Abschnitt. 4 - Katharina II. mit Willen und Genie, aus der Puppenstube zur Alleinherrscherin.

Gleichwohl haben mich diese Porträts noch mehr interessiert als die Einrichtung; es sind die Zerbster Herren von dem Begründer der Linie, Rudolf (1603), bis zu dem letzten Fürsten, Friedrich August; nicht ganz zwei Jahrhunderte hat die Linie geblüht, was man so blühen nennt... Nicht um ihrer selbst willen interessierten sie mich samt ihren Ehehälften, sondern ihres größten Sprossen wegen, Katharina II. Sie ist in jeder Hinsicht ein Phänomen, auch in psychologischer und physiologischer. Als sechzehnjähriges Kind aus der Puppenstube zur Gattin des unheimlichen Erben eines Riesenreichs erwählt, wird sie unter Verhältnissen, die auch die stärkste Natur hätten brechen können, einzig durch ihren Willen und ihr Genie in jungen Jahren die Alleinherrscherin, ja das Schicksal dieses größten Staates der Erde, die genialste Fürstin und das verderbteste Weib ihrer, vielleicht aller Zeiten. Nur die Meteore fallen vom Himmel; die Menschen aber entwickeln nur die Keime, die in sie gelegt sind – woher hatte sie dies alles, die riesigen Vorzüge und die gigantischen Laster? Um darauf vielleicht eine Antwort zu finden, war ich schon vor langen Jahren, noch in Wien, durch ein Gespräch mit Billroth angeregt, der Geschichte der Zerbster ein wenig nachgegangen. Man weiß – denn es ist seither auch durch seine Briefe bekannt geworden –, der große Chirurg war ein leidenschaftlicher Verfechter des Axioms: „Auch in die Geistesaristokratie kommt man nur durch Vererbung hinein.“ Es klang plausibel, aber ich konnte doch nicht beistimmen; der Ausnahmen schienen mir gar zu viele; unter anderen hielt ich ihm Katharina II. vor. Sie war gewiß die größte Geistesaristokratin ihrer Zeit – woher hatte sie es nun? „Suchen Sie nur“, meinte er, „es muß auch da zu finden sein.“ Ich fand es nicht; weder Vater noch Mutter bedeutende Menschen; der ganze Zweig schwächlich; auch geistig, wie ihrem Ländchen nach, richtige Duodezfürsten. Während der Hauptzweig eine Prachtgestalt wie den Alten Dessauer, einen feinen Kopf wie den Freund der Dichter und Denker seiner Zeit, den Fürsten Franz, aufzuweisen hat, ist der relativ bedeutendste Mann dieser Nebenlinie nur eben der Vater Katharinas II., Christian August, denn er war doch preußischer Generalmajor und tat zum mindesten seinen Gamaschendienst; die anderen taten überhaupt nichts. Nein, von ihren Vorfahren hat die große Kaiserin ihr Genie nicht geerbt; das fand ich auch durch diese Porträtreihe bestätigt. Aber wie ich so die Herren in gesticktem Rock und Allongeperücke – nur Christian August trägt den Küraß –, die Damen im Reifrock und mit gepudertem Haar musterte, da ward mir klar, daß Katharina doch allerdings etwas von ihnen geerbt hat, den Keim zum Laster. Von dem Begründer bis zum letzten tragen sie sämtlich im Antlitz alle Zeichen ungebändigter Sinnlichkeit, welche die Physiognomik verzeichnet: die halbgeöffneten starken Lippen, die geblähten Nüstern, das weiche, unenergische Kinn, das für die Zerbster so charakteristisch ist wie für die Wettinerin ihrer glorreichen Zeit das vorspringende harte Keilkinn. Freilich trieben's die Zerbster vielleicht nur ein wenig schlimmer als die anderen Fürsten ihrer Zeit; ins Ungeheuerliche wächst sich auch dieser Zug erst in Katharina aus.
Natürlich interessierten mich ihre Porträts am meisten. Es sind deren zwei hier. Ein Jugendbildnis, wohl noch aus der Stettiner Zeit, etwa im Alter, da sie urplötzlich auf Veranlassung Friedrich des Großen die Braut des Mannes wurde, den sie siebzehn Jahre später morden ließ; ein hübsches, fröhliches Backfischchen, im Antlitz freilich auch, nur das Kinn abgerechnet, jene Zeichen ihres Geschlechts; alles, auch Stirne und Nase, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. „Nett, aber ein Racker“, könnte man den Eindruck trivial, aber bezeichnend zusammenfassen. Das andere ein Bild aus ihren alten Tagen, wenige Jahre vor jenem Novembertag von 1796, da sie jählings dahinschied, trotz ihrer 67 Jahre noch nicht einmal der Liebe satt, geschweige denn des Herrschens. Sichtlich ein überaus und zudem ungeschickt geschmeicheltes Bild; die Unförmlichkeit der Gestalt, die Unheimlichkeit der durchwühlten Züge, von denen die Zeitgenossen berichten, sind fast verwischt, aber ebenso der Ausdruck geistiger Größe, den sie ehrfurchtsvoll verzeichnen.
Sonst hält ihr Andenken hier nur die Wiege fest, in die sie 1729 zu Stettin gelegt wurde; eine schmucklose Wiege aus schwarzlackiertem Holz; der Herr Generalmajor waren damals recht knapp gestellt... Aber der Schlächter in Güterglück hatte mir ja außer der Wiege „so Zeugs“ versprochen. Diese anderen Andenken an die Kaiserin, belehrte mich der Herr Kastellan, seien im städtischen Museum zu finden.
Schon wollte ich aufbrechen, in dem angenehmen Bewußtsein, mir durch mein andächtiges Zuhören und die Unterlassung vorwitziger Fragen nach dem, was „nicht aufgeschrieben“ war, das Wohlwollen des würdevollen Mannes erworben zu haben, als er mich noch zurückhielt, mir seine schönste Geschichte zu erzählen, und dabei hätte ich es fast mit ihm verdorben. Ich hatte schon vorher fünf Porträts gesehen: Friedrich August, den letzten Zerbster, ein dürftiges, verlebtes Männchen, das gar nichts mehr fertig brachte, nicht einmal die Fortdauer seines Geschlechts; seine Mutter, eine alte Frau mit auffallend harten, ja megärenhaften Zügen; zwei Bilder seiner ersten Gemahlin, einer hübschen sanften Dame, und zwar ein Jugendbildnis in einem rosa Kleide und ein späteres, das sie als noch jugendliche, aber gereiftere Schönheit in einem graugrünen Kleide zeigt, endlich ein Porträt seiner zweiten Gemahlin, die ihn lange überlebt hat. „Denn“, sagte der Herr Kastellan, „mit Friedrich August ist es nämlich so, daß seine erste Frau vor ihm starb und die zweite nach ihm.“ Und dann erzählte er mir, die Fürstin-Mutter habe die erste Frau durch das rosa Kleid vergiftet: „Es war ein in Paris angefertigtes Giftkleid, dessen sich diese böse Schwiegermutter, indem sie es ihr nämlich schenkte, bediente, und dieses rosa Giftkleid sehen Sie hier abgemalt.“ – „Herr Kastellan“, sagte ich bescheiden, aber fest, „das kann ich nicht glauben.“ Er runzelte finster die Stirne. „Ich glaube“, fuhr ich begütigend fort, „daß die erste Frau vor ihm gestorben ist und die zweite nach ihm. Ich glaube auch, daß die böse Schwiegermutter die erste Frau vergiftet hat, aber nicht durch das rosa Kleid. Denn sonst hätte sich ja die Unglückliche nicht mehrere Jahre später im grünen Kleide malen lassen können. Ein so langsam wirkendes Gift gibt es ja nicht einmal in Paris!“ Er schüttelte grollend das Haupt. „Dieses ist aufgeschrieben.“ – „Dann will ich glauben“, gab ich noch weiter nach, „daß die Ärmste wirklich durch irgendein rosa Giftkleid gestorben ist, aber es war dann nicht dasselbe rosa Kleid, in dem sie gemalt ist.“ – „Es war dasselbe“, sagte er wuchtig. „Dieses ist aufgeschrieben.“ – „So will ich denn alles glauben“, beteuerte ich, aber sein Antlitz erhellte sich erst beim Händedruck, mit dem ich von ihm Abschied nahm.
Vom Schloß ging ich wieder zum Markt zurück; das städtische Museum ist im Rathaus. Leider war es geschlossen; ich habe es nicht gesehen. Sonst ein leichtfertiger Mensch, der lange nicht allen Sternen des Reisebuchs nachläuft und immer im stillen die armen Reisekulis bemitleidet, die unter dem Zwang ihrer Halb- oder Viertelbildungspflichten von einer Sehenswürdigkeit zur anderen keuchen, bedaure ich doch diesen Entgang wirklich. Schon um der Notiz willen, die der sonst bezüglich Zerbst so schweigsame Baedeker darüber gibt. Alte Drucke sind mir eine Freude; hier hätte ich ein Prachtstück sehen können: eine von Hans Lufft 1541 auf Pergament gedruckte Bibel, deren Holzschnitte kein Geringerer als Lucas Cranach der Jüngere ausgemalt hat. Noch lieber blättere ich in der vergilbten Handschrift einer Stadtchronik; hier ist eine Zerbster Chronik von 1451. Am allerliebsten aber sind mir schöne Autographen, deren hier gleichfalls aufbewahrt werden, namentlich von Humanisten und Reformatoren; ich habe, obwohl nur ein deutscher Schriftsteller, selbst manches hübsche Stück dieser Art im Kasten; darum kann ich ihrer nicht genug sehen, und – um mein schwarzes Herz ganz zu enthüllen – mit ungetrübter Freude sehe ich sie nur in öffentlichen Sammlungen an. Denn alle Sammlerei verdirbt den Charakter. Ich bin nicht ganz so schlimm wie ein verstorbener König unserer stillen Zunft, der sonst so weiche, romantische General von Radowitz, der in einem launigen Brief schreibt, er bemerke mit Vergnügen, daß sich sein Sammelgenosse X immer mehr dem stillen Suff ergebe; das lasse auf ein baldiges Delirium tremens und eine fröhliche Auktion der Sammlung hoffen. Nein, so schlimm bin ich nicht, aber schöne Briefe von Luther und Melanchthon sehe ich lieber in einem Museum an als bei einem reichen Banausen, der sie nicht einmal flüssig lesen kann.