Abschnitt. 4 - Ein Wunderbau im einsamen Waldtal ...

Ein Wunderbau im einsamen Waldtal – das war mein erster Eindruck. Aber auch er vertiefte sich mir nur, je näher ich den Bau kennenlernte, je genauer ich Zeit, Ort und Menschen erwog. Noch heute ist das Rottenbachtal ein rauhes, abgelegenes, spärlich bewohntes Tal mitten zwischen unabsehbaren Forsten; die wenigen Bewohner, die das Dörfchen einst hatte, dankte es nur dem Kloster, wie es heute die Bahnstation nur der Ruine verdankt. Und nun erwäge man vollends, was Thüringen um 1100 war: eine schwach besiedelte, nicht allzulange vorher den Slawen entrissene Mark, um die von Erfurt aus Mainz, von Meißen aus Sachsen mit den einheimischen Grafen blutig stritten, gerade in jenen Tagen die Stätte schlimmster Rechtlosigkeit in Deutschland und gewiß auch mit der geringsten Kultur. Und in einem bergigen, waldigen Winkel dieser Landschaft, die kurz vorher aufgehört hatte, Grenzmark zu sein, erstand ein Dom, dessengleichen es damals wenige gab; Monreale in Sizilien, Cluny in Frankreich sind wie seine Vorbilder so seine Rivalen; die Hirsauer Kirche konnte sich mit ihm nicht messen. Und sagt man sich: der Plan sei aus Hirsau gekommen und hier eben nur viel prächtiger ausgeführt worden, so ist's doch zwischen Hirsau in Schwaben, damals dem reichsten und kultiviertesten deutschen Lande, und Paulinzelle in Thüringen, damals dem ärmsten und rohesten, ein Abstand und eine Kluft, die zu überbrücken scheinbar wieder ein Wunder gehört.
Es war aber nur der eherne Wille einer brünstig frommen Frau von verzehrendem Ehrgeiz. Nur achtzehn Jahre nach ihrem Tode hat ein Mönch ihres Klosters, Sigeboto, ihre „Vita“ geschrieben; die Zeit war für eine richtige Legendenbildung noch zu kurz; so sind es erst wenige Wunder und Visionen, die der Wackere berichten kann; durch dies Gerank der Phantasie vermögen wir die Gestalt zu erkennen, wie sie wirklich war, und das ist hier gut, denn diese Wirklichkeit ist, recht besehen, interessanter, als es alle Dichtung wäre. Die Tochter reicher und vornehmer Eltern – ihr Vater Moricho, vermutlich aus dem Geschlecht der Schwarzburger, war Truchseß an Kaiser Heinrich IV. Hofe –, fühlt sich das begabte, freilich, wie es scheint, unschöne Mädchen früh von aller Weltlust angewidert und will in ein Kloster gehen. Der Wille der Eltern zwingt die Sechzehnjährige zur Ehe mit einem weitaus älteren Gatten, dem sie nur eine kalte, freudlose Genossin wird; all ihre Sehnsucht ist die Nonnenzelle. Zu fromm, seinen Tod zu erflehen, fühlt sie doch wohl ihre innigsten Wünsche erfüllt, als er nach kurzer Ehe bei einer Feuersbrunst verunglückt. Wieder gelingt es nicht dem Zuspruch, aber dem Zwang der Eltern, die neunzehnjährige, noch unmündige Witwe zu einem neuen Ehebunde zu bestimmen; ihr zweiter Gatte ist gleichfalls ein Vornehmer, Ulrich von Schraplau. Weltlichen Sinns, minder schwach als sein Vorgänger, zwingt er die jungfräuliche Witwe zur Erfüllung ihrer Pflichten; sie gebärt ihm in sechs Jahren zwei Söhne und drei Töchter. An ihrer Denkweise ändert auch die Mutterschaft nichts; in ihren Augen ist sie sündhaft, und sie tut dafür Buße, indem sie all ihren Schmuck an Kruzifixe und Reliquienkästchen wendet, nur von Aschenbrot und Wasser lebt und sich unmäßig geißelt.
Was nun in und zwischen den Zeilen der „Vita“ zu lesen sieht, ist psychologisch höchst merkwürdig. Die fanatische Asketin, durch die Geißelungen und die schlechte Ernährung in ihren Nerven zerrüttet, in ihren häufigen hysterischen Anfällen ihrer Sinne nicht mächtig, ist andererseits eine überaus lebenskluge Frau von seltener Menschenkenntnis, die jedermann ihrem Willen zu beugen weiß. Aus dem tapferen, fröhlichen Gatten macht sie allmählich einen zerknirschten Büßer, obwohl der Biedere nichts zu bereuen hat als seine bescheidenen legitimen Ehefreuden; zwar ihrem Drängen, sie ins Kloster zu entlassen, bleibt er auch nun taub, weil er den fünf Kindlein die Mutter erhalten will, lebt aber nun neben ihr wie ein Bruder, steuert willig für Mönche und Nonnen und begleitet Paulina auf ihrer Wallfahrt nach Rom. Noch mehr, auch ihren einst durchaus weltlich gesinnten, zudem makellosen Eltern bringt sie die Erkenntnis der Sündhaftigkeit ihres einstigen ehelichen Verkehrs bei, obwohl die Kirche ohne diesen um eine Wohltäterin ärmer wäre, die einst sicherlich eine Beata, vielleicht gar eine Sancta sein wird.
Dies Ziel ihres leidenschaftlichen Ehrgeizes tritt immer klarer hervor; sie sucht sich in Rom beim Papste durch Stiftungen, die das Erbe ihrer Kinder arg schmälern, in Gunst zu setzen; von dort dürfen die Eltern heimkehren, der Gatte muß sie zur Wallfahrt nach San Jago in Spanien begleiten. Nun völlig ihr Sklave, setzt er gleichwohl ihrem Wunsche, Nonne zu werden, auch jetzt noch Widerstand entgegen, stirbt aber bald. Damit ist das letzte Hindernis ihrer ehrgeizigen Pläne hinweggeräumt. Sie wendet sich zum zweiten Mal nach Rom, weiht den Papst in ihren Plan, ein großes Kloster in Thüringen zu begründen, ein und erhält von ihm Empfehlungsbriefe an die schwäbischen Äbte. Heimgekehrt, findet sie die Mutter tot und bestimmt den Vater, als Mönch im Hirsauer Kloster seine Tage zu beschließen, offenkundig in der Absicht, dadurch an diesem Kloster einen Rückhalt zu gewinnen. Dann geht sie ans Werk und begründet in einem wilden, gänzlich unbewohnten Waldtal, von dem die Sage geht, daß dort der Teufel hause, an der Stelle, wo sich heute der Dom erhebt, eine der heiligen Maria Magdalena geweihte Kapelle; ringsum werden Zellen für Klausnerinnen, aber auch für Klausner errichtet. Natürlich will der Teufel aus seinem Stammsitz nicht gutwillig weichen; zwei Male deckt er das Dach der Kapelle ab – noch heut braust der Nordoststurm im Tal gewaltig –, als aber Hirsauer Mönche, die ihr der dortige Abt zur Hilfe gesendet, das Dach kunstgerecht festigen und der Bischof von Merseburg den Bau weiht, kann der Teufel nicht mehr ans Dach. Mit Vorliebe zieht Paulina bußfertige Adelige heran; vielleicht, weil sie glaubt, daß ihr Seelenheil am meisten bedroht sei, wahrscheinlicher, weil sie nun alles daran setzt, die nötigen Mittel für den geplanten Prachtbau zusammenzuscharren; wer hier Aufnahme finden will, muß sein irdisch Gut dem Kloster vermachen. Dem gleichen Zweck dient es, wenn sie ihre Kinder, denen Ulrichs Güter zufallen – sie selbst hat ihren stattlichen Besitz ungeteilt dem Kloster verschrieben –, nach Paulinzelle zu ziehen sucht. Anfangs ohne Erfolg, aber allmählich gelingt ihr auch dies. Von ihren Töchtern wird zuerst die älteste, Engelsind, Nonne, die jüngste, Gisela, weigert sich hartnäckig und will heiraten, stirbt aber früh; die dritte, Bertrad, heiratet trotz der Abmahnungen der Mutter, aber nun wühlt diese so lange, bis sie den Gatten verläßt und nach seinem Tode gleichfalls Profeß ablegt. Von ihren Söhnen wird der ältere, Friedrich, ermordet, der jüngere, Werner, ein Liebling des Kaisers, ist von heftiger Abneigung, ja von Grauen vor der Mutter erfüllt und weist sie von sich; da verfällt er in eine tiefe Erschütterung des Gemüts – er hat an den Mördern seines Bruders grausame Blutrache genommen –, und als Paulina diese benutzt, folgt er ihr als Mönch ins Waldtal. So ist nun Ulrichs ganzes Erbe im Besitz der Siedelei, aber noch mehr: bald auch das ganze reiche Gut Morichos, des Vaters der Paulina; sie weiß ihre drei Geschwister zur Weltflucht und Enterbung ihrer Kinder zu bestimmen. Schwerer als mit ihren Kindern und Geschwistern hat es die unheimliche Frau mit den zugezogenen Fremden; sie trägt ihnen harte Arbeit auf; die Männer müssen unter Leitung der aus Hirsau zugewanderten Benediktiner den Wald roden, den Acker bestellen, die Frauen aber kostbare Gewänder sticken, die Paulina dann, auf einem Eselchen durchs Land ziehend, selbst verkauft, „also daß man sie“, berichtet Sigeboto, „für eine ärmliche Händlerin hielt“. Schon diese harte Fronde paßt nicht allen, zudem verweist Paulina in der Erkenntnis, „daß den Männern, die Gott wahrhaft suchen, das Zusammenleben mit Frauen sehr viel schadet“, die Klausner in sehr entlegene Wohnstätten, was weder diesen noch den Klausnerinnen gefällt, viele ziehen davon. Aber ihre Verschreibungen können sie nicht zurücknehmen, und so ist ihr Ausscheiden nur eine Förderung des frommen Werkes. Nach zehn Jahren ist endlich das Vermögen beisammen, das für eine Stiftung im geplanten Umfang nötig ist.
Nun tut Paulina die letzten Schritte. Zum dritten Mal pilgert sie nach Rom und erkauft vom Papst große Privilegien für das künftige Kloster. Eine Siegerin, die alles erreicht hat, was sie angestrebt, kehrt sie heim, die Stiftung in aller Form zu errichten und unter den Schutz der Grafen von Kävernberg zu stellen. Aber dies letzte vollbringt sie bereits als Schwerkranke; sie ist beim Ritt über die Alpen vom Pferd gestürzt und hat einen Beinbruch erlitten, der nimmer heilen will. Gleichwohl zieht sie noch einmal in die Welt, nach Hirsau, dort aus den Brüdern den Abt und den Baumeister selbst zu erwählen. Auf halbem Wege, in Franken, erkrankt sie so schwer, daß sie im Kloster Münsterschwarzach bleiben muß; ihr Sohn Werner aber eilt nach Hirsau, wählt dort an ihrer Stelle die künftigen Leiter und Erbauer des Klosters, nimmt sie mit sich und eilt zu der Todkranken zurück. Auf ihrem Sterbelager trifft Paulina die letzten Bestimmungen und stirbt (14. März 1112) im stolzen Gefühl, ihr Lebensziel erreicht zu haben. Paulinzelle wird erstehen, nach der Regel und dem Bauplan von Hirsau, aber viel schöner und gewaltiger als das Vorbild. Und sie selbst wird sicherlich eine Beata, eine Selige der Kirche sein, vielleicht eine Sancta, eine Heilige.
Dies ist die Geschichte der Gründung von Paulinzelle. Wem sie die Freude an dem herrlichen Bau verdürbe, der wäre kaum irgendwo vor Enttäuschung sicher. Alles Gewaltige wird nur durch Macht geschaffen, und Macht ist immer rauh... Noch ein anderes aber will nicht vergessen sein: wir können die Paulina von Schraplau nicht mit den Augen ihrer Zeit ansehen, auch wenn wir wollten, aber außer acht lassen dürfen wir nicht, daß sie die Tochter eines rohen Jahrhunderts war, dessen herbe Askese den natürlichen Gegenschlag gegen wüsten Sinnentaumel bedeutete. Freilich, bei allem Aufgebot unseres historischen Sinns werden wir vor der Gestalt an sich nicht jenen Respekt empfinden wie der Verfasser der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“. Aber gerade sein Urteil hätte ja sicherlich anders gelautet, wenn damals – 1886 – die Aufzeichnung des Sigeboto bereits bekannt gewesen wäre; sie ist erst drei Jahre später ans Licht getreten.
Unruhvoll war das Leben der seltsamen Frau und selbst ihren Gebeinen keine Rast beschieden. Auf den Schultern trugen die Mönche den Sarg wochenlang durchs Waldgebirg aus Franken bis Paulinzelle und begruben ihn hier. Aber die einsame, rauhe Waldwildnis schreckte die Hirsauer; sie übersiedelten in die Nähe von Querfurt und wollten den Bau dort aufrichten; den Sarg gruben sie aus, trugen ihn wieder viele Tagereisen nordwärts und bestatteten ihn an der neuen Wohnstelle. Da erschien, wie Sigeboto erzählt, Paulina ihrem treuesten Diener im Traume und klagte, daß man ihren Willen nicht geachtet, ihre Grabesruhe verletzt habe; dies bewog, sagt er, die frommen Mönche zur Rückkehr. Die Historiker aber verweisen auf eine Urkunde, den Drohbrief des Vogts des Klosters, Sizzo von Kävernberg, an die Mönche, das gesamte Klostergut einzuziehen, wenn sie den Bestimmungen des Stiftsbriefs nicht entsprächen. So kehrten sie zurück; abermals wurde der Sarg gehoben, nach Paulinzelle befördert und dort (1128) bestattet. Aber da begann 1130 der Bau, und da die fromme Sitte erheischte, die Gebeine der Stifterin unter dem Hochaltar zu bestatten, so wurde der Sarg unter großem Pomp 1132 wieder dorthin übertragen. Und wie die früheren Male erklang es auch nun über ihrem Grabe: „Requiem aeternam dona ei!“ Etwa sieben Jahrhunderte blieb nun auch ihre Ruhe ungestört, da fand man 1804 bei Nachgrabungen in der Ruine den Sarkophag und öffnete ihn. Aus dem Befund wissen wir, daß die starke Seele in einem kleinen, dürftigen, dünnknochigen Körper gewohnt hat. Der damals regierende Fürst ließ den Sarg an derselben Stelle wieder eingraben, aber viel tiefer, um ihr nun die Ruhe für immer zu sichern. Für immer? Mehrere Grabsteine, die man im Trümmerwerk fand, sind nun im Nordschiff der Kirche aufgestellt; der verwitterte Sandstein zeigt neben stolzen Epitaphien Wappen und Gestalten: Äbte mit dem Krummstab in der Rechten, der Bibel in der Linken; Schutzvögte in reisigem Gewand, die Rechte am Dolch, die Linke aufs Schwert gestützt; dann opferfreudige Donatoren, er im Wams, die Hände über dem lang herabwallenden Vollbart auf der Brust gefaltet, sie mit faltig bauschendem Gewand und Kopftuch. Sie haben vielleicht all ihr Gut geopfert, an dieser begnadeten Stelle schlummern zu dürfen, bis die Posaune klingt – und wo modert nun ihr Gebein? Der Bauer mit dem Kartoffelsack führte mich zu einem solchen Stein. „Mei Weib“, sagte er, „meinet immer, wenn die von oben hinunderschaun, so halden sie sech für bedrogen, und 's dhut ihne wehe.“ – „Und Sie?“ fragte ich. „Mei Bruder“, erwiderte er ausweichend, „meinet wieder: drüben is nix, gar nix.“ Dann aber, nach einem langen Blick auf mich, ganz zaghaft: „Ich aber dhu meinen: drüben is was, aber ganz was anners als hier, drüben is kein Leid; Leid un Grab – das is irdische Sach.“ Wie gesagt, es war nur ein Bauer mit einem Kartoffelsack.
Hat er unrecht, empfindet drüben die abgeschiedene Seele Sorge und Leid um ihr irdisch Werk, so hat die Stifterin dieses Klosters sie reichlich hegen müssen. Dank den gewaltigen Reichtümern, mit denen sie ihre Stiftung ausgestattet hatte – es waren neunzehn Dörfer, dann Zinsen und Zehnte aus über hundert Ortschaften, endlich eine Fülle einzelner Höfe, Wälder, Wiesen, Äcker, Gärten, Teiche usw. –, dank der gesunden Einsicht, die sie Hirsau als Muster wählen ließ, aber auch dank dem glücklichen Zufall, der ihr in dem ungenannten Hirsauer Mönch einen großen Künstler zuführte, wurde die Kirche so schön und prächtig, als sie es irgend geträumt hatte, auch das Kloster stattlicher als irgendeines jener Tage; dies beweisen die bewundernden Berichte der Zeitgenossen, dies die Nachgrabungen, welche die Grundlagen eines gewaltigen Baus freilegten. Auch wurde Paulinzelle ihrer Bestimmung gemäß ein Doppelkloster, Mönche und Nonnen unter getrennten Dächern, aber unter dem Krummstab desselben Abts, nach der Regel des heiligen Benedikt, eines der wenigen Doppelklöster dieses Ordens. Aber was nun Paulina ferner anordnete: eine strenge Zucht, welche die von Hirsau an Askese noch überbot, und rege geistige Tätigkeit blieb unerfüllt. Die drei ersten Äbte, sämtlich Hirsauer Schwaben, hielten zum mindesten leidliche Zucht, ließen auch ab und zu einen Psalter mit kunstvollen Initialen fertigen; seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts war von beidem nicht mehr die Rede. Der Grund ist offenkundig der allzugroße Reichtum; der thüringische Adel versorgte dauernd hier seine jüngeren Söhne und seine unhübschen Töchter; die Äbte wurden den edelsten Geschlechtern des Landes entnommen (Kävernberg, Schwarzburg, Hettstedt u.a.). Während das nächste Kloster derselben Regel, das auf dem Petersberg zu Erfurt, ein Mittelpunkt der geistigen Kultur Thüringens wurde, dem Lande seine ersten Geschichtsschreiber und Dichter gab und durch die treffliche Schule weithin wirkte, begnügten sich die Äbte von Paulinzelle mit dem Glanz, den ihnen ihr Reichtum gab, und der Auszeichnung, die Mitra, die Bischofsmütze, zu tragen; die Zucht wurde lässig gehandhabt, dem braven Sigeboto erstand kein Nachfolger in der Schriftstellerei; der Posten des Schulmeisters war eine Sinekure. Man wollte gar keine Schüler, wie man nicht zuviel Mönche und Nonnen wollte: für beide war sechzehn der „numerus clausus“, der möglichst herabgedrückt wurde. So rächte sich die unheimliche, selbst in jenen Tagen fast beispiellose Gier Paulinas nach Schätzen für ihre Stiftung, indem diese gerade darum nie zu rechter Bedeutung kam. Noch mehr, war es, wie nach den Quellen nicht zu bezweifeln, die stärkste Triebfeder Paulinas, einst die Heiligsprechung zu erringen, so erreichte sie das Ziel eben deshalb nicht, weil sie zu viel dazu tat. Ärmere Klöster boten alles auf, ihre Stifterin zur Sancta erhoben zu sehen; es regnete nur so Mirakel und Bittschriften an den Papst, bis das Ziel erreicht war, denn die Erhöhung der Patronin füllte die Kassen; die Paulinzeller Äbte rührten keinen Finger für sie, und die arme Paulina blieb nur eben eine Beata! Um 1400 begann auch hier, wie in so vielen Klöstern, der Verfall; Bedrückungen des Mainzer Bistums, üppiges Leben, schlechte Verwaltung, wohl auch allzu große Bautätigkeit brachten die einst so blühenden Finanzen arg herab, und da das Klosterleben nicht mehr wie früher als fashionable galt, so zog sich der Adel zurück. Im 15. Jahrhundert gab es nur noch bürgerliche Äbte; zuerst wohlhabende Bürgerssöhne aus den Nachbarflecken, so aus Königssee, dann gar nur Bauernsöhne aus Siegen, Milbitz und andern Dörfern. Das gleiche galt von den Nonnen; in den Aufnahmeregistern befindet sich kein vornehmer Name mehr. Das schlimmste aber war, daß die Klosterzucht immer mehr verfiel; war schon einst die Beziehung zwischen den adeligen Mönchen und Nonnen eine so freundnachbarliche, daß der Mainzer Erzbischof und der Petersberger Abt Anstoß daran nahmen, so trugen nun vollends die Bürger- und Bauernsprossen im Mönchs- und Nonnenhause die hereinbrechende Not in so treuer Gemeinschaft, daß sie um alle Achtung kamen und das herrliche Kloster derbe, in unseren zahmen Tagen nicht druckfähige Beinamen erhielt. Zwar die „dreihundert und drei“ Kindesgerippe, die sich, wie mir das ältliche, aber unschuldige Minchen mit Grauen erzählte, beim Nachgraben im Nonnenhause gefunden haben sollen, sind eine Sage, aber wüste Dinge allerdings beglaubigte Tatsachen. Der reinigende Sturmwind der Reformation fegte das Unwesen hinweg. Während des Bauernaufstands von 1525 zog ein Haufe von Königssee auch nach Paulinzelle und trieb es hier arg wie anderwärts: Mönche und Nonnen wurden „zum Beichten gebracht“, Vieh und Pferde weggetrieben, der Hausrat geplündert oder zerstört, aus der Kirche die Monstranzen, Kelche und Reliquienkästchen mitgenommen und verteilt. Bezeugt ist ferner, daß auch einzelne Altäre zertrümmert wurden, aber ebenso, daß die Stürmenden an den Bau nicht rührten, auch niemand ums Leben brachten. Das gleiche gilt vom ganzen Thüringer Wald; schlimmer war's gegen den Kyffhäuser zu, wo der finstere Thomas Münzer hauste. Als seine Scharen bei Frankenhausen niedergemetzelt waren, brach auch über die Bauern dieser Waldtäler ein furchtbares Strafgericht herein, und die Mönche wurden auch in Paulinzelle wieder eingesetzt. Doch kamen nicht alle wieder, und die Nonnen trauten sich vollends nicht heim. Schon 1534 wagte es Graf Heinrich XXXIV. von Schwarzburg, das Kloster zu säkularisieren; zwar stellte es ein Machtgebot Karl V. 1541 wieder her, aber die Urkunde war das Pergament nicht wert, auf dem sie geschrieben war – was sollte das entweihte, entwürdigte Kloster im evangelisch gewordenen Lande? Nachdem der letzte Abt, ein Milbitzer Bauernsohn, gestorben war, stand der Bau verödet.
Paulinzelle verfiel, als es nicht mehr erhalten wurde; dann beschleunigte Habsucht das Zerstörungswerk. Ein Blitz traf das Nonnenhaus; der Dachstuhl ging in Flammen auf, das Gemäuer barst; da freuten sich die Dörfler auf mehrere Meilen im Umkreis des billigen Steinbruchs, der ihnen hier durch Gottes Gnade beschieden war, und machten sich auch sachte ans Mönchshaus. Die Schwarzburger Fürsten taten's ihnen nach; noch im 16. Jahrhundert erstand auf dem Unterbau des Abtbaus das Amtshaus , im wesentlichen so, wie es noch heute dasteht: im Erdgeschoß wurde der alte Steinbau möglichst beibehalten, darüber zwei Fachwerkgeschosse gesetzt. Ich bin drin gewesen; deutlicher als anderwärts – denn man sah auf Billigkeit der Herstellung und änderte nur, was man mußte – kann man hier die Bautätigkeit von sieben Jahrhunderten unterscheiden: dicke Mauern mit romanischen Fenstern aus dem 13., dünnere mit gotischen Spitzbogen aus dem 16., ganz dünne mit nüchternen Lichtöffnungen aus dem 18. Jahrhundert. Auch die Türen, Schlösser und Öfen sind aus derselben armseligen Zeit, nur ein Ofen aus dem 16. Jahrhundert ist erhalten, aber er ist sehr schön und lohnt allein den Besuch. Der Untersatz ist schmucklos, aber der Aufsatz zeigt eine Reihe stehender weltlicher Heiligen, darüber Engelgestalten von großer Schönheit. Renaissanceöfen sind ja heut wieder so modern; wer was besonders Schönes haben will, lasse sich diesen Aufsatz aus dem Nonnenstübchen nachbilden, aber Nonnen haben hier nie gehaust, nur Amtsvorsteher und Oberförster. Ähnlich entstand etwas später das schmucklose Schloß. Hier in der Waldeinsamkeit verbrachten die Schwarzburger Grafen ihre Flitterwochen, aber es muß, obgleich es dem Menschenfreunde schmerzlich ist, hinzugefügt werden, daß sie sich dann auch nach einigen Jahren mit Damen einfanden, die nicht ihre Gemahlinnen waren; das Paulinzeller Schloß war so eine Art schwarzburgischer Hirschpark, aber ganz im kleinen, man möchte schier sagen: in Ehren; denn mehr Mätressen, als eben die Mode unbedingt gebot, hatten diese braven Herren nie. Übrigens sind die Räume mit spartanischer Einfachheit eingerichtet.
Länger als das Kloster blieb die Kirche aufrecht. Auch hier machte gleichsam der Himmel den Anfang; als 1602 der Blitz das Dach der Kirche entzündete und die südliche Mauer beschädigte, nahm man die Balken und dann das Gestein, soweit es zu lockern war. Um 1680 wurde die Vorkirche dürftig instand gesetzt, nicht aus Pietät, sondern aus Sparsamkeit; die Dörfler und der Hof, der ja häufig hier verweilte, bedurften eines Gotteshauses; da wollte man auf diese Weise billig dazu kommen. Als aber die Erhaltung mehr kostete, als man dachte, da stand zwanzig Jahre später der Entschluß fest: der Dom sollte abgebrochen, das Gestein zur Erbauung einer Kirche nach Rudolstadt gebracht werden. Damals sank das Chor mit den stolzen fünf Apsiden in Staub; das Langhaus aber wurde durch die Festigkeit seines Mörtels gerettet; von Sprengungen durch Pulver mußte man absehen, weil Amtshaus und Schloß so nahe lagen... Ja, die Zeit um 1700 war in jeder Hinsicht ein Höhepunkt unserer Kultur! Drei Menschenalter später kam man zu besserer Einsicht, schämte sich des Geschehenen und suchte zu erhalten, was noch aufrecht stand. Im Jahre 1848 aber drohte wieder einmal dem schönen, vielgeprüften Bau der Untergang; im Rudolstädter Landtag saß ein Radikaler, der war so radikal, daß er beantragte: „Der ganze Krempel wird in die Luft gesprengt und dann das Steinzeug zum Bau von Chausseehäusern verwendet“ – denn die Straßenzölle aufzuheben, dazu war er wieder nicht rot genug. Da aber Rot damals gerade die Lieblingscouleur war, so schien das Schicksal der Ruine besiegelt. Jedoch, man weiß, dann kam rasch eine andere Couleur auf... Seit etwa dreißig Jahren wird die Erhaltung planmäßig und verständig betrieben.
In den Pausen, wo die Fremden die Ruine besahen, war ich im Wald oder guckte mir die Häuser von Paulinzelle an. Ein merkwürdiger Anblick, denn es ist fast keines darunter, das nicht auf Quadern ruhte oder mitten zwischen Ziegeln und Fachwerk Steine mit eingemeißeltem romanischem Ornament aufwiese. So namentlich auch das Haus des Mehrers von Paulinzelle; als ich es gestern bei sinkender Sonne besah, trat der Besitzer hervor. Er begrüßte mich freundlich und entschuldigte sich sogar, daß er mich nicht einzutreten bitte, doch sei eben das Zwölfte angekommen. Dann fragte er, was ich den Tag über gemacht hätte. Die Ruine angesehen, war meine Antwort, sie sei ja so schön. Nun er, wie lang ich bleiben wolle, etwa zur Erholung beim Herrn Menger? Dabei fiel mir wieder, wie am Morgen, der prüfende, lauernde Zug in seinem Gesicht auf. Nein, sagt ich, Sommerfrische wollt ich hier nicht halten, aber wie lang ich bliebe, wüßt ich noch nicht. Da löste sich die Spannung in seinem Gesicht, und er nickte mit so vergnügtem Schmunzeln vor sich hin, als wollt er sagen: „Nun hab ich dich; es ist also so, wie ich gedacht habe.“ Was er meinte, wußte ich aber nicht und kam auch noch nicht ins klare, als er nun die Rede auf die verschiedenen Konfessionen brachte und plötzlich fragte, wie ich über die „Ghadol'schen“ dächte; alle Leute sagten, und auch in seiner Zeitung stehe es, man tue ihnen jetzt sehr viel zuliebe. Worauf ich: dagegen wäre nichts zu sagen, wenn nur anderen dabei kein Leid geschehe. Er räusperte sich, setzte zum Reden an, schwieg aber wieder. Dann gab er mir das Geleit zur Ruine zurück, die ich noch im Licht der Abendsonne sehen wollte, und meinte dabei: „Es is do sehre wunderbar; jetzt findt sie jeder scheene. Immer war das nech so.“ Sein Großvater, sein Vater hätten noch Herren gekannt, die gesagt hätten: „Schade um die schönen Steine!“ Und ob nicht wieder solche Zeiten kommen könnten? „Möglich“, sagte ich und meinte das ernst. Darauf er: „Nu ebe drum! Nu ebe drum! Da muß man sich so was do sehre überlegen dhun, eh man's anfangen dhut!“ – „Was?“ Da lachte er wieder schlau und empfahl sich. Was ich nach seiner Meinung in Paulinzelle vorhatte, sollte ich erst heute erfahren.
Es ist möglich, daß wieder Zeiten kommen, die für die Schönheit dieser Ruine blind sein werden, denn auf die Römer folgten die Hunnen und auf die Renaissance das 17. Jahrhundert. Aber wie ich sie so im Rot der Abendsonne vor mir liegen sah, da hielt ich's für undenkbar, so schön, so traumhaft schön war das Bild. Anmutvoll und feierlich zugleich, so recht herzerhebend ist sie ja immer, aber nie mehr, als wenn dies warme, satte Licht sie überflutet. Wie Flammen heben sich die Säulen in den Himmel hinein, denn das Westportal wirft nur kurzen Schatten, und dies Portal vollends steht in dem verklärenden Licht so jung und herrlich da, als wär's eben geschaffen... Still stand ich da und schaute und wurde traurig, als die Schatten wuchsen, wie aus der Erde empor, immer höher und höher, und das Licht verschlangen. Schließlich lag nur noch auf dem Giebel des Portals ein schwacher, rötlicher Schimmer, und nun verblaßte auch er, und es wurde Nacht, dunkle Nacht, denn es ist jetzt Neumond. Sonst hätte ich die neue, wohl noch größere Freude gehabt, zu sehen, wie hier das Mondlicht waltet. Aber auch so war's schön genug, und ich werde es nie vergessen...
Des Abends nahm ich mir auf meiner Stube zwei Bücher über Paulinzelle vor, die ich mitgebracht hatte, und las in ihnen. Und da traf ich auf zwei Stellen, die mich in neues Grübeln darüber hineinlockten, wie verschieden sich die Geschlechter der Menschen zu derlei Ruinen stellen. Zunächst etwas, was mich sehr enttäuschte. Auch Goethe war einmal hier; der Autor jenes Buches zieht die Stelle (aus den „Tag- und Jahresheften“ von 1817) aus; begierig griff ich darnach; was hat dieser größte Dichter, dieser größte Mensch, der einem immer mehr wächst, je älter man wird, über Paulinzelle gesagt? Da stand's:
„Seit vierzig Jahren zu Wagen, Pferd und Fuß Thüringen kreuz und quer durchwandernd, war ich niemals nach Paulinzelle gekommen, obgleich wenige Stunden davon hin und her mich bewegend. Es war damals noch nicht Mode, diese kirchlichen Ruinen als höchst bedeutend und ehrwürdig zu betrachten; endlich aber mußte ich so viel davon hören, die einheimische und reisende Welt rühmte mir den großartigen Anblick, daß ich mich entschloß, meinen diesjährigen Geburtstag, den ich immer gern im stillen feierte, einsam dort zuzubringen. Ein sehr schöner Tag begünstigte das Unternehmen, aber auch hier bereitete mir die Freundschaft ein unerwartetes Fest. Oberforstmeister von Fritsch hatte mir von Ilmenau her mit meinem Sohne ein frohes Gastmahl veranstaltet, wobei wir jenes von der schwarzburg-rudolstädtischen Regierung aufgeräumte alte Bauwerk mit heiterer Muße beschauen konnten. Seine Entstehung fällt in den Anfang des zwölften Jahrhunderts, wo noch die Anwendung der Halbzirkelbogen stattfand. Die Reformation versetzte solches in die Wüste, worin es entstanden war: das geistliche Ziel war verschwunden, aber es blieb ein Mittelpunkt weltlicher Gerechtsame und Einnahme bis auf den heutigen Tag. Zerstört ward es nie, aber zu ökonomischen Zwecken teils abgetragen, teils entstellt; wie man denn auf dem Brauhause noch von den uralten Kolossalziegeln einige hart gebrannt und glasiert wahrnehmen kann; ja, ich zweifle nicht, daß man in den Amts- und anderen Angebäuden noch einiges von dem uralten Gebälke der flachen Decke und sonstiger, ursprünglicher Kontignation entdecken würde.“
Die Hefte enthalten auch sonst kein Wort heißer Empfindung, aber soviel ist gewiß: das „aufgeräumte alte Bauwerk“ hat Goethe kalt gelassen. An seinem Alter kann's nicht liegen; wie jung war Goethe mit 68 Jahren! Konnte er nur mit den Augen seiner Generation sehen? Es spricht vieles dagegen. Oder erwartete er bei der Schwärmerei von dem „großartigen Anblick“ gar zu viel und fand sich enttäuscht?
Paulinzelle hatte kein Glück mit unsern Klassikern. Auch Schiller war dort und schrieb ins Fremdenbuch ein Gedicht, aber dies Gedicht lautet:

Einsam stehn des öden Tempels Säulen,
Efeu rankt am unverschloßnen Tor,
Sang und Klang verstummt, des Uhu Heulen
Schallet nun im eingestürzten Chor.
Weg sind Prunk und alle Herrlichkeiten,
Schon enteilt im langen Strom der Zeiten
Bischofs Hut mit Siegel, Ring und Stab
In der Vorwelt ewig offnes Grab.
Nichts ist bleibend, alles eilt von hinnen,
Jammer und erhörter Liebe Glück;
Unser Streben, unser Hoffen, Sinnen,
Wichtig nur auf einen Augenblick;
Was im Lenz wir liebevoll umfassen,
Sehen wir im Herbste schon verblassen,
Und der Schöpfung größtes Meisterstück
Sinkt veraltet in den Staub zurück.


Gewiß ein sehr schwaches Gedicht; man wäre versucht, es nicht einmal Matthisson, sondern irgendeinem Schwächling seiner Schule zuzuschreiben. Aber bezeichnend ist es dafür, wie man vor vier Menschenaltern – es ist 1788 geschrieben – ein solches Bauwerk anschaute und was man dabei empfand, und darum teile ich es hier mit, da es nur in wenigen Schiller-Ausgaben zu finden ist. Denn Schillers Autorschaft ist erst seit 1885 genügend beglaubigt. Für ein anderes Verschen aus derselben Zeit, das er dem nahen Schwarzburg gewidmet haben soll, ist die Beglaubigung noch nicht voll erbracht. Möge dies auch nie gelingen, denn es lautet:
Auf diesen Höhen sah auch ich
Dich, freundliche Natur, ja dich!

Von anderen Gedichten über Paulinzelle sind mir, eine Ballade von Bechstein abgerechnet, nur diejenigen aus jüngster Zeit bekannt, die sich an den Wänden der Ruine angekritzelt finden. Von einem Zug zum andern! – wie schnell können heutzutage die Menschen dichten! Und dazu noch unter Gefahren, denn es steht ja überall angeschrieben, daß das Beschmieren der Wände mit 150 Mark Geldstrafe oder 14 Tagen Gefängnis geahndet wird. Viele begnügen sich auch nur mit dem Namen; daneben findet man Angebote zum Tausch von Ansichtskarten, aber auch viele, recht viele Zoten... Man kann ganz traurig werden, wenn man diese menschlichen Dokumente auf den Wänden der Ruine gewahrt.
Aber dann sah ich mir die Ruine selbst an und wurde wieder still und bewegt im Gemüt. Man wird mit der Freude gar nicht fertig und erlebt zudem an den Einzelheiten immer neue Entdeckerwonnen. Ich hatte so die Empfindung, als müßte ich hier wochenlang bleiben, und dachte zwischendurch – so ist der Mensch –, wohin ich nun gehen wolle. Ich hatte ja nach Westen gewollt, aber ein bestimmtes Ziel tauchte mir nicht auf. Dann ging ich wieder umher und entdeckte an einer der Säulen abermals ein neues Ornament, so einfach und dabei so schön! Ich zog mein Notizbuch hervor und zeichnete es mir ab wie andere vorher. Mit meinem Zeichnen ist's ja nicht weit her, aber mir erhöht's die Freude des Genießens – für den Augenblick und in der Erinnerung.
Wie ich aber so kritzelnd dastand, hörte ich Schritte – es war der Mehrer von Paulinzelle. Ordentlich triumphierend guckte mich der alte Mann an: „So, jetzt hab ich dich, jetzt kannst du nicht mehr leugnen!“ Er trat auf mich zu: „Immer fleißig, Herre! Ja, da is viel zu dhun!“ Ich: es sei nur so Spielerei zu meinem Vergnügen. „Na! na!“ Warum er mir das nicht glaube? Darauf er, man habe ja schon lange davon gesprochen und es kommen sehen, und nun sei es da. Natürlich, wenn man alles aufbaue, sogar „alde pohlsche un französische Schlösser“, warum Paulinzelle nicht. Nun, wenn es nur nicht aus dem Steuersäckel gehe, so habe auch kein Mensch was dagegen. Freilich, für die Arbeit würden wohl wieder viel Welsche beigezogen werden, und da seien wüste Kerls drunter, das wisse er noch vom Bahnbau her. Aber nur eins sei wirklich schlimm: natürlich schenke man dann das Kloster den „Ghadol'schen“, die kriegten ja jetzt alles – und was die dann in der evangelischen Gegend damit anfingen? So also reflektierte sich in diesem Hirn die Kunde von der Restaurierung der Marienburg und Hohkönigsburg im Verein mit der Devise: „Zentrum ist Trumpf!“ Nun, ich konnte ihn beruhigen, ich war kein Baumeister und nicht dazu hier. Und zum Beweis nahm ich auch gleich Abschied von ihm. Ich muß sagen, er wünschte mir recht freudig glückliche Reise.
Auf dem Heimweg überdachte ich mir die Sache. Die Marienburg, das geht an; ob's überall recht gemacht wird, das ist eine andere Frage, aber im ganzen kann man – ich hab's ja gesehen – ja und amen dazu sagen. Und von der Hohkönigsburg, die ich nicht kenne, will ich gern das gleiche annehmen. Aber Paulinzelle? – um Himmels willen, das wäre ja fast so töricht und frevelhaft wie der Aufbau des Heidelberger Schlosses, mit dem jetzt immer wieder gedroht wird. Und wie ich dran dachte, stieg der herrliche Bau vor meinem Aug auf, und ich stand wieder im Schloßhof vor dem Ottheinrichsbau und schaute wieder von der Terrasse ins Neckartal nieder. Mein Herz schwoll vor Sehnsucht... Und was spricht dagegen? Heut Paulinzelle und morgen das Heidelberger Schloß – weiß Gott, so Kluges ist mir nicht immer im Leben eingefallen.
Und dabei bleib ich nun. Noch heut fahr ich nach Heidelberg.
Paulinzelle, im Sommer 1901