Abschnitt. 7 - Blankenburg.

Mit dem Denkmal des braven Schloßwachmanns Ingo, einer steilen Klippe, endet die Romantik des Schwarzatals, dann folgt die Reihe der großen Gasthöfe vor Blankenburg. Der ansehnlichste ist der „Chrysopras“, der kuriose Name erinnert an einen kuriosen Menschen. Danz hieß er und war um 1760 in Blankenburg Schneider, sogar ein ganz verdrehter Schneider, wie seine Mitbürger glaubten, denn statt auf seinem Arbeitstisch zu hocken, lief er die Berge ab und sammelte Steine; namentlich auf den Chrysopras, den zartgrünen Schmuckstein, war er wie versessen. Freilich teilte er diese Vorliebe mit einem berühmten Zeitgenossen, Friedrich dem Großen, der sein Sanssouci und das Potsdamer Stadtschloß überreich mit diesem milden, feinen Stein geschmückt hat; aber auch sonst wurde den Blankenburgern bald klar, daß ihr Meister Zwirn eigentlich ganz schlau war, nur eben mit einem Stich ins Närrische. Denn die Mineralien, die er sammelte, verhandelte er weiter, wurde allmählich ein wohlhabender und, da er unablässig mineralogische Studien trieb, in seiner Art gelehrter Mann, schließlich königlich-preußischer Bergrat und Besitzer dieses Hauses. In allem war er vernünftig, nur von Chrysoprasen konnte er nie genug haben und häufte ihrer eine schwere Menge auf, was aber dann seinen Erben recht angenehm war. Und so tauften sie das Haus pietätvoll nach seiner einträglichen Marotte, und es heißt bis heute so. Aber nur der Name ist ungewöhnlich, der Gasthof und seine Führung sind ganz landesüblich.
In diesen Gasthöfen des Schwarzatals und in denen des Städtchens halten viele Leute ihre Sommerfrische und tun recht daran; es wimmelt nur so von hübschen Anlagen nach allen Seiten. Und was mich an Blankenburg enttäuschte, stört nicht viele Menschen. Es ist ein uraltes Nest mit reich bewegter Geschichte, so rund tausend Jahre alt, vom 12. bis ins 14. Jahrhundert Residenz der Schwarzburg-Blankenburger Linie, aber noch bis ins 17. Jahrhundert hinein ein Mittelpunkt der Kultur dieser Landschaft. Davon müßte wohl doch noch was zu sehen sein, dacht ich, und mir wässerte der Mund, als ich einmarschierte; sogar auf Mauer und Graben wagte ich hier noch zu hoffen. Nun, sie sind seit einem Jahrhundert beseitigt, und auch nach alten Häusern guckte ich lange aus, bis ich zum mindesten ihrer zwei fand, das eine gegenüber der Kirche, das andere nah der Post, beide brave Steinhäuser mit Rundbogenportal aus dem 16. Jahrhundert und hübschem Zierat von Rosetten, Nischchen und dergleichen. Das Rathaus ist ein dürftiger Bau aus öder Zeit (um 1750); älter sind nur zwei Tafeln rechts und links der Türe. Die zur Rechten zeigt das Blankenburger Stadtwappen, den aufsteigenden Löwen, von 1434, die zur Linken die Figur eines Bürgers aus gleicher Zeit, die als Wahrzeichen der Gerichtsbarkeit gedeutet wird. Also eine Art bürgerlichen Rolands. Das ist alles. Denn auch die Kirche ist modern restauriert, und selbst auf dem alten Kirchhof findet man nur Grabsteine aus dem 18. Jahrhundert; wohin mögen sie nur die älteren getan haben?
An die einstige Bedeutung Blankenburgs mahnt nur eine Ruine, allerdings eine der größten Deutschlands, der Greifenstein, auf einem steilen Hügel nördlich der Stadt. Wie ich so sacht emporschritt und mir das bröckelnde Mauerwerk immer gewaltiger entgegenwuchs, hatte ich einen starken Eindruck: als nahte ich einer zerstörten Stadt. Aber als ich nun oben zwischen Gestrüpp und Ginster umherkletterte, da sprach nur noch die Natur zu mir, der Ausblick ins helle breite Saaletal im Nordwesten, ins ernste zerklüftete Schwarzatal im Süden wirken jeder an sich und zudem durch den Gegensatz, aber das Mauerwerk sagte mir wenig. Es ist alles gar zu verwüstet; einen einzigen Bau abgerechnet, stehen eben, auch nur mit großen Lücken, die kahlen Mauern da, an manchen Stellen unter Mannshöhe, an anderen höchstens bis zum Doppelten und Dreifachen, und wie die Burg einst war, kann man sich nicht klar vorstellen, selbst den Zug der Umfassungsmauer nur mühsam erkennen. Es waren eigentlich drei Burgen, an denen fünf Jahrhunderte geschaffen haben; mit dem Verwüsten ging's ungleich rascher. Der älteste Teil ist die Burg, die man durch einen Spitzbogen zuerst betritt; die Quadern aus dem 13. Jahrhundert halten noch; was spätere Zeiten aus Muschelkalk und Ziegeln hinzufügten, ist fast verschwunden. Gegen West und Ost reihen sich, von dieser Burg durch tiefe Gräben geschieden, zwei andere an, von der westlichen sieht man wenig mehr, die östliche hingegen ist der besterhaltene Teil. Hier steht, von Buchen, Eichen und Flieder umwachsen, der frühgotische Chorbogen der Kapelle, hier, neu unter Dach gebracht, der Bau, in dem nun eine Wirtschaft betrieben wird. Auch aus der obersten Stube kann man die beiden Täler übersehen und das liebliche Rinnetal dazu; das sah ich mir, obwohl zwei Damen am nächsten Tisch geräuschvoll Leipziger Stadtklatsch breittreten, lange, lange an und ging dann mit wachen Sinnen und unbewegten Herzens zu Tal. Denn ins Träumen oder zu seelischer Anteilnahme bringen einen derlei Trümmerstätten nur, wenn sie an sich sehr schön sind oder Erinnerungen an große Schicksale wecken. Hier trifft beides nicht zu. König Günther ist auf dem Greifenstein geboren, hat oft hier verweilt – aber was ist uns der arme Schattenkönig? Die Namen der andern, die hier herrschten, meldet „kein Lied, kein Heldenbuch“, und die Beherrschten gar sind still und stumm ins Grab gesunken, wie sie still und stumm gelebt und gelitten haben. Denn Blut und Tränen sind auch hier geflossen, viel Blut und viel Tränen, aber nur im Kampf um Mein und Dein, um ein Dorf oder, wenn's hoch ging, um eine Geviertmeile. Wer auf dem Greifenstein steht, begreift sehr wohl, daß hier, an der Grenze zwischen Wald- und Ackerland, an der Mündung dreier Täler früh ein Flecken entstand, und ebenso, daß dieser Berg sehr bald zur Feste wurde. Sie beherrschte die Täler und war zur Zeit, da die Geschosse noch nicht weit trugen, fast uneinnehmbar. Kein Wunder auch, daß es andere danach gelüstete; mit wem immer die Schwarzburger in Fehde gerieten, um Stadt und Schloß Blankenburg ging's zunächst. Daher die rastlose Arbeit durch fünfzehn oder mehr Menschenalter, den Greifenstein zu festigen; immer neue Gräben wurden gezogen, immer neue Mauern getürmt; im Frieden aber weilten die Herren lieber anderswo als in der düstern, riesigen Burg. So erklärt sich's, daß der Palas, das Wohn- und Festhaus, sowie der Frauengaden hier bereits 1548 ein „Aufenthalt von Eidechslein und Nachtraben“ waren, zu einer Zeit also, da noch neue Ringmauern angelegt wurden. Die Erfindung und Verbesserung der Kanonen nötigte dazu; der Kesselberg im Norden ist höher als der Schloßhügel. Als auch dies nicht mehr fruchtete, räumten die Herren den Greifenstein und verkauften das Gemäuer an die Bürger unten. Die bauten sich davon ihre Häuser, trieben auch Handel mit dem Gestein und Eisenwerk; widerstanden die Quadern, so wurde fleißig gesprengt. Daneben trieben hier Schatzgräber ihr Wesen, heimlich oder offen; es gab sogar im 18. Jahrhundert ordentliche Genossenschaften zu diesem Zweck, die auch emsig Gewölbe sprengten und Stollen trieben. Denn in der Thüringer Sage ist der Greifenstein eine einzige große Schatzkammer, was begreiflich ist; hier wurde ja tatsächlich in Kriegszeiten durch Jahrhunderte alles Gut und Geld des ganzen Gaus geborgen. Auch heute noch versuchen oben Schatzgräber ihr Glück, und ein alter Krämer nah dem Markt, bei dem ich um fünf Pfennige Zündhölzchen kaufte, teilte mir – bar Geld lockt, und hier hat man Zeit – ganz genau mit, wie man das mit Erfolg anstellen kann. Man muß am 1. Mai, dem Tag, wo die Hexen tanzen, oder am Johannistag, der in Thüringen den Toten gehört, oder zu Silvester, wo man in die Zukunft sehen kann, geboren sein, sich vor nichts fürchten, auch nicht vor der blassen Frau, die oben allnächtlich ein Grab für ihr Kind schaufelt, das sie im Burggraben ersäuft hat, und drittens muß man ein von einer reinen Jungfrau gewebtes Hemde durch drei Mondmonate, also zwölf Wochen tragen, ohne es zu wechseln. Harte Sachen, besonders die letzte; da wird man ja zuerst ein Kammerjäger und dann erst ein Schatzgräber.
Die Zeiten wandeln sich; einst hat der Greifenstein die Blankenburger zugleich geschützt und geplündert, und nun tun sie ihm das gleiche; er ist ihr Steinbruch, aber vor allzu argem Verfall wahren sie ihn doch – der Fremden wegen, von denen nun die halbe Stadt lebt (die andere Hälfte von allerlei Fabriken); den Sommergästen muß der romantische Aussichtspunkt erhalten bleiben. Daß der Greifenstein wie die schönste so die älteste Ruine Deutschlands ist, darauf schwört jeder Blankenburger; sie wissen auch ganz genau, wer die Burg erbaut hat, „ein Herr Greif vor zweitausend Jahren“, wie mir die Kellnerin in der Burgwirtschaft sagte und der Krämer stolz bestätigte. Dieser Herr Greif ist aber keine Erfindung der neuen Zeit, sondern des 17. Jahrhunderts; damals fand's ein Historiker: Greif war ein Sohn Karl Martells und erbaute die Burg 748; den Tag hätte der Mann auf Verlangen auch festgestellt; heute haben's die armen Geschichtsschreiber viel schwerer. Noch stolzer aber als auf den Herrn Greif sind die Blankenburger auf einen Mann, der nur acht Jahre (1837–1845) ihr Mitbürger war; sein Wohnhaus, dann seine Arbeitsstätte sind mit Gedenktafeln geschmückt, und zu seinem hundertsten Geburtstag (1882) haben sie ihm sogar ein Denkmal errichtet. Alles nicht zu viel, denn der Mann hat mehr für die Menschheit getan als alle regierenden Heinriche und Günther zusammengenommen und hat dem kleinen Nest einen unvergänglichen Ruhmestitel geschaffen; hinter der Kirche, im Kellerhaus – jetzt ist die Mädchenschule drin – entstand 1840 der erste Kindergarten der Welt. Nun weiß man, daß ich von Friedrich Fröbel spreche; im nahen Oberweißbach geboren, ließ er sich als Fünfziger hier nieder, um endlich seine Idee – die Erziehung des Kindes als „Gliedganzes“ – praktisch durchzuführen; nachdem sie sich bewährt hatte, übersiedelte er nach Schloß Marienthal bei Liebenstein, wo ihm größere Räume und Mittel zur Verfügung standen. Kein Geringer im Geist, war er ein Großer im Gemüt, und die haben's immer noch etwas härter als andere Große; man versteht heut, welcher todernste Kampf um sein Ideal sein Leben war, versteht, daß man ihn verkannte und verhöhnte, selbst das Verbot der Kindergärten in Preußen (1851), das dem alternden Manne das Herz brach, ist verständlich; es ist immer dieselbe Geschichte, solang Menschen auf Erden leben, aber sie kreuzigen doch immer nur den Körper, nicht den Geist. Man hört jetzt oft die Mahnung, Fröbel nicht zu überschätzen, das steht mir fern; auch ich weiß, wie abhängig er von Pestalozzi war; der Mensch wie der Schriftsteller sind von Schrullen nicht frei; und neben Tiefsinnigem findet sich (wie freilich gerade bei Pädagogen nicht selten, die sich immer zum Kinde bücken müssen) auch Läppisches; zudem weiß ich, durch wieviel Arbeit anderer der Kindergarten von 1840 zu dem wurde, was er heut ist. Aber ohne Fröbel hätten wir ihn nicht, und darum ist weit mehr die Mahnung am Platze, ihn nicht zu unterschätzen. Durch ihn sind Milliarden Menschenkinder ein wenig besser, ein wenig gesunder geworden, als sie sonst gewesen wären – wessen Ruhm wäre schöner?
Am kleinen Fröbeldenkmal vorbei – unweit davon steht ein viel stattlicheres für den Fürsten Georg von Rudolstadt – geht's in die hübschen Anlagen am rechten Schwarzaufer, den Gasthöfen gegenüber. Schöne Buchen und Eichen, wohlgehaltene, sanft ansteigende Pfade, bequeme Bänke und kaum eine frei. Fast immer dieselbe Idylle: vier Frauen stricken, und eine fünfte liest ihnen einen Romanstrumpf vor, den eine sechste gestrickt hat. Schon hier mußte ich an des Schusterleins Wort von den „frommen Damens“ denken, denn die „Gartenlaube“ war wirklich noch das frivolste Blatt, das ich da sah, andere Kränzchen lauschten dem „Pfarrhaus“ und labten sich am „Quellwasser fürs deutsche Haus“. Auch die Herren schienen mir nicht gottlos, wenn auch keine Asketen; auf dem Weg empor überholte ich nicht weniger als sechs dicke Männer, die schweißtriefend dahinschritten und nach den Markierungen am Wege schielten, denn Blankenburg ist ein Terrainkurort nach Örtels System, und zwei von diesen dicken Männern lasen dabei im „Reichsboten“. Da wunderte mich's weiter nicht, daß mir auf dem Weg ins Werretal eine schwarzgekleidete Dame begegnete, die mir ein Traktätlein reichte, und hundert Schritte weiter eine andere. Neben dem Aufgang zum Katzenstein steht ein Schutzhüttchen; gerührt las ich die Inschrift: „Mit höchster Genehmigung SERENISSIMI zum Andenken des 25jährigen Badejubiläums des Herrn C. T. Böhmer, Jena.“ Daneben aber saß eine dritte Dame in feierlichem Schwarz, von der ich ein drittes Traktätlein erhielt. Ich ging weiter, zur Rechten die Abhänge der Hünenkuppe, zur Linken das schöne Waldtal der Werre, bis zum Werresitz, wo sich das Tal teilt. Wald, so weit das Auge trägt, nur Wald – es ist sehr schön hier und sehr einsam. Dann kehrte ich zurück und kletterte die Felstreppe des Katzenstein empor, eine Art natürlichen Erkers, von dem man weithin ins Schwarzatal sehen kann. Es war ein heißer Tag, und wie ich oben zwischen den Felsen stand, die eine dumpfe Glut ausströmten, befiel mich ein Schwindel; auch war ich sehr müde und hungrig. Mit wankenden Knien kletterte ich wieder hinab und sank fast ohnmächtig auf das Bänkchen, auf dem auch die Dame mit den Traktätlein saß. Und da begegnete mir etwas, was mich sehr, sehr traurig machte, denn ein langes Leben hat mich gelehrt, zu erkennen, daß die Religion für die meisten Menschen der einzige Quell idealer Gesinnung ist, und darum tut's mir in der Seele weh, wenn ich sehe, daß gerade sie einzelne hart und roh macht. Die Dame, sie war noch jung und offenbar gebildet, sah mich scharf an: „Sie sind ja totenblaß? Sie scheinen sehr unwohl!“ Ich dankte mühsam, es würde bald vorbeigehen. Darauf sie hart und schroff: „Woher wissen Sie das? Lesen Sie lieber dies Blatt und beherzigen Sie es.“ Es war ein Traktätlein der Barmener Mission, das in derben Worten mahnte, die letzte Stunde sei nahe. Stumm las ich das Blatt und ging zu Tal...
Im kühlen Speisesaal des „Chrysopras“ fühlte ich mich bald wieder wohl. Ich saß an der Table d'hôte der Leipziger Dame gegenüber, die auf dem Greifenstein ihrer Freundin die Beiträge zur Sittengeschichte ihrer Stadt mitgeteilt hatte, und konnte leicht bemerken, daß mich da der Zufall sehr begnadet hatte, sie war sichtlich die Königin dieses Kreises, von allen verehrt, aber auch gegen jedermann huldvoll. Auch mich fragte sie leutselig, wie es mir oben gefallen hätte. „Ja“, sagte sie, „ä boetisches Blätzchen, aber fer Leide von Gefiehl doch ooch sehr wehmiedhig! Der arme Keenigk Gündher! So frieh sterben, und ä wiestes Weib hatte er ooch!“ Das fiel mir auf, denn von Günthers Gemahlin weiß die Geschichte nichts zu sagen, als daß sie lebte. Ich fragte also. Sie zuckte die Achseln. „Hibsch war se ja un stark, aber eben ä brudale Berson! Wenn er nich barierte, gab's uff 'n Fleck Hiebe! Nur wenn ihm sein Schwager half, brachte er ihr Räsong bei; da bassierde viel, man gann als Dame nich alles erzählen...“ Ehrfurchtsvoll lauschte die Runde, ich aber fragte schüchtern, woher sie das wüßte. „Aus der Liddraduhr“, war die stolze Antwort, „ooch in Ferschen.“ In Versen? Da durchzuckte mich die Erkenntnis, sie meinte Gunther, Brunhilde und Siegfried.
So hatte mir das Schicksal gegönnt, binnen einer Stunde eine wahrhaft fromme und eine wahrhaft gebildete Dame kennenzulernen. –