Abschnitt. 3 - Das Zerbster Schloß, ein verwunschenes Märchenschloß?

Ein unregelmäßiger Platz, in den die neuerbaute Schloßwache störend hineinschneidet; auch von den älteren Häusern einige nüchtern – und doch, läge dieser Platz nicht in Zerbst, wie oft wäre er schon gemalt und nun gar photographiert! Denn hier stehen auch einige Bauten im reichsten französischen Barock, wie man sie schöner, ja nur gleich schön selten finden wird. Namentlich zwei kleine einstöckige Palais dicht am Park sind geradezu entzückend, von den schönsten, zierlichsten Verhältnissen; und alles, alles, vom First bis zur Schmucklinie des Erdgeschosses, und Fenster und Fenstergitter und Türen und Schlösser und nun gar die Friese und Kartuschen von demselben Geist feiner, fröhlicher, überquellender Üppigkeit erfüllt. So um 1700 mögen sie erbaut worden sein, von wem weiß ich nicht, aber für wen wag ich zu erraten: das Schloß liegt ja dicht daneben; dort hauste Serenissimus mit Serenissima, hier aber seine Herrin – warum sollten wir immer Mätresse sagen? Ein schweres, blondes Edelfräulein des eigenen Landes oder eine kleine, pikante, braunäugige Französin oder eine italienische Sängerin mit schwarzen Glutaugen. Aber es sind ja zwei solcher Häuser, wird man mir einwenden. Oh, das stößt meine Hypothese noch lange nicht um; die Zerbster Fürsten waren sehr, sehr lustige Herren...
Nun zum Schloß. Ein stolzer Bau, dem Mitteltrakt schließen sich rechtwinklig zwei langgestreckte Flügel an, so daß der Schloßhof ein nur nach dem Park offenes Rechteck bildet. Gleichfalls Barock, aber mit stärkerer Betonung antikisierender Formen als an den Schmuckstücken der Schloßfreiheit; stammt das Schloß von demselben Meister wie diese, so war er für die kleinere Aufgabe begabter. Immerhin ein stattlicher Bau; wir haben in Deutschland schönere Schlösser aus derselben Zeit, aber kaum eines, das imponierender wirkte. Wenigstens auf mich übte es diesen Eindruck, wie es so plötzlich in der Stille und Öde des verwilderten Gartens vor mir stand. Ich setzte mich auf eine Bank am Rand des Parks und schaute hin und schaute. Mir wurde ganz märchenhaft zumut... Das verwunschene Schloß; kein Laut, keine Spur der Menschen; nur die Mücken zirpen im Grase, und um den Turm kreist langsam eine Schwalbe in der heißen, schweren Luft... Hin und wieder blitzt es in einer Ecke des Schloßhofs, die Sonne spiegelt sich in etwas Glänzendem, das kommt und geht, was mag das sein?... Aber nun ist's verschwunden, und auch die Schwalbe sehe ich nicht mehr, und alles ist stumm und schläft und träumt, das stolze Schloß und all die Menschen, die darin hausen, und ich selbst träume... Von fern klingt der Schlag einer Turmuhr herüber und ertrinkt in der Stille; ich zähle: drei Uhr – die Schloßuhr aber weist auf zwölf. Mittag war's, da einst der Zauber gesprochen ward und alles in Schlummer verfiel: Serenissimus, der sich eben nach dem Dejeuner zum Gang in das kleine lustige Palais rüstete, und Serenissima, die sich die Schminke neu auflegen ließ, und der Erbprinz, als er im Schweiß seines Angesichts die „Phädra“ übersetzte, und der Kammerjunker, als er das Hoffräulein auf das Schminkpflästerchen der linken Schulter küßte, und der Hofprediger über der Postille, der Gardist in der Wachstube, der Koch am Bratofen und die Lakaien jeder am Platze, wo sie sich gähnend herumgedrückt hatten. Ist aber die Zeit um und der Zauber gebrochen, dann geht Serenissimus quer über den Rasenplatz zu seiner Holden, und Serenissima blickt ihm seufzend nach oder läßt vielleicht im Gegenteil den hübschen Abenteurer, der jüngst aus Paris an den Hof gekommen ist, seine Fortune zu machen, zur Audienz befehlen, und das Leben rollt weiter, das lustige üppige Leben eines kleinen deutschen Hofes um 1700...
„O du Ochse!“ Ich fuhr empor. Zehn Schritte hinter mir vertrieben sich Hänschen und Ernstchen die Zeit mit Balgen und landesüblichen Kosenamen. Da war ich wieder ganz wach. Nein, dacht ich, sie schlafen nicht, sie sind tot, ganz tot, und das ist gut. Denn ihr lustiges, üppiges Leben war doch mit zuviel Blut und Tränen ihrer Untertanen bezahlt. Nun aber wollen wir sehen, wie sie gehaust und wie sie ausgeschaut haben. Ich stand auf und ging dem Schlosse zu.
Nun sah ich auch, woher das Blinken rührte, das vorhin gekommen und gegangen war: von der Pickelhaube des Soldaten, der hier Wache hielt. Es war der einzige Mensch auf dem Schloßhof, auch alle Fenster und Türen geschlossen. Einen Wachtposten darf man nicht ansprechen, und er darf nicht antworten, aber laut mit sich selbst reden darf der Mensch, und mit den Augen winken darf der Soldat. Und so sagte ich sehr vernehmlich vor mich hin: „Wo soll ich nun den Kastellan suchen?“, und der brave Anhaltiner lächelte und wies mit den Augen nach dem linken Flügel. Dort traf ich den Mann.
Der Kastellan – aber es schickt sich und ist im vorliegenden Falle wirklich das einzig Richtige, wenn ich „der Herr Kastellan“ sage, denn in diesem Manne ist viel Wissen und Würde – hat sich redliche Mühe mit mir gegeben und mich lange, sehr lange treppauf, treppab von Saal zu Saal geführt und dabei unablässig auf mich los erklärt; freilich, allzuviel Besuch hat er ja nicht, und was man auswendig gelernt hat, will man doch auch gern mal aufsagen. Die Mühe war auch nicht vertan, es hat mich fast alles interessiert, nur war ich in vielem anderer Meinung als er. Mehr als manche andere abgedankte Residenz macht dies Schloß den Eindruck eines kalten, verstäubten Raritätenmuseums, nicht eines Hauses, durch das lange volles warmes Leben pulsierte, dessen Hauch man auch heute noch empfinden muß. War doch auch seine Glanzzeit kürzer als seine Bauzeit; 1681 begonnen, wurde es erst 1750, also nach 69 Jahren, vollendet – warum es so lange währte, von welchem Baumeister der Plan herrührt, konnte mir der Herr Kastellan nicht sagen: „Dieses ist nicht aufgeschrieben“ –, und dann blieb es nur noch 43 Jahre bewohnt, schon 1793 starb der Mannesstamm der Zerbster Linie aus. Vier Jahre später kamen Schloß und Stadt in den Dessauer Zweig; die Herzoge von Anhalt kamen und kommen selten. Kein Wunder, in dieser ewig langen Reihe von Prunksälen, durch kein Kabinett, keinen mittelgroßen Wohnraum unterbrochen, muß sich's unbehaglich hausen lassen. Dagegen nützen die kostbarsten Möbel im Geschmack Louis' XV., die kuriosesten Spielwerke, Rokoko-Nippes und eingelegten Schränke, die teuersten Teppiche und Gobelins nichts, auch wenn sie sämtlich sehr hübsch wären, was man nicht sagen kann. Die Zerbster Herren haben sich's bei der Einrichtung mehr Geld als Geschmack kosten lassen; jeder, wie er kann. Dem Herrn Kastellan, oder richtiger, dem Verfasser der von ihm vorgetragenen Erklärung, ist freilich alles herrlich und vieles unvergleichlich; ich hütete mich gestern wohl, zu widersprechen; heute aber möchte ich sagen: Wer sich für derlei Dinge interessiert, wird schon deshalb den Besuch in Zerbst lohnend finden; handelt es sich doch um eine Zeit, wo fast jedes kunstgewerbliche Erzeugnis ein Unikum war. Und man findet solche Unika anderswo nicht kostbarer, wenn auch geschmackvoller. Die Zerbster haben ihr Schloß eingerichtet wie heute nur noch ein ganz rüder Parvenü seine Wohnung; sie rafften das Teuerste von dem zusammen, was zu ihrer Zeit erzeugt wurde. Kein Stück aus dem Mittelalter, kaum eines aus dem 16. Jahrhundert. Nirgendwo eine Statue, eine Landschaft, eine Historie; die Bilder fast nur Familienporträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert und fast sämtlich von recht geringem Kunstwert.