Abschnitt. 6 - Dann wäre Zerbst mit den Zollern groß geworden.

Indes, ich möchte den Vergleich zwischen der gewaltigen, verödenden Stadt am Po und unserem lieben, alten, engen Nest an der Nuthe nicht allzuweit ausspannen. Vieles stimmt, aber noch mehr stimmt nicht. Auch Zerbst war einst mehr als heute, durch lange, lange Jahrhunderte mehr als Berlin, aber so viel für Deutschland wie Ferrara für Italien war es niemals. Es ist eine uralte, wie der Name erweist, von den Wenden begründete Siedelung, schon im 10. Jahrhundert ansehnlich, im 12. gewiß bereits eine bedeutende Stadt. Es kam empor, weil ihm zunächst die beiden Mächte hold waren, die das Schicksal einer Stadt bestimmen: die günstige Lage inmitten einer fruchtbaren Ebene am Knotenpunkt wichtiger Straßenzüge und die Art seiner Beherrscher; diese ersten „edlen Herren von Zerbst“ (aus Alsleben) hatten eine starke Hand. Aber wichtiger als die Lage ist die Tüchtigkeit der Fürsten; das hat Berlin zu seinem Besten erfahren und Zerbst zum Gegenteil. Solange über beide (über Zerbst seit 1307) Askanier herrschten, wenn auch aus verschiedenen Zweigen, blieb Berlin dürftig und Zerbst eine stattliche Stadt, die aber doch zu keiner solchen Entwickelung gedieh, wie ihre Anfänge hatten erwarten lassen; es war seit dem 14. Jahrhundert die Residenz eines Zweiges der anhaltinischen Askanier, wuchs langsam, wenn dieser Zweig seinen Besitz durch Erbschaft mehrte, kam ins Stocken, wenn er ihn durch Erbteilung zersplitterte. Ich möchte mich nicht in den unberechtigten Ruf besonderer Gelehrsamkeit in anhaltinischer Geschichte bringen; ich entnehme die Tatsachen einer kleinen Geschichte des Herzogtums, die ich mir gestern hier kaufte, um selbst einigermaßen orientiert zu sein. Der gutgesinnte Verfasser lobt alle Fürsten; immerhin scheinen nach dem, was er von ihnen anführt, diese älteren Zerbster von anderem Schlag gewesen zu sein als die jüngeren des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie waren fromm, hielten Frieden und machten aus ihren Halb- und Ganzwenden Deutsche; erst 1316 wurde in Zerbst die wendische Sprache vor Gericht abgeschafft; aus Klosterschule und Kirche wurde sie erst weit später verbannt. Aber auch unter diesen tüchtigeren Zerbstern war keiner, der über das Mittelmaß an Charakter, Geist und Kraft hinausgereicht hätte. Ich mußte, während ich die ebenso trockene wie servile Geschichtssalbaderei überlas, immer nur an eines denken: Zerbst gehörte kirchlich zu Brandenburg; es hing im Lauf der Zeiten oft genug an einem Haar, daß es auch politisch dazu gehörte – wie hätte sich dann das Schicksal von Berlin und Zerbst gestaltet?! Dann hätten die starken Begründer der Hohenzollernschen Hausmacht an Zerbst gefunden, was sie so dringend brauchten und sich erst an Berlin schaffen mußten, eine größere, stattliche, wohlhabende, relativ kultivierte Stadt als Haupt- und Residenzstadt, dann wäre Zerbst mit den Zollern groß geworden, und dann hätte ich vielleicht meine erste Station auf meiner Flucht aus der qualmenden Riesenstadt an der Nuthe in dem kleinen Kölln an der Spree gemacht. Ich meine das nicht ganz im Ernst, aber doch auch nicht ganz im Spaß; es hätte sehr wohl so kommen können. Das werden nur diejenigen für lächerlich halten, die nicht begreifen, daß das Gewordene einst immer ein Werdendes war und daß ungeheure Schicksale der Städte und Staaten oft durch die winzigsten Fügungen entschieden worden sind.
Nun, Zerbst kam nicht an Brandenburg, und die Zerbster Fürsten waren keine Hohenzollern an Kraft und Kühnheit, und womöglich noch weniger glichen sie den Este, die Ferrara groß gemacht haben, auch im Reiche des Geistes. Daraus ist ihnen aber billigerweise kein Vorwurf zu machen, denn wohl gehört auch Talent zum Mäzenatentum, wie es die Este übten, aber ohne Dichter wie Tasso und Ariost hätte den Fürsten von Ferrara dies Talent nichts genützt. Zerbst hat im geistigen Leben des deutschen Volkes keine größere Rolle gespielt; es stand nur eben brav in Reih und Glied; die Reformation wirkte auch hier anregend, und im einstigen Augustinerkloster, das heute Hospital ist, hat auch Luther gepredigt; die Schulen waren immer tüchtig, aber meines Erinnerns ist kein bedeutenderer Dichtername mit dem dieser Stadt verknüpft, weder durch die Geburt noch durch das Schaffen, und sich Hofpoeten zu halten oder dann, als es wieder eine Literatur in Deutschland gab, mit den Großen des 18. Jahrhunderts Fühlung zu suchen wie der Dessauer Franz, kam den Christian August und Friedrich August nicht in den Sinn. Vom Hofe aber ging damals fast überall und nun erst hier überhaupt nahezu alles aus; darum wird wohl die Zeit von 1570–1586, wo Zerbst die Hauptstadt des ganzen, damals ungeteilten Anhalt war, auch seine Blütezeit gewesen sein. Man lebte vom Hofe oder vom Gemüsebau, von Brägenwurst und Bitterbier, und dann, als es keinen Hof mehr gab, von diesen allein, und gar so viel anders ist es auch heute nicht. Aber man lebte und lebt gut davon; die Stadt macht den Eindruck bescheidener Behäbigkeit. Daß Millionäre hier wohnen, bezweifle ich, aber Bettler habe ich nicht gesehen, und selbst in den ältesten und dürftigsten Vierteln ist alles sauber, was man wahrhaftig nicht oft sagen kann, auch von vielen deutschen Städten nicht, die in der Sonne des Erfolges stehen. Schon dies deutet auf eine gewisse Tüchtigkeit der Bewohner; es stimmt dazu, daß die Stadt jetzt wenigstens aufwärts klimmt. Von den mehr als 100.000 Einwohnern, die Ferrara unter den Este zählte, fehlt heute manches Tausend, ja manches Zehntausend; Zerbst aber wird, nach seinem Umfang zu schließen, einst auch in seinen berühmtesten Zeiten sicherlich nicht mehr Einwohner gehabt haben als 1895, wo es rund 17.000 Seelen zählte; jetzt sind's um etwa 1.000 mehr, die in rund 2.000 Häusern wohnen. (Ich entnehme diese Ziffern dem Zerbster Adreßbuch, dem einzigen zerbstischen Quellenwerk, das ich einsehen konnte. Merkwürdig aber bleibt mir unter diesen Umständen, daß ich in Zerbst keinen einzigen Neubau sah; freilich fand ich auch keine einzige leerstehende Wohnung angekündigt.) Das wären neun Köpfe aufs Haus, und mindestens die Hälfte der Häuser sind recht stattlich; man sieht, hier leben die Leute nicht zusammengepfercht, sondern hübsch geräumig. Nun ist aber noch obendrein in diese Seelen- und Häuserziffer die starke Garnison mit ihren beiden Kasernen inbegriffen; wie mag sich da erst in Wahrheit dies Verhältnis stellen! Freilich ist derlei bloß in sanitärer Beziehung erfreulich, und in der Tat können in Zerbst nur sieben Zivilärzte leben (wäre Brot für mehr, sie wären gewiß zur Stelle); materiell bedeutet es immer das Fehlen des Reichtums, der ja heutzutage ohne größere Betriebe und überfüllte Arbeiterhäuser in einer Stadt nicht mehr denkbar ist. Aber, sagt ich schon, auch die Armut fehlt. „Wir leben“, sagte mir ein wackerer Sattlermeister am Frauentorplatz, „vom Handwerk, von der Wurst, von dem Bier; unsere Gurken sind auf dreißig Meilen berühmt; von unseren Kartoffeln, lieber Herr, müßten Sie eigentlich auch schon gehört haben, und wenn die von Calbe nicht wären, so wären wir auch in Zwiebeln die Größten.“ Auf die von Calbe war er darum fast ebenso schlecht zu sprechen wie auf die Dessauer, und als ich darüber erstaunt war, da ihn als Sattler doch die Zwiebeln nichts angingen, erwiderte er: „Aber unser Zerbst geht mich an; es ist doch wegen der Stadt!“ Und dies lenkt mich auf den Punkt, wo die Tüchtigkeit der Zerbster am stärksten zutage tritt: ihren Gemeinsinn, ihre werktätige opferfreudige Pietät. Wie wahren diese Handwerker und Gemüsebauer die alten Zierden ihres Weichbildes, wie eifrig sind sie nach ihren bescheidenen Mitteln darauf aus, neuen Schmuck hinzuzufügen, und vor allem, wie pflegt hier jeder sein eigenes Haus. Derlei trifft man äußerst selten, auch auf hundert Meilen in der Runde nicht; das glaube man einem, der auf seinen Vortrags- und Erholungsreisen immerhin an die zweihundert deutsche Städte gesehen hat.
Schon ein so stattliches, schönes, prächtig erhaltenes Rathaus haben sehr wenige Klein- und Mittelstädte Deutschlands. Wie eine rechte deutsche Bürgerburg, wie ein Wahrzeichen, daß diese Stadt, vom Schicksal an Stillstand und Niederlage eines schwächlichen Fürstengeschlechts gekettet, immer auch eigene Kraft besaß, blinkt es dem Beschauer entgegen, gewaltig hoch und tief und gewaltig breit, eine ganze Seite des großen Häuserrechtecks, des Marktes, ausfüllend, aber bei aller Massigkeit zugleich schön, weil fein und gefällig gegliedert. Es ist an achthundert Jahre alt, aber in währendem Zeitenlauf immer wieder umgestaltet, erweitert, nach Zerstörungen durch Feuersbrunst wiederhergestellt worden, zuletzt erst 1892, als im Jahre zuvor ein Brand den Hintertrakt nach der Nikolaikirche zu vernichtete. Also wahrlich kein einheitlicher Bau, im Gegenteil fast eine Musterkarte deutscher Baustile, und dennoch schön. Denn die Zerbster haben Glück gehabt, sie fanden immer Baumeister, die alt und neu trefflich zu verschmelzen wußten. Aber „Glück“? – nein! Die Zerbster haben ein prächtiges Rathaus, weil ihnen dafür gute Meister und gutes Material nie zu teuer waren. Von dem ältesten Teil, aus dem 12. Jahrhundert, sind nur am linken Seitentrakt Reste zu gewahren, plumpes, zyklopisches Mauerwerk, wie hier am Glockenturm oder an den Regensburger „Streittürmen“. Der eigentliche Bau stammt im Kern aus dem 15. Jahrhundert (um 1480), wurde aber zu Beginn des 17. (1616) umgestaltet, namentlich die dreigiebelige Fassade, ein schönes Stück deutscher Renaissance. Einzelnes an dem Bau mahnt noch heute daran, daß er ursprünglich in deutscher Backsteingotik hergestellt war; die Rückseite, der neue Trakt, zeigt wieder starke Anklänge an den gotischen Stil in seiner modernen Prägung. Diese bewegte Baugeschichte tut, wiederhole ich, der Gesamtwirkung keinen Abbruch; zudem ist ja die Fassade ganz einheitlich.