Abschnitt. 2 - In Zerbst lebt man behaglich. - Vom Nutzen der Baedeker Reiseführer.

Die Wahrheit zu sagen, der Anfang war nicht ermutigend. Außer mir stieg niemand aus, und als ich aus dem Bahnhof trat, lag in der prallen Sonnenglut ein von grünen Büschen umrahmter kleiner Platz vor mir; in der Ferne tauchten hinter dem Buschwerk Häuser auf, und etwas näher, in einer Ecke des Platzes, stand ein kleiner Pferdebahnwagen mit einem Roß davor, das melancholisch in der grausamen Hitze Schwanz und Ohren hängen ließ. Aber ein Kutscher war weit und breit nicht zu sehen. Minute um Minute verstrich, rings kein Laut, nur heiße, brütende Stille. Das war ja nun allerdings eine Sehenswürdigkeit, diese Pferdebahn.
Aber dann kam Leben in die Sache. Aus der Bahnhofswirtschaft trat der Kutscher, wischte sich den Mund und fragte: „Machen Sie vielleicht mit hinein? Dann geht's los!“ Er schaffte mein Gepäck in den Wagen, und nun ging's wirklich los, aber sachte; ohne jede Übereilung rollten wir der Stadt zu. Zunächst breite, gerade Straßen mit kleinen, modernen, freundlichen Villenhäusern; dann jenseit eines kleinen Brückleins, unter dem ein Bächlein dahinschlich, eine hohe, graue Mauer. Aber sieh – jählings, als wär's nicht mehr dieselbe Stadt, rücken nun die Häuser enger zusammen, daß das Wägelchen fast den ganzen kleinen Raum zwischen den Bürgersteigen einnimmt, und diese Häuser sind alte heimelige Giebelhäuser, und die Leute rechts und links bleiben stehen und gucken neugierig den Fremden an. Nun gar ein Prachtstück: ein uralter, riesiger, freistehender Glockenturm, dann immer stattlichere Häuser aus dem 16., höchstens 17. Jahrhundert. Endlich aber als Schönstes der Marktplatz: das prächtige, dreigiebelige Rathaus mit der Rolandsäule davor, aber auch sonst fast jedes Haus mit einem Wahrzeichen geschmückt und selbst ein stattliches, wohlerhaltenes Wahrzeichen deutscher Baukunst. „Ja“, sagte der Kutscher stolz, „unser Markt!“ Dann begann er sachte mein Gepäck auf das glühende Pflaster abzuladen; flachshaarige Buben und Mädel schlichen neugierig herbei; einige von ihnen teilten sich in mein Gepäck, und hinter ihnen her wandelte ich langsam über den schönen Platz meinem Gasthof zu. Es lohnt sich zuweilen, dachte ich im stillen, wenn man unterwegs mit alten Schlächtermeistern redet; aber warum bedurfte es erst dieses Zufalls? Seltsam, diese Stadt und dieser Verkehr!
Das war gestern mittag mein erster Eindruck, und heute nachmittags wo ich aus meiner kühlen Stube in dem wohnlichen alten Hause den schönen Platz nochmals übersehe und mich all des Behaglichen und Sehenswerten erinnere, das mir dieser Aufenthalt gebracht hat, kann ich auch nur ähnliches sagen. Ich weiß ja nun: es gibt in Zerbst große Pferde- und andere Märkte, und im Frühling und Herbst kommen die Herren Kommis mit den neuen Mustern und den alten Anekdoten, auch sollen sich die Guts- und Fabrikbesitzer der Nachbarschaft hier oft gütlich tun. Und nicht immer ist's so heiß, daß zur Pferdebahn der Kutscher fehlt. Kurz, ich will meine Erfahrung nicht verallgemeinern, aber warum kommen so wenige nur ihres Pläsiers wegen?
Ja warum? Zerbst ist kein blendendes, bewunderungswürdiges Schaustück, aber in seiner stillen Art ein guter, alter, anheimelnder Raritätenkasten, und auch derlei hat sonst viele Freunde. Hier fehlen sie, weil – aber das weiß ich eben nicht. Freilich, die Notiz im Baedeker ist knapp, und die Stadt hat es noch zu keinem eigenen Führerchen samt Stadtplan gebracht, deren es sonst heute in jedem Nest gibt, aber daran allein kann es nicht liegen. Ich glaube, es ist eben Schicksalssache mit den Städten wie mit den Büchern. Der Ruhm ist nie unverdient, wohl aber zuweilen die Verschollenheit. Was besprochen wird, kennt man, und was man kennt, wird besprochen, und wie sich Erfolg und Reklame verketten, hat noch niemand ergrübelt. Deshalb leben sie doch in der Stille fort, die guten Bücher und die guten Städte.
Und Zerbst lebt sogar behaglich. Das konnte ich schon an dem Mittagessen im Gasthof erkennen. Selbst die großen internationalen Hotels sind immer, wenn auch nur dem schärferen Auge erkennbar, vom genius loci beeinflußt, und nun erst der Gasthof einer Mittelstadt, wo die Honoratioren verkehren, die es dort besser finden wollen als zu Hause. Das Essen war menschenwürdiger als zumeist in diesen Gegenden. Denn in Mitteldeutschland ißt man am schlechtesten. „Wir sind eben keine Schlemmer“, sagte mir vor vielen Jahren ein reicher Leipziger Verleger, als er mich mit einem mir unvergeßlich gebliebenen Kalbsbraten bewirtete, „im Herzen Deutschlands denkt man lieber an ideale Interessen.“ Aber ich glaube, das war mehr eine Erklärung für diesen besonderen Kalbsbraten als für die Erscheinung im allgemeinen. Ich wenigstens werde beim Essen ungern durch zähes Fleisch und fades Gemüse an ideale Interessen erinnert und fand es löblich, daß mir dies hier erspart blieb.
Dann aber dachte ich an diese Interessen, und auch hier war, wie in jeder fremden Stadt, mein erster Gang in den Buchladen, mir einen Spezialführer zu kaufen. Ich tue dies immer, nicht bloß in den seltenen Fällen, wo ich über meine Reise zu schreiben vorhabe, und kann dies jedem raten, der rechte Freude am Fremden gewinnen will. Die Baedeker sind in allem Praktischen die besten Reiseführer der Welt, mit größtem Geschick dem Bedürfnis des Durchschnittsmenschen angepaßt, darum eben auch im Detail knapp. Und doch gibt erst das Detail Farbe und Leben, und erst das Wissen gibt rechte Liebe. Nun, hier gab's kein solches Büchlein. Und einen Stadtplan nur in Folio. Da ging ich denn selbständig drauflos. Selbständig, einsam, aber nicht alleine. Denn die drei Buben, die mir mein Gepäck in den Gasthof getragen hatten, Hänschen, Ernstchen und Fritzchen, waren plötzlich wieder da und folgten mir auf drei Schritte Entfernung, verlegen die Rotznäschen senkend, wenn ich umblickte, aber beharrlich.
Zunächst zum Schloß. Über den stillen Markt, dessen alte graue Giebelhäuser mit den geschlossenen, verhangenen Fenstern im grellen Sonnenschein wie in Schlaf gebannt lagen, dann die enge kühle Gasse, die Alte Brücke entlang, durch die ich vom Bahnhof hergekommen war, bis zu dem Glockenturm. Schwer und massig ragt der graue Riese in die Luft, fast die Gasse sperrend; der abgebröckelte Anstrich läßt gewaltige, roh behauene Steinblöcke sehen; so fügten sie bis ins 12. Jahrhundert hinein die klotzigen Türme; bemerkenswert scheint mir die in Norddeutschland seltene Ablösung vom Hauptbau. Dieser Bau, die Bartholomäikirche, ursprünglich natürlich gleich dem Turm romanisch, ist offenbar seither so vielfach umgestaltet worden, daß er heute von außen einen seltsam buntscheckigen Eindruck macht. Ich wollte das Innere besehen und kommandierte meine Leibgarde, den Küster zu holen.
Hänschen und Ernstchen stürzten ab, aber Fritzchen blieb. Er war weitaus der hübscheste von den Jungen, für seine neun Jahre auffallend schlank und stark, das freilich ungewaschene Gesicht von kühnem, edlem Schnitt. Ich strich ihm das feine Haar aus der Stirn. „Sag mal, Fritzchen, wer ist denn dein Vater?“ Da wurde der Knabe blutrot, und die blauen Augen füllten sich mit Tränen. „Mutter sagt's nicht“, stammelte er. Mein Trostwort und ein Trostgroschen machten es nicht gut. Als ich mich einen Augenblick abwandte, war Fritzchen verschwunden und kam nicht wieder. Mein Lebtage will ich kein Kind mehr nach seinem Vater fragen, mindestens gewiß nicht ein auffallend schönes Kind.
Die beiden anderen aber kamen mit einer Magd zurück, die ein behaglich einfältiges Gesicht hatte und einen großen Schlüssel in der Hand trug. Der Küster sei nicht zu Hause, meldete sie, auch sei drinnen nichts Rechtes zu sehen. „Nun, Bilder werden doch da sein“, meinte ich, „auch möchte ich den Bau sehen.“ – „Es sind ja aber nur so ganz alte Bilder, und gebaut ist alles von Stein!“ Ich mußte laut auflachen; verdutzt sah mich die Gute an und lachte dann mit. „Aber Sie haben da doch einen Schlüssel?“ fragte ich weiter. „Der ist ja zum Turm“, sagte sie eifrig, „da werden wir jetzt gleich hinaufsteigen!“ – „Ich nicht! Bei dieser Hitze!“ – „Aber oben sieht man ganz Zerbst und sieben Dörfer!“ Ich blieb hart. Da spielte sie ihren stärksten Trumpf aus. „Mein guter Herr“, sagte sie mahnend, „da ist schon einmal der frühere Herr Kreisdirektor hinaufgestiegen!“ Aber selbst dies Beispiel rührte mich nicht, und ich wanderte weiter, nach der Schloßfreiheit.