Abschnitt. 5 - die Sorge um die Zukunft in der Erhaltung der Vergangenheit.

Indes, auch ohne Baedeker hätte ich mir sagen können, daß diese Sammlung sicherlich das meiste enthält, was an derlei liebem, verstaubtem Kram überhaupt noch in der uralten Stadt zu finden war, daß sie sorglich behütet und musterhaft verwaltet wird. Denn sie ist der Stolz aller, und was mir begegnete, als ich mich um den Zutritt mühte, verdient erzählt zu werden, weil ich meine, man kann es nicht in vielen deutschen Städten erleben. Als ich betrübt vor der verschlossenen Türe im Korridor des Rathauses stand, kam ein Schutzmann vorbei und belehrte mich aus freien Stücken, die Sammlung sei nur wochentags 9–12 zu sehen. „Also kommen Sie übermorgen, Montag, wieder. Aber ganz gewiß! Es sind so schöne Sachen drin!“ Das könnte ich leider nicht, erwiderte ich, ich müßte schon morgen abend fort. „Oh“, sagte er, „das wäre ja jammerschade, da muß es Ihnen noch heute gezeigt werden. Kommen Sie mit auf die Polizeistube; vielleicht wissen die Kameraden Rat.“ Er führte mich auf die Stube, die gleichfalls im Rathaus liegt, und trat mit den drei Wachleuten, die dort saßen, zu einem Kriegsrat zusammen. Darüber waren alle einig: „Das muß der Herr sehen!“ – aber wie? Die einen rieten mir, den Archivar in seiner Wohnung aufzusuchen, „es wird ihm gewiß nur eine Freude sein, mit Ihnen wieder herzukommen“; die andern schlugen vor, beim Herrn Stadtrat anzufragen, ob er nicht vielleicht auch einen Schlüssel habe. Er hatte keinen, ermunterte mich aber auf das liebenswürdigste, den Archivar darum zu ersuchen. Auch gab er mir einen Schutzmann mit, der mir den Weg erklären sollte. Und dies alles, ohne daß ich meinen Stand und Namen genannt hätte! Aber was nun kommt, ist das hübscheste. Als mir der Schutzmann an der nächsten Straßenecke den Weg zum Archivar zeigte, kam ein ältlicher Mann vorbei, eine Gemüsebutte auf dem Rücken, blieb stehen und erbot sich dann, mich hinzuführen; es sei für ihn nur ein kleiner Umweg. Ich nahm zögernd an; bei der Hitze, die Butte auf dem Rücken, sei schon dies eine große Mühe. „Tut nichts“, erwiderte er. „Als Fremder geht man ja wie ein verlaufenes Schaf durch die Stadt, sieht und hört nichts, das weiß ich, ich war schon selbst in Magdeburg. Dort habe ich freilich nichts dabei verloren, aber unser Zerbst ist ja die schönste und älteste Stadt weit und breit.“ Er war ein Gemüsebauer vom Ankuhn, wie das Stadtviertel der Gärtner heißt, und muß wohl tatsächlich wiederholt im Museum gewesen sein, denn er wußte annähernd Bescheid, natürlich in seiner Art; er sprach von der „luftigen Bibel“, der „schönsten der Welt“, und ließ seinen seligen Mitbürger Peter Becker die Stadtchronik bereits „vor zweitausend Jahren“ abgefaßt haben. Über Katharina II. äußerte er sich leider mit einer Anspielung auf die beiden großen Kasernen der Stadt in höchst despektierlicher Weise. „Was geht sie uns an?! Zerbst hat einmal eine große Insel im Meer gehabt, die hat sie verkauft!“ Seltsam, so lebt im Volk die Tatsache fort, daß die Zerbster Fürsten einst auch durch Erbschaft die Herrschaft Jever besaßen, die dann als Kunkellehen an Katharina fiel; freilich hat nicht sie, sondern erst Alexander I. das Ländchen (ich glaube an Holland) verhandelt. Um so wärmer sprach der Mann von seiner Vaterstadt. „Wir können uns vor jedem sehen lassen, und gar mit den Dessauern nehmen wir's noch lange auf! Und die haben doch den Hof und die reichen Leute, und wir stehen im Winkel!“ Überhaupt klang der eifersüchtige Groll gegen Dessau in den Reden aller Zerbster, die ich sprach, deutlich durch; vor mehr als hundert Jahren hat die ältere Residenz zugunsten der jüngeren abdanken müssen, und noch ist's unvergessen – oh, in Zerbst vergißt man überhaupt nicht. Als wir vor dem Wohnhaus des Archivars standen, faßte ich mir ein Herz und fragte den Mann, ob er nicht ein Glas Bier auf das Wohl seiner Stadt trinken wolle. Er lehnte entschieden, aber liebenswürdig ab. „Das geschieht schon auch, wenn ich's selbst bezahle. Nein, nicht deshalb habe ich's getan, sondern weil ich will, daß Sie wissen, was unser Zerbst ist. Der Herr Dr. Siebert ist ein Studierter, der kann Ihnen alles erklären.“ Der Archivar war leider nicht zu Hause; ich mußte auf das Museum endgiltig verzichten... Aber wie merkwürdig ist dies alles! Man denke: einige Schutzleute und ein Gemüsebauer mit der Butte auf dem Rücken! Ist andern derlei schon oft in Deutschland begegnet? Mir hierzulande nicht, wohl aber in Italien, zum Beispiel ganz ähnliches in Ferrara.
Vielleicht ist dies kein Zufall; ein gewisser Parallelismus läßt sich ja in Geschick und Physiognomie beider Städte nachweisen. Hier wie dort ein riesiges, nun längst verödetes Residenzschloß; hier wie dort eine uralte Stadt, in der einem auf Schritt und Tritt die Spuren längst erblichenen höfischen Glanzes, wenn auch nun arg verstaubt, ins Auge fallen; hier wie dort eine leidenschaftliche, eifersüchtige Liebe zur ehrwürdigen Heimatstadt. Und hier wie dort hat diese starke Empfindung dieselben Wurzeln: im Gebildeten den bewußten, im Mann der Brägenwurst und des Gemüses den instinktiven Stolz auf eine uralte Kultur, gepaart mit der schmerzlichen, aber nicht abzuweisenden Erkenntnis, daß die Gegenwart leider nicht so schön ist wie die Vergangenheit oder doch mindestens gewiß nicht schön genug, um über ihr die Vergangenheit zu vergessen. Gewiß, für jeden Menschen, der diesen Namen verdient, ist die Heimatstadt mehr als ein Haufe Häuser, in dem er mit vielen anderen haust; er liebt sie, auch wenn es eine ganz junge Mittelstadt ist oder eine alte, nun aber mit ungeheurer Raschheit zur Riesin emporgewachsene Großstadt. Aber die Liebe ist eine andere, eine minder starke, als die in „verschollenen Fürstenstädten“ ihren stillen, verklärenden Zauber übt. Schon aus einem äußeren Grunde: in solchen alten Städten, mögen sie nun zurückgehen oder stillstehen oder nur ganz langsam vorwärts kommen, ändert sich im Laufe eines Menschenlebens wenig oder nichts; der Blick des Greises sieht genau dieselben Türme, Mauern und Fassaden wie einst der des Knaben; wie anders spricht ein solches Stadtbild zum Gemüt seiner Bewohner, um wieviel inniger verwächst es mit ihrem eigenen tiefsten Leben als an Orten, wo alles neu ist und das Alte kaum noch zu erkennen! Es ist unmöglich, daß der Kattowitzer oder Oberhausener dasselbe für seine Heimatstadt empfindet wie der Zerbster, und dem Berliner oder Leipziger ist dies auch nicht möglich. Aber, wird man mir einwenden, Liebe zur Vaterstadt bedeutet doch nicht allein Pietät für ihre Vergangenheit; mindestens gleich schön oder noch schöner erweist sie sich im rüstigen Erschaffen einer besseren Zukunft, und neben der sentimentalen Liebe, die das Tote erhalten möchte, gibt es gottlob auch eine fröhliche, die neues Leben schafft. Ja, erwidere ich, gottlob, die gibt es. Wie aber, wo es mit dem Erschaffen des Neuen nur langsam vorwärts geht wie in Zerbst oder gar nicht wie in Ferrara? Da erschöpft sich eben die Sorge um die Zukunft in der Erhaltung der Vergangenheit; ist nicht viel neuer Glanz zu gewinnen, so soll doch der alte nicht verbleichen. Und inniger als die fröhliche ist die leidvolle Liebe, das gilt nicht bloß von der Liebe der Menschen zueinander, sondern auch von der zu ihrer Heimat. Wer dies recht erkennen will, gehe nach Städten wie Ferrara oder Zerbst; der Besuch wird ihn, und sei er noch so sehr für die „fröhliche Liebe“, nachdenklich stimmen und nicht schlechter noch oberflächlicher machen.