber allerdings auch sehr hübsch, ein rechter „Totengarten“, mit seinen Alleen und Bosketts, Hecken und Grasplätzen, dem Rondell und Wasserbassin einem Park der Zopfzeit ähnlicher als einem Friedhof. Und das ist erfreulich; den Toten ist's auch in einer Sandwüste wohl, in der sich Kreuz an Kreuz drängt, aber für die Lebenden ist's so tröstlicher. Natürlich ist's nicht der älteste Friedhof der Stadt; die lagen gewiß, wie überall, zuerst um die Kirchen oder doch noch innerhalb der Stadtmauer. Wann dieser hier angelegt ist, konnte ich nicht erfahren; die hübsche blonde Gärtnerstochter, welche die Blumenbeete begoß und leise dazu sang, sagte mir auf meine Frage: „Fünfzig Jahre!“ Aber so einem Guckindiewelt kann selbst ein Friedhof nicht jung genug sein; er ist gewiß mehr als doppelt so alt. Ich bin lange die stillen schattigen Pfade gegangen und habe die Inschriften gelesen; der Mitteilung wert scheint mir nichts darunter. Eines aber verdient Erwähnung, weil es sich zwar nicht hier allein, aber selten findet; große Steintafeln, deren Inschriften keinem einzelnen Toten gelten, sondern dieser ganzen Friedensstätte. Sie atmen den Geist des Rationalismus. Einige habe ich mir notiert: „Tod ist nicht Tod, ist nur Verwandlung sterblicher Natur.“ – „Die Vernunft gibt Hoffnung, die Religion gibt Gewißheit.“ Endlich, was mich zumeist erfreut hat, Schillers Vers: „Im Herzen kündet es laut sich an: / Zu was Besserem sind wir geboren, / Und was die innere Stimme spricht, / Das täuscht die hoffende Seele nicht.“ Ich glaube nicht, daß dieser Vers heute zu gleichem Zweck, nicht als einzelnes Epitaph, sondern gewissermaßen als Bekenntnis der Gemeinde gewählt werden könnte, glaube es von keiner Konfession. Ach, wie herrlich sind wir seit hundert Jahren vorwärts gekommen!
Zum Schluß berichte ich von der einzigen Unterredung, die ich in Zerbst mit einem gebildeten Manne hatte. Er war, glaube ich, Beamter, ich setzte mich auf dieselbe Bank der Anlagen, wo er saß, und begann Zerbst zu rühmen; die Regierung aber tue wohl nicht genug für die Stadt. „Was soll sie noch mehr tun?!“ erwiderte er mit überlegenem Lächeln. „Sie hat die Bahn gebaut, eine Garnison hierhergelegt, ebenso das Haus-, Hof- und Staatsarchiv.“ Das hatte ich nicht gewußt und fragte als Autographenhamster eifrig, ob auch alte Urkunden dort wären. „Oh, sehr alte, aus dem zehnten Jahrhundert!“ Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Wo das Archiv wäre und ob ich diese Urkunden nicht sehen könnte. „Im Schloß ist's. Was ist Ihr Beruf?“ – „Schriftsteller.“ – „Die Besichtigung dürfte kaum möglich sein. Es ist ja ein Geheimarchiv.“ Das sah ich ein; wie leicht konnte ich durch die indiskrete Veröffentlichung einer Urkunde von 940 das ganze Herzogtum in die Luft sprengen... „Was also hätte“, fragte er, „die Regierung Ihres Erachtens noch für Zerbst tun können?“ – „Mancherlei“, meinte ich, „was selbst dem Fremden auffällt. Sie erwähnten vorhin, die Regierung habe die Bahn gebaut. Gewiß, Zerbst ist Bahnstation. Und wer die Linie Magdeburg-Dessau gebaut hat, ob eine Privatgesellschaft, wie ich glaube, oder Ihre Regierung, ist gleichgültig. Denn wer immer bei der Trassierung der Linie auf kostspieligen Umwegen diese Stadt von 18 000 Einwohnern umgangen hätte – der kürzeste und billigste Weg war ja der über Zerbst –, wäre eben ein Narr gewesen. Aber diese Linie wird von der später erbauten Berlin-Wetzlarer, der Kanonenbahn, durchschnitten. Und wo? Nicht in Zerbst, sondern einige Kilometer von der Stadt, in Güterglück, einem Stationshaus auf freiem Felde. Was hätte es für Zerbst bedeutet, wenn es dieser Knotenpunkt geworden, mit Berlin und Thüringen in direkte Verbindung gekommen wäre!“ Er lächelte überlegen: „Die Bahn hat ja Preußen gebaut!“ – „Gewiß! Aber der Bundesstaat Anhalt hätte dem Bundesstaat Preußen sagen müssen: ›Hier handelt sich's um das Schicksal meines Zerbst! Ist's ein Umweg von einem oder zwei Kilometer‹ – und mehr könnt's nicht gewesen sein, das lehrt die Karte –, ›so trage ich die Kosten.‹ Ist das geschehen?“ – Er zuckte die Achseln. „Oh, die Zerbster leben auch so ganz gut! Nein, für Zerbst geschieht viel, namentlich auch durch Verleihung von Hoflieferantentiteln!“ – „Ja“, gab ich zu, „das geschieht. Man kann hier bei zwei Hofbuchhändlern Bücher kaufen, bei einem Hoftraiteur speisen, bei einem Hofweinhändler trinken und so weiter... Kurz, ich habe in einer so kleinen Stadt wirklich, das muß ich sagen, noch nie so viele Hoftitel vertreten gefunden!“ – „Also das geben Sie zu?“ – „Gewiß, aber für meine Meinung scheint mir dies kein Gegenbeweis.“ – „Da bin ich neugierig.“ – „Weil für derlei Titel reichliche Taxen gezahlt werden und ich doch nicht behauptet habe, daß Zerbst die Regierung zu wenig fördert.“ Da empfahl er sich mit einem Abschiedsblick, der nicht etwa bloß „Verruchter!“ bedeutete, nein, dieser Blick bedeutete geradezu: „Sozialdemokrat!“

Nun ist auch die Sonne meines zweiten und letzten Zerbster Tages gesunken. Der Schaffner der Pferdebahn wird bald zur Fahrt nach dem Bahnhof klingeln. Es ist der letzte Zug, der heute noch nach Dessau geht. Fahr ich nur bis Dessau und sehe mir Wörlitz an? Oder gehe ich von Dessau gleich nach Bitterfeld weiter und erreiche den Nachtschnellzug nach Frankfurt? Aber bis diese Pferdebahn mich zum Bahnhof gebracht hat, könnte ich ja über eine Weltreise schlüssig werden, geschweige denn über eine solche Frage...
Zerbst, im August 1901