Abschnitt. 7 - Auch der Sänger und Held der Freiheitskriege Theodor Körner, wohnte in Zerbst.

Vor dem Rathaus stehen zwei Wahrzeichen Zerbsts: der Roland von 1415, also nur elf Jahre jünger als der von Bremen, aber so vortrefflich erhalten wie meines Wissens kein anderer, bekanntlich das Sinnbild der städtischen „Freiheit“ (Gerichtsbarkeit), und die goldene Butterjungfer, die mir schon der Wurstgreis in Güterglück verheißen hatte, eine kaum meterhohe weibliche Figur, die etwas Beckenähnliches im Arm hält, zwar in Wahrheit nur aus Messing, aber wohl noch älter als der Roland und ein Sinnbild – ja wessen? Als ich mir, den Kopf im Nacken, den Feldstecher vor den Augen, das seltsame Ding besah – denn die Butterjungfer ist auf einen Zahnstocher gespießt, eine sehr hohe, sehr dünne, sehr häßliche Holzsäule –, trat ein Schutzmann an mich heran und erläuterte: „Dieses ist eine alte heidnische Göttin, welche bedeutet, daß hier schon damals auf den Märkten eine gute Ordnung war.“ Also eine marktpolizeiliche Göttin. Der Gemüsebauer hingegen meinte: „Diese ist eine Prinzessin, welche immer nur Zerbster Butter gegessen hat, weil es keine bessere auf der Welt gibt.“ Aber ich glaube, hier gilt in Wahrheit das Wort des Herrn Kastellans: „Dieses ist nicht aufgeschrieben.“ Und da selbst Baedeker meint, die Bedeutung sei ungewiß, so ist auch Raum für den Flügelschlag meiner eigenen Hypothese. Ich also glaube, die Butterjungfer ist ein Gedenkzeichen der vermutlich wie überall so auch hier nicht leicht errungenen Markt- und Messefreiheit der Stadt. Solche Gedenkzeichen finden sich wenigstens in süddeutschen alten Städten, wenn auch in anderer Gestalt. Ein drittes uraltes Wahrzeichen, das mir alle zu besichtigen empfahlen, habe ich leider übersehen, aber das ist nicht meine, sondern Hänschens und Ernstchens Schuld. Vor dem Rathaus erwischten sie in mir wieder ihre Augenweide, und teils weil ich die stolze Freude, als Sehenswürdigkeit zu gelten, sonst nie genossen habe, teils weil man das Unabänderliche doch mindestens benützen soll, nahm ich sie als Führer auf, aber die Brüderkreuze haben sie mir nicht gezeigt; vermutlich balgten sie sich eben. Es sollen drei Kreuze an der Stadtmauer sein, wo die bekannten drei feindlichen Brüder begraben liegen, die sich gegenseitig ganz und gar umgebrungen haben. Denn die Sage ist sehr verbreitet, nur der Gegenstand des Streites wechselt; dort ist's ein schönes Weib und anderwärts ein vergrabener Schatz, hier aber nur ein Kümmelbrot. Wenn es doch wenigstens eine Brägenwurst wäre!
An Denkmälern aus neuerer Zeit besitzt die Stadt eine hübsche Erzbüste Moltkes auf granitnem Sockel in der Breiten Straße; das Werk eines mir unbekannt gebliebenen Meisters, dessen sich auch eine weit größere Stadt nicht zu schämen brauchte, nur frappiert das Jugendliche des Kopfs; Moltke und Kaiser Wilhelm gehören ja zu den Gestalten, die sich die Phantasie freiwillig nie jung vorstellt; mit Bismarck ist es anders. Hingegen ist das Kriegerdenkmal von 1872 in den Anlagen nur eben die übliche, mit den Namen der Gefallenen bedeckte Sandsteinsäule; auch die Inschrift: „Den Toten zur Ehre, der Nachwelt zur Lehre“ findet sich nicht hier allein. Schlicht ist auch die Granittafel an einem Haus gegenüber dem Rathaus (Markt 2): „In diesem Hause wohnte der Sänger und Held der Freiheitskriege Theodor Körner * 23. IX. 1791 † 26. VIII. 1813“, aber sie erscheint mir rührend und für den Geist dieser Stadt bezeichnend. Ich habe ja kein Buch hier, in dem ich nachschlagen könnte, aber meines Erinnerns hat Körner nie in Zerbst gelebt; es ist vielleicht kein Zufall, daß das Datum seines Aufenthalts auf der Tafel fehlt; er war wohl nur sehr kurz hier. Aber gleichviel, daß ein Dichter hier war, haben sie nicht vergessen und dankbar geehrt. Man sieht, in Zerbst könnte auch ein Dichter von mittlerem Wuchs eines Denkmals gewiß sein, er brauchte hier nur geboren zu werden, aber, sagt ich schon, es ist bisher kein irgend nennenswerter Poet so schlau gewesen, und der einzige Lyriker, der nach meinen Erfahrungen als Redakteur gegenwärtig hier die Lyra zwickt, verdient kein Denkmal, sondern daß man ihm tue wie er seiner Lyra.
Von den Kirchen der Stadt habe ich nur St. Trinitatis von innen gesehen, aber der Bau (von 1591) lohnt nur äußerlich den Blick, auch dies nicht allzusehr. Das gleiche gilt von der Nikolaikirche, die ein Jahrhundert älter ist; hier aber wäre mir das Innere interessanter gewesen; der Altar ist mit einem schönen Bild aus Dürers Werkstatt geschmückt. Sonderbar genug war auch hier nur der Turm zugänglich; auch hier stellte man mir „die schönste Landschaft“ in Aussicht; auch hier wurde mir der frühere Herr Kreisdirektor als Beispiel vorgehalten; das scheint ja ein sehr rüstiger Beamter von weitem Horizont gewesen zu sein. Aber wenn auch eine Vogelschau immer hübsch ist, so widersteht doch ein erfahrener und wohlbeleibter Mann im Hochsommer leicht der Versuchung, zumal ein solcher Blick nur in einer größeren Stadt zum Verständnis des Stadtbilds unentbehrlich ist. So flüchtete ich lieber in die kühlen Kreuzgänge des alten Barfüßerklosters, wo jetzt das Francisceum, das Gymnasium der Stadt, untergebracht ist, und schwelgte dort nicht bloß in Kühle und architektonischen Freuden – die Kreuzgänge sind wirklich trefflich erhalten –, sondern auch in Jugenderinnerungen; in einer solchen Klosterschule habe ich meine ersten Schülerjahre verbracht. Oh, was waren meine Patres Dominikaner für gestrenge Herren, und auf welchem Umweg suchten sie unsere Geistes- und Herzensbildung zu fördern, denn der Körperteil, auf den sie am emsigsten einwirkten, liegt von Herz und Hirn ziemlich weit ab. Und dennoch, wie ich so durch die ewig dämmerigen Gänge schritt und in die Klassenzimmer guckte – genau solche hatten wir auch –, schien mir diese Zeit die schönste meines Lebens. Es ist doch gut für uns beladene Menschenkinder eingerichtet, daß unserem Gemüt im Rückblick auf die Vergangenheit alle Schatten erbleichen und nur das Sonnige bleibt.
Aber dies tröstliche Gesetz der Menschennatur gilt nicht bloß von der eigenen Vergangenheit, und gewiß steckt darin mit ein Stück des Zaubers, den alte Städte üben. Aber nicht darin allein, wenigstens hier nicht. Man soll große Namen nicht eitel nennen; Nürnberg ist an Kunstschätzen und, soweit das Alte noch vorhanden ist, auch im Straßenbild einzig; Rothenburg wirkt wie ein schöner Traum aus den Tagen der Renaissance, aber auch das verschollene, von niemand besuchte Zerbst bietet in seiner Art Unvergeßliches: das wohlerhaltene, fast durchaus einheitliche Gesamtbild einer Stadt aus einer allerdings weit dürftigeren Zeit, etwa der zwischen dem Beginn des Dreißigjährigen und dem des Siebenjährigen Krieges, aber eben ein Gesamtbild, wie ich wenigstens es noch nirgendwo gesehen habe. Von mancher Zerbster Sehenswürdigkeit habe ich schon erzählt, die größte bleibt doch die Stadt selbst. Schon ein Rundgang um die innere Seite der lückenlos erhaltenen Stadtmauer bringt Bilder von malerischem und noch mehr von kulturhistorischem Reiz; zur einen Hand immer die graue, gewaltige, mit Pfeilern und turmartigen Anbauten besetzte, von Schießscharten unterbrochene Mauer, zur andern Hand freilich hier, am Rande des Weichbilds, nur kleine, dürftige Häuser, aber wenige jünger als zweihundert bis dreihundert Jahre, manches auch nur noch ein mühselig gepflegter, durch ein neues Stelzbein auf den Füßen erhaltener Invalide, manche wieder, als wären sie vor zehn Jahren erbaut. Dieser Reiz aber wächst, wenn man den Straßenzügen folgt, die im Innern von einem Tor zum andern oder zum Marktplatz führen – ich nenne nur die Heide, die Alte Brücke, die Breite Straße, die Kirchgasse, obenan aber steht natürlich als Prachtstück der Markt –, und sich in das Gewirre der Gäßchen dazwischen verliert, wie in der Gegend des Klosterhofs oder der Jüdenstraße. Schon das geruhige Leben und Treiben der Menschen lenkt von der Gegenwart ab; ein Blick in die Werkstätten mit offenstehenden Türen, wo Meister, Gesell und Lehrling behaglich schaffen, der Meister seine Kanne Bitterbier neben sich, der Gesell sein Kännchen, während der Lehrling, um bei der Hitze auch seine Erfrischung zu haben, bald von dem einen, bald von dem andern bei den Ohren erwischt wird – oder ein Lugen in die Wohnstuben, wo Urväterhausrat steht: riesige Schränke, breite behagliche Kommoden, die wie freundliche dicke Tanten anmuten, und Kanapees mit unmöglich hoher und steifer Rückenlehne. Sind aber die Fenster verhangen, so sind sie's mit Filetgardinen, wirklichen, wahrhaftigen, mit der Hand gearbeiteten Filetgardinen; die scheinen jetzt in Zerbst das Modernste; wenn nicht der Leser, so wird doch die Leserin durch dieses einzige Detail daran erinnert sein, wo wir sind. Wo? In einer hübschen friedlichen, freundlichen Mittelstadt um das Jahr des Heils – sagen wir – 1683, als der schlimme Türke die Kaiserstadt Wien berannte, und zwar wohlgemerkt in einer deutschen, echt deutschen Stadt. Und dagegen spricht doch wahrlich auch die Zahl der vielen kleinen Wirtschaften nicht, richtiger die Unzahl, über die noch ein Wort zu sagen sein wird... Aber am meisten reißt doch das Straßenbild, die Bauart der Häuser den Wanderer aus dieser lärmvollen Zeit um zwei Jahrhunderte zurück. Große, monumentale Bauten aus den Tagen der Renaissance und des Zopfstils kann man ja oft genug sehen, sogar gewiß größere und schönere als hier, aber wie damals die Bürgerhäuser aussahen, wie eine Straße und wie eine Stadt, das lehrt uns Zerbst wie sehr wenige Orte in Deutschland. Da findet sich noch ab und zu, etwa ähnlich wie in den alten Ostseestädten, ein Ziegel- oder Fachwerkbau, der als Typus der Gotik in ihrer eigentümlichen Ausbildung für norddeutsche Profanbauten gelten kann, dann aus den Tagen der Renaissance ganze Zeilen von Giebelhäusern; viele mit hohem, den Dachfirst weit überragendem Giebel, einige mit polychromem, leider zumeist verblaßtem Schmuck; endlich Fachwerk, das mit jeder Etage mehr vorneigt oder zurückfliegt. Kurz, man kann mehrere Minuten lang dahinwandeln, ohne aus der Täuschung gerissen zu sein, man sei in Nürnberg oder Rothenburg, bis sich Häuser dazwischenschieben, wie man sie dort nicht findet: Barockbauten, meist hübsch und stattlich, Spuren höfischen Glanzes, kleine Palais, die dem Adel oder einem hohen Ministerio als Wohnstätte dienten, soweit die Herrschaften nicht, wie die Damen an der Schloßfreiheit, durch ihr Hofamt an die nächste Nachbarschaft des Schlosses gebunden waren. Namentlich nachdem die Sonne gesunken war, als alle Fenster sich öffneten, die Bürger vor ihre Häuser traten und miteinander plauderten, ward mir wieder zumut wie einige Stunden zuvor im Schloßpark. Ich horchte absichtlich nicht auf, als ein dicker Mann ärgerlich eine Standrede hielt und andere wieder sich freuten; so konnte ich glauben, der Dicke eifere gegen den türkischen Erbfeind und die anderen jubelten über die Entsetzung Wiens durch den tapferen Sobieski. Der Ärger wird wohl den Agrariern gegolten haben und die Freude dem morgigen Vogelschießen, aber gleichviel, wer hier nicht wenigstens auf Minuten sein 20. Jahrhundert ganz los würde, müßte ein Mensch ohne Phantasie und Stimmungsfähigkeit sein...