Abschnitt. 3 - Der Dom gehört wie zu den ältesten so zu den schönsten und größten Werken romanischen Stils auf deutscher Erde ...

Der stärkste Zauber freilich, den Paulinzelle übt, liegt nicht in der Wehmut über das Verlorene, sondern in der Freude an dem Erhaltenen. Der Dom gehört wie zu den ältesten so zu den schönsten und größten Werken romanischen Stils auf deutscher Erde und verbildlicht die reinste Zeit dieses Stils, den Hochromanismus. Schon die Maße imponieren an sich, wie sie durch ihr Verhältnis zueinander das Auge laben: an so kühnen, schlanken Formen darf es sich selten erfreuen. Der Hirsauer Mönch, der den Bauriß entwarf – keine Urkunde nennt seinen Namen –, war ein ebenso trefflicher wie wagemutiger Künstler: das Langhaus ist fast doppelt so hoch, als es breit ist, selbst das Querhaus (Kreuzschiff) noch immer etwas höher als breit, der ganze Bau vom Hochaltar bis zur Eingangspforte der Vorkirche etwa viermal so lang als breit und nur wenig über das Doppelte länger, als er hoch ist. Zur Vergleichung ziehe ich einen gleichfalls herrlichen allbekannten Dom an, St. Stefan zu Wien, und zwar eben deshalb, weil schon er im Innern den Eindruck kühn und leicht aufstrebender Maße macht. Das Innere von St. Stefan ist um etwa 2 Meter niedriger als das von Paulinzelle, hingegen um 28 Meter länger; die Breite des Kreuzschiffs übertrifft die Höhe um nahezu das Dreifache. Bei dieser ungemeinen Neigung des Paulinzeller Künstlers zum Schlanken und Hohen wäre der Eindruck seines Werks ein minder feierlicher, wenn nicht der Säulenbau ein so wuchtiger wäre; das stellt die Harmonie wieder her.
Diese Sandsteinsäulen – sie mußten wie in ihrer Höhe so im Querschnitt gewaltig sein, weil sie die ungeheure Last der über ihnen aufsteigenden Quadermauern der Scheidewände tragen – sind der schönste Schmuck der Ruine. Wie sie so aufragen, über ihnen, von Säule zu Säule gespannt, die hohen, stolzen Rundbogen der mächtigen Mauern, fallen sie selbst dem stumpfen Blick durch das feine Ebenmaß der Dimensionen auf – ein Bauer, der, einen Sack Kartoffeln auf dem Rücken, durch die Ruine ging und mich zu den Säulen emporblicken sah, blieb stehen und teilte meine Freude: „Nech zu dicke, nech zu dinne, 's is doch gar zu scheene!“ Aber schön ist auch der Schmuck jeder einzelnen Säule; durchweg in demselben streng romanischen Stil gehalten, zeigen doch Basen und Kapitelle innerhalb dieser Grenze große Abwechselung: Löwen-, Drachen- und Menschenköpfe in Relief, namentlich jene Fratzen, die vielleicht nur Kinder der Künstlerlaune sind, während man sie als absichtsvolle Verbildlichungen der Laster aufzufassen pflegt; dazu Eckblätter und eingemeißelte Ornamente von reicher Erfindung; nur das Schachbrett wiederholt sich oft. Selbst die plumperen Pfeiler, an denen es auch hier nicht ganz fehlt, während sie bekanntlich an Bauten derselben Zeit ausschließlich angewendet wurden, sind mit solcher Zierde reich bedacht. Wer sie nachzeichnen wollte, bekäme die schönste Mustersammlung der Kleinkunst dieses edlen herben Stils zusammen. Wie vor mancher Fassade der Renaissance beschäftigte mich auch hier der Gedanke: Wie kommt's, daß unsere Monumentalbauten, auch die reichsten, keinen solchen individualisierten Kleinschmuck aufweisen? War damals die Welt an Talenten reicher, oder hatten diese Talente mehr Zeit, oder mußten sich damals Talente mit so bescheidenen Aufgaben begnügen, die sich heute an Größerem betätigen können? Es kommt einem Wunder gleich, wenn man erwägt: das haben in einer rohen, armen, dunklen Zeit Steinmetzen in einem abgelegenen Winkel der Erde vollbracht, wo es so gut wie völlig an Vorbildern fehlte!
Der größte Schmuck der Kirche aber, zugleich nächst dem Triangel am Erfurter Dom das stolzeste Werk deutscher Baukunst in Thüringen, ist das Hauptportal. Es ist in der Anlage einfach und klar wie der ganze Bau: vier nach innen sich verjüngende Rundbogen, die zur Rechten und Linken auf je vier Säulen aufstehen: das ist alles. Aber wie schön sind auch hier die Maße, wie feierlich und anmutig zugleich der Gesamteindruck; wahrlich, durch eine solche Pforte möchte man gern treten. Statuen, wie sie schon eine etwas spätere Zeit gern an den Eingang der Gotteshäuser stellte, fehlen hier noch; doch sind die Säulen (hier attische, im Langhaus ionische) an Schaft und Fuß besonders reich geschmückt; ein kräftiges Gesims über den Säulen bindet sie untereinander und mit den Bogen schön zusammen. Im Giebelfeld über dem Eingang, also vom innersten Bogenrund umschlossen, sind Spuren eines Wandgemäldes zu sehen; andere haben hier noch vier Figuren unterschieden, ich trotz eines vortrefflichen Glases nur eine Maria mit dem Jesuskind.
Auch sie werden wohl bald verschwunden sein. Alles andere aber bleibt sicherlich für viele Geschlechter aufrecht – das Wort „ewig“ sollte sich ja der Mensch überhaupt abgewöhnen, und in Ruinen kann es einem vollends nicht über die Lippen treten: für ewige Zeiten war ja hier einst alles erbaut... Das Ländchen ist arm, das Fürstenhaus gewiß nicht reich – was sind in heutiger Zeit hunderttausend Taler Zivilliste für einen regierenden Herrn! –, aber für die Ruine geschieht das irgend mögliche. Immer wieder werden eiserne Tragpfeiler eingezogen, Drahtseile gespannt, wankende Mauern abgetragen und mit demselben Material neu aufgeführt. Diese Sorgfalt entfernt auch alles Gesträuch von den Mauern; hier gibt's keinen uralten Efeu, selbst die Bäume werden in respektvoller Entfernung gehalten. Mit Recht, man weiß, welche Schädlinge Efeu und Wurzelwerk für bröckelnde Mauern sind. Stimmungsvoll bleibt die Ruine trotzdem, sogar – die Angebetete des geölten Meyer soll recht behalten – romantisch.