Abschnitt. 1 - Keine Regel ohne Ausnahme.

Keine Regel ohne Ausnahme. Nach Paulinzelle wollte ich, und da bin ich nun wirklich.
Der Weg von Schwarzburg nach Paulinzelle über die Berge soll sehr hübsch sein, und ich hätte gewiß gestern nur meinen Koffer auf die Bahn gesetzt und nicht auch mich selber, wenn nicht die Wolken so niedrig herabgehangen hätten. Aber kaum, daß das Züglein abgedampft war, brach draußen die Sonne durch, während im Coupé ein Platzregen über mich niederging. Mir gegenüber saß nämlich ein Ehepaar, das sichtlich erregt war. „Das gehört in die Zeitung“, sagte er, und sie: „Ein Roman, Max!“ Zeitungsromane sind ja sehr einträglich, dennoch widerstand ich der Versuchung, da billig einen Stoff einzuheimsen, und schwieg. Sie aber begannen mir trotzdem ihre Schwarzburger Erlebnisse mitzuteilen. Sie waren dort in einer Pension, wo es nach ihrer Darstellung „herrliche Bilder, sogar Landschaften“, aber sehr schlechtes Essen gab – „ist das nicht ein Roman?“ Man muß auch mündlich immer zur Klärung über die wichtigsten Lehren der Poetik beitragen, und so erwiderte ich bescheiden, mir persönlich wären in einer Pension schlechte Bilder und gutes Essen lieber, aber ein Roman sei das eigentlich nicht. „So?“ rief die Dame. „Und was mir dort mit dem Zimmermädchen passiert ist? Das ist ein Roman, das müssen Sie hören!“ Sie hatte sich nämlich mit dem Mädchen gezankt, weil die Museumsassistentin die Gemälderahmen sauberer hielt als anderes, was allerdings nicht mit der Kunst zusammenhängt. Nun, anhören mußte ich diesen thüringischen Pensionsroman allerdings, denn das Bahnchen hat keine Durchgangscoupés, und so behaglich sein Tempo ist, so muß man sich doch das Aussteigen während der Fahrt überlegen. Als die beiden jedoch in Oberrottenbach – das letzte Kapitel der Dichtung war noch lange nicht in Sicht – gleichfalls ausstiegen und mir zu meiner freudigen Überraschung mitteilten, daß sie auch nach Paulinzelle wollten, da ließ ich sie in den neuen Zug klettern und stieg dann im letzten Augenblick in ein anderes Coupé.
Nun war ich allein, und während vor meinem Aug die sanften Hänge des Rottenbachtals und die Hütten von Milbitz vorbeiglitten, aus deren gedrücktem Häuflein die Kirche mit der seltsamen Schweifkuppel hoch emporragt, konnte ich mich endlich darüber freuen, daß ich eine Stätte betreten sollte, deren Anblick ich mir schon so lange gewünscht hatte. Nicht deshalb, weil sie in allen Reisebüchern den Stern hat und „eine der schönsten Kirchenruinen Deutschlands“ genannt wird; ich gehe diesen Sternen, wenn ich mich sachte zu meinem Vergnügen durch die Welt schiebe, weder aus dem Weg, noch jage ich ihnen nach, und „eine der...“, das weckt keine Sehnsucht. Aber da hatte mir vor Jahrzehnten einer gesagt: „Paulinzelle, das müssen Sie sehen. Der bröckelnde Wunderbau im einsamen Waldtal – mir war ehrfürchtig zumut; es ist wie ein steingewordenes Gebet aus dem alten deutschen Volksgemüt. Ich bin kein Kunstmensch; Italien hat wenig auf mich gewirkt, die großen Dome schon gar nicht; ich hatte nur immer die Empfindung der kalten, dumpfen Luft und den Gedanken: die dies gebaut haben und nun drin Messe lesen, sind gegebene Männer, fremdem Willen so knechtisch untertan, daß sie nicht einmal aus der eigenen Seele heraus richtig fromm sein können. Paulinzelle aber – nächst der wackeren Hroswitha von Gandersheim, deren Dramen ich in meiner Doktordissertation so fürtrefflich traktiert habe, hat mir keine andere Nonne der Welt so imponiert wie die Beata Paulina de Schraplau, obwohl sie ihrem wackeren und geduldigen Eheherrn das Leben schwer genug gemacht hat.“ Es war Gustav Freytag, der mir das sagte. Dann ein Eindruck, den ich selbst empfangen hatte. Ich war zu Hirsau in Schwaben und sah mir die Ruinen des Klosters an, aus denen die Ulme wächst, die Uhland besungen hat; der Mordbrenner Mélac hat hier noch viel gründlichere Arbeit getan als im Heidelberger Schloß – aber wie schön sind diese romanischen Säulenbogen! „Wenn Sie sich dafür interessieren“, hatte mir der Pfarrer gesagt, „müssen Sie nach Paulinzelle gehen; das Hirsauer war sein Mutterkloster, auch für den Stil maßgebend, aber die Tochter hat die Mutter an Schönheit weit übertroffen...“ Gespannt lugte ich aus dem Coupéfenster; eine Biegung der Bahn, nun ein tiefgrünes Waldtal und mittendrin, wie Riesen über den höchsten Wipfeln aufragend, ein herrliches Portal und ragende Mauern, aber nur eine Sekunde lang; die Bahn tritt dicht an den Wald, biegt wieder, dann geht der Zug langsamer: die Station.
Außer meinem Dichterpaar stieg noch ein großer Haufe Menschen aus, denn wer durch Thüringen kommt, hält hier an und bleibt von einem Zug zum andern; dagewesen sind sie dann, und gesehen haben sie's in ihrer Art, und die meisten von ihnen würden nicht mehr sehen, wenn sie drei Wochen dort blieben; die Leute haben also recht. Aber auch ich schien mir nicht töricht, wenn ich den Troß den Dauerlauf auf der staubigen Straße antreten ließ und gemächlich hintendrein ging. Ein Kirchhöflein liegt am Wege, klein und armselig; seit Jahrhunderten begraben die Dörfler dort ihre Toten, und es ist noch sehr viel Platz, denn Paulinzelle, „Ort: Paulinzella, Bezirk: Stadtilm, Fürstentum: Schwarzburg-Rudolstadt“, hat nur „24 Häuser, 117 Seelen un etliches Viechzeug“, wie mir ein stattlicher Bauer sagte, der desselben Weges ging. „Vom Viechzeug“, fügte er bei, „wäre no mehr zu gebrauchen, aber Menschen sind grad genug“ – es war eine individuell nicht unrichtige Meinung, denn er hatte „bis heut elf lebige Kinder, aber morgen sind's zwölfe“. Ehrfürchtig besah ich mir den Mann, der ein Zehntel der gesamten Bevölkerung des Dorfs geleistet hatte, und fragte dann, wovon die Leute in Paulinzelle lebten. „Dieses“, erwiderte er mit jener halb ernsten, halb schalkhaften Lehrhaftigkeit, die man unter den Bauern dieses Gaus so häufig findet, „is verschieden. Der Herr Friedrich Schulze“ – er deutete auf ein stattliches Haus abseit vom Wege – „lebt von dene Orgeln, die er bauet, das hochfürstliche Oberforstamt aus unserem Steuersäcklein, und wir andern, nor der Herr Menger nech, wir müssen so in Nödhen vom bißchen Acker und bißchen Viechzeug und einigem Torfstechen leben dhun. Früher“, fuhr er fort, „hat's o (auch) no etwas Weinbau gegeben, aber das hat die Polizei verboten, denn die armen Essighändler, die wollen o leben.“ Ja, sagte ich, schon Luther habe in ähnlichen Worten den Wein von Paulinzelle gerühmt. Worauf er: „Mit Verlaub, aber wenn Se solches wissen, denn sollten Se ›la‹ sagen, un nech ›le‹, Paulinzella. So steht's im Kirchenbuch un o an der Statschon un is so richtig. Nämlich: erstens Paulina un zweitens Zella. Die Paulina, das war nu also so 'ne Gadohl'sche, da ist nichts weiter zu sagen. Aber Zella, das heißt Se in einer alten Sprache – ob's nu lateinisch is oder römisch oder gar Klostersprache – 'ne Kirche. Paulinzella.“ Ich dankte und fragte dann, wovon der Herr Menger lebe. „Von der Ruine“, war die Antwort. „Denn er is der Gastwirt hier, der hat was von der Sach, wir nech!“ Nun, meinte ich, den Stolz und Ruhm hätten sie doch alle. Er lächelte. „Mech machet's nech Stolz, mech machet's demütiglich. Wenn ech so seh, wie se laufen un schwitzen, un wenn se dort sind, sagen se ›Ah!‹ un schaun auf d'Uhr und jagen redhur, beim Menger ä Würstchen un wieder schwups in 'n Zug, da denk ech immerzu: Herre Gott, du bist gerecht! Uns hast du d'Arbeit zugedheilet un dene die Narrheit!“ Ob denn nicht welche, fragte ich, über Nacht blieben. „Ja“, erwiderte er, „Geschäftsreisende“, worunter er aber Leute verstand, die einen verständigen Zweck verfolgten, zum Beispiel Künstler, die Wald und Ruine malten, und Sommerfrischler, die hier „billech rodhe Backen“ kriegen. „Ohne Geschäft“, fügte er bei, „wär's do gar zu närrisch“, und holte mich dann aus, was ich hier wollte, denn hinter mir her brachte der Stationsbote mein Kofferchen. Ich war aber dunkel wie ein Diplomat, der nach etwas gefragt wird, was er selber nicht weiß, denn ob ich „zu närrisch“ war oder aus „Gschäft“ die Ruine in Worten abmalte, stand noch nicht fest, das hing davon ab, wie sie auf mich wirkte. Diese Zurückhaltung machte den Mehrer von Paulinzelle sehr nachdenklich, und er musterte mich nun scharf, bis wir vor dem Gasthof Abschied nahmen.
Ich ließ mir ein Zimmer anweisen, dann im Garten vorm Haus ein Frühstück rüsten und sah nun zu, welche Schatten der bevorstehende Rückmarsch der Fremdenarmee vorauswarf. Der Karle, der Kellnerbursch, zog über seine sauberen Hemdärmel einen schmierigen Frack, auch Minchens Erscheinung – sie trägt aber diesen niedlichen Namen schon recht lange – gewann durch eine vorgebundene Schürze nicht sonderlich, dann brachten sie Bier, Kaffee, Schinkenbrote und warme Würstchen herbei; es ist die Sorte, die man in ganz Mitteldeutschland Wiener, in ganz Österreich aber Frankfurter nennt, denn so ist der Mensch: selbst die Würste müssen einen Namen von weither haben, sonst schmecken sie nicht. Alles wie auf einem Bahnhof; auch Photographien und Ansichtskarten werden ja jetzt ins Coupé gereicht. „Wir haben zwanzig Arten Grüße aus Paulinzelle“, sagte der Karle stolz; die Ruine ist auf allen, nur ist sie hier gelb, dort blau und hier wieder rot bemalt; auf einer bildet sie sogar einen grünen Klecks, weil das Mondschein ist. Auch die Sprüche sind verschieden, einige blitzen nur so von Witz, eignen sich aber eigentlich mehr zur Versendung in geschlossenem Kuvert, denn es ist kaum zu sagen, wieviel Zartgefühl und keuscher Humor bereits im Dienste dieser noch jungen Industrie stehen. Nun aber kam das Heer gezogen. Als Vorhut ein alter, nervöser Herr, der seine Frau und drei Töchter vor sich hertrieb: „Der Zug!... der Zug!“ Aber Ansichtskarten kauften die Fräulein doch in fliegender Hast und zogen dann im Laufen den Bleistift. Nun das Hauptkorps; drei Minuten sah und hörte man nichts als kauende hochrote Menschen, die über die Hitze klagten; nur eine Gruppe schwelgte im Nachgenuß der Ruine: ein dicker, ältlicher Herr mit seiner jungen Frau und einem gleichfalls jüngeren Herrn mit roter Krawatte und geöltem Haar. Der Alte schwelgte eigentlich nur in Würstchen, sie aber sagte: „Herr Meyer, war das nu nich einfach göttlich?“ – worauf der geölte Meyer: „Gnädige Frau! es war doppelt göttlich! Aber was sagten Sie nur, als wir zwischen den Säulen standen, es war reizend, ich möchte es mir aufschreiben.“ Er zog sein Notizbuch hervor. „Ich sagte“, erwiderte sie mit gespitztem Munde, „es sei alles im edelsten romantischen Stil!“ – „Herrlich!“ rief Meyer notierend, und auch der glückliche Besitzer von so viel Bildung meinte bewundernd: „Trudchen, wo hast du denn das wieder her?“ Ich hätte es ihm sagen können, aus dem Baedeker hatte sie's, nur steht dort: „im edelsten roman. Stil“, und das ist die Abkürzung für „romanisch“... Meine Reisegenossen aber? Ganz bang spähte ich umher: sollten sie in der Ruine zurückgeblieben sein, wohin ich nun wollte? Gottlob, da standen sie kauend im Gewühl. Aber nun hatten sie auch mich erspäht und traten auf mich zu: „Wo waren Sie denn? Nun haben Sie den Schluß nicht gehört! Aber Sie kommen wohl mit?“ Ich bedauerte, ich bliebe hier. Die Frau starrte mich verblüfft an, mußte nun aber fortstürzen. „Der Mensch bleibt in Paulinzelle“, hörte ich sie ihrem Gatten sagen, „Max, das ist ein Roman!“ Glückliche Frau, der aus den bescheidensten Keimen auf Schritt und Tritt Dichtungen ersprießen!