Abschnitt. 6 - Recht habe ich dies schöne Stück Erde erst kennengelernt, als ich es zu Fuß durchschritt.

Recht habe ich dies schöne Stück Erde erst kennengelernt, als ich es zu Fuß durchschritt. Es ist der Mühe wert, obwohl man dabei weniger Überraschungen erlebt als in anderen kürzeren, weniger berühmten Tälern, namentlich der Alpen. Immer geht's zwischen Fels und Wald an der Schwarza dahin, und das Bild ist wohl hier heiterer, dort düsterer, aber stets wild und anmutig zugleich; Unheimliches oder auch nur Gewaltiges ist hier nicht zu sehen, so wenig wie Zahmes und Artiges. Darum kann man wohl auch von Menschen mit übersatten Sinnen, denen Fackeln ins Auge stechen müssen, damit sie Licht sehen, oder von der Legion anderer, die vortreffliche Augen haben und doch nicht sehen, die Äußerung hören, für einen Kilometer reiche der einförmige Reiz aus, aber nicht für zehn. Mir aber war die Wegstrecke für die Beine gerade lang genug, aber den Augen wäre die dreifache zu kurz gewesen. Denn in Wahrheit ist kein Streckchen dem andern gleich, und jedes hat seinen besonderen Reiz. Freilich, die Schwarza gibt's auf dem ganzen Wege und Wald und Felsen auch, aber wie verschieden sind sie!
Wer von Schwarzburg auszieht, kommt zuerst durch hellen, heitern Buchenwald, und auch die Felsen, deren einer die Aufschrift „Fürst Günther“ trägt, sehen nicht finster drein. Dann weicht die Buche der Tanne, ohne sich doch ganz verdrängen zu lassen, und während der Wanderer so den schattigen Fußsteig dahinschreitet, dicht zur Rechten die Schwarza, zur Linken aber in respektvoller Entfernung die Chaussee, kann er seine Freude dran haben, in wie unsäglicher Fülle der Variationen das glänzende Hellgrün des Laubs und das stumpfe Tiefgrün der Nadeln gegeneinander spielen; bald sind dem Tannenmeer die Buchen nur eingesprengt wie leuchtende Inseln, bald den Buchen die Tannen wie ragende Hügel, und an anderen Hängen schlingen sie sich ineinander.
Verschieden ist auch die Schwarza anzusehen. Bald fließt sie in tiefer, breiter, schattiger Schlucht dahin; man hört sie nur leise murmeln, und tritt man ans Ufer, dann schießt unten die Flut glatt, rasch und dunkel dahin. Aber nun senkt sich das Ufer, die Bäume treten zurück, da schimmert die Flut blaugrün in der Sonne und schäumt über die Steine im Bette. Die Steine werden zu kleinen Felsen, rings um sie bahnt sich der Fluß im schmalen Bette den Weg talab, daß sein Grollen das Gezwitscher der Vögel, selbst das mächtige Rauschen und Klingen im Geäst übertönt und der Gischt emporspritzt; scheint die Sonne hinein, so zittert ein Stücklein Regenbogen über den Wassern. Dann wieder weichen die Ufer zurück, und der Fluß spielt seicht und kristallen über den Sand am Grunde, die flachen Steinchen und das Wurzelwerk der Tannen; an solchen Stellen sieht man erst, wie fischreich er ist; Hunderte von Fischlein durchschlängeln wohlig die warme Flut und schnellen sich mit den Wellen um die Wette ans Licht empor und bergen sich dann wieder im Dunkel. Das ist ein Blitzen, das einen blendet, als schimmerten tausend Goldkörnchen in der Sonne. Und vielleicht ist auch wirklich ein Körnchen darunter, die Schwarza ist ja goldhaltig. Freilich in so geringem Maß, daß der „Schwarzahort“ immer mehr einen Fluch als einen Segen für die Talleute bedeutet hat. Um 1500, da das Goldfieber die Menschen noch stärker als gewöhnlich schüttelte, zudem der Preis des Metalls ein ungewöhnlich hoher war, wurden hier die ersten Seifen (Goldwäschen) eingerichtet; sie arbeiteten mit Verlust, aber etwas fanden sie wirklich, just so viel, daß andere glaubten, an tieferen Stellen und mit besserem Gerät glücklicher zu sein; dreißig Jahre später gab's zwanzig solche Gewerkschaften im Tal; sie gingen alle zugrunde, Hunderte von Talern gewann man, und Zehntausende verschlang der Betrieb. Aber die Opfer schreckten nicht, immer wieder fanden sich Unternehmer, und als 1800 zufällig ein größerer Fund glückte – man fand beim Graben eines Wehrs ob Schwarzburg auf Quarz aufsitzend ein Goldklümpchen von drei Dukaten Wert –, da verlockte der Golddurst zu neuen Mühen und neuen Verlusten.
Heute läßt man hier dem Fluß sein Gold wie im oberen Tal dem Quarz der Felsen. Nur wenn eine Verlobung im fürstlichen Haus stattgefunden hat, jagt man wieder den winzigen Goldplättchen im Geröll des Flusses nach; die Schwarzburger Fürsten haben immer Trauringe aus Schwarzagold getragen. Teure Ringe, denn mehr als um vier Groschen täglich kann man nirgendwo „seifen“. So erzählte mir ein altes Schusterlein, das die Gasthöfe im Tal ablief, ob's nirgendwo was zu flicken gebe, und ein Stück Weges mit mir ging. Mit Schustern rede ich immer gern, es sind nachdenkliche Leute, auch dieser da war's. „Ja, wie soll man sich das nu erklären dhun?“ sagte er bedächtig. „Grad so viel Gold is drin, daß es lockt, und zu wenig, daß es langt. Und grad uns alleine auf der ganzen Welt ist so 'n Fluß bescheret.“ Das sei nicht so, meinte ich; in meiner Heimat, sehr weit von hier, sei auch so ein Fluß, die goldene Bistrizza. Die Talleute dort erklärten sich die Sache so, daß der liebe Gott das Gold hineingetan und der Teufel es verkrümelt hätte. Der Alte lächelte schalkhaft: „Das müssen Se den frommen Damens in Blankenburg erzählen, lieber Herre, die glauben rechtschaffen an den Teufel und freuen sich, von ihm zu hören. Ich aber möchte glauben dhun: das is einfach eine Naduhrsache, und darüber zerbricht man sich umsunsten den Kopp... Solche merkwierdige Naduhrsachen gibt's gar viele“, fuhr er fort. „Zum Beispiel, was Cordobang is, werden Se wohl wissen, dieses ist das feinste Leder. Und da liegt nu – hören Se! – ein Viertelstündchen hinterm Schweizerhaus, gegen Fröbitz zu, ein armseliges Dorf, und dieses Dorf, wo die Leute nich mal am Sonntag Stiebeln tragen, sondern barfuß loofen, heißt – hören Se! – ooch Cordobang! Können Sie mir das erklären dhun?“ Das hätte ich wohl gekonnt; das Leder heißt Corduan nach der Stadt Cordova und der Weiler Cordobang, nach irgendeinem verstümmelten deutschen Eigennamen. Aber was hätte es genützt, wenn ich dem Manne diese eine „Naduhrsache“ aufgeklärt hätte – es gibt so viele andere, mit denen wir beide zusammen nie hätten fertig werden können.
Das „Schweizerhaus“, wo der Weg nach diesem Rätsel abzweigt, ist die Wohnung eines Wildwärters, der durch eine stattliche Magd auch Bier und Milch ausschenken läßt, und diese Magd heißt – die Ästhetiker mahnen uns immer, in unsere Schilderungen durch Einzelheiten Farbe zu bringen, und ich sehe gar nicht ein, warum ich hier die Farbe sparen sollte, da ich sie zufällig auf der Palette habe – die dicke Kathrin. Als ich sie zuerst sah – der Omnibuskutscher hatte auch hier auf meine Gesundheit getrunken –, war sie sehr lustig, jetzt aber blickte sie ordentlich düster drein. Den Grund wollte sie mir nicht sagen, aber ehe ich aufbrach, fragte sie scheinbar unbefangen, ob ich denn schon die große Neuigkeit gehört hätte, von der alle Welt im Tal rede, der Kutscher habe sich mit dem Zimmermädchen vom „Chrysopras“ bei Blankenburg verlobt. Ich wußte es noch nicht, aber nun verstand ich alles.
Bis zum „Schweizerhaus“ sorgen eigentlich nur Fluß und Wald für die Abwechslung, Berg und Felsen bleiben sich an Höhe und Form ziemlich gleich. Hier aber beginnen sie jählings emporzuwachsen, und auch ihre Form und Farbe wechseln von Schritt zu Schritt. Das ist keine Übertreibung, denn es ist Tonschiefer, und man weiß, wie seltsam, scharf und zackig sich dies Gestein unter dem Einfluß der Sonne und des Wassers formt. Dazu die unzähligen schroffen Windungen des Tals; hundert Schritte lang drängt das Gestein links vor und dann wieder das rechts; so geht's immer im Zickzack, immer in kurzen tiefen Schluchten dahin, und immer hat man die Empfindung: dies ist die letzte, und es geht nicht weiter – aber da rauscht ja neben dem Wanderer fröhlich der tapfere Genoß und Pfadgräber, die Schwarza. Ihr ist auch die erst ein Jahrhundert alte Chaussee gefolgt; französische Schule: man trotzt der Natur nicht, sondern sucht sich ihr anzuschmiegen. Wer eine der steilen, aber unschwer zu erklimmenden Kuppen besteigt, den Griesbachfelsen zum Beispiel – auch die Teufelstreppe, die zu ihm emporführt, ist das Werk eines braven, vorsorglichen Teufels –, und nun hinabblickt, hat die Empfindung, als wäre das Gestein von launischer Kinderhand wie mit der Laubsäge entzweigeteilt; so abenteuerlich sind die Krümmungen des Flußtals. Darum wechselt auch so oft die Beleuchtung, immerzu hüpft der Sonnenschein von der linken zur rechten Bergwand und umgekehrt. Auch diese Wände zeigen alle Spielarten der Farbe und Form. Rot, braun, schwarz erscheint der Schiefer, je nach dem Grad der Verwitterung, dazwischen steht das Grau des Sandsteins; von hellgrünen Büschen durchwachsenes Geröll bedeckt die Abhänge, mittendrin leuchtet das Rot wilder Rosen, droben stehen schwarzgrüne uralte Tannen, deren Wurzeln wie mächtige Bogen die Luft durchschneiden, denn das Geröll, durch das sie sich einst wanden, den Felsboden zu erreichen, ist zur Tiefe gestürzt; über ihnen aber blinkt in sonnengetränktem Blau das schmale Band des Himmels. Auch an verschiedener Musik fehlt's nie: Wald und Fluß rauschen, Vögel singen, der Specht klopft. Freilich singen auch die Ausflügler „Wer hat dich, du schöner Wald“ und andere Lieder dazwischen...
Und wieviel Abwechslung gibt erst die Form der Felsen! Einer sieht wie ein Riesenbecher aus, ein anderer wie eine Lyra, und damit zu Wein und Gesang das Weib nicht fehle, steht drüben ein dritter, der wie eine Dame aussieht; freilich hat sie eine gewaltige Krinoline und gar keinen Busen, aber das erste war doch einmal Mode, und das letzte kann man auch heute noch sehen. Mitten zwischen den Felsen gewahrt man die gewaltige Ruine eines gotischen Doms, ganz deutlich sind die beiden wohlerhaltenen Giebel zu sehen – aber wer hätte da oben auf die steile Höhe einen Dom gebaut? – es ist auch nur ein Witz der Natur, der Kirchfelsen. Der alte Fürst Günther hatte solche Freude daran, daß er den Felsen dekorierte; er gab ihm die Auszeichnung der blaugelben Flagge, und die weht noch heute droben. Dann sieht man weiter zur Rechten auf schattigem Felsvorsprung einen Turm; mißtrauisch guckte ich zu ihm empor, aber eine Respektsperson, der Kutscher eines fürstlichen Fouragewagens, der hier seine Pferde ausschnaufen ließ, bestätigte mir: „Dieses ist ein gemauerter Turm; er schreibt sich Eberstein. Denn dort ist der Saupark, und der Mann von der Wildsau schreibt sich auf hochdeutsch Eber.“ Da war ich ja an der rechten Schmiede und fragte, wie der Berg heiße, der sich über dem Turm erhebt. „Dieses ist die Hünenkuppe“, war die Antwort. „Hünen haben Se nämlich einst die langen Männer geheißen, die vor dem hochfürstlichen Schloß in Schwarzburg Wache gestanden haben. Auf dieser Kuppe ist Se vor fünfzig Jahren ein alter Mann gesessen, der hat die ganze Gegend abgeschrieben.“ – „Steht oben ein Haus?“ fragte ich. „Nee!“ lachte er. „So im Wald is der Alte gesessen und hat immerzu geschrieben und geschrieben, und davon ist die ganze Gegend sehr beriehmt geworden. Wie er hieß – warten Se mal, ein Wochentag – Dienstag – nee, Freitag!“ Nun wußte ich Bescheid; auf der Hünenkuppe beginnt Freytags „Ingo“, aber er hat ihn nicht dort geschrieben, sondern in seinem behaglichen Arbeitszimmer in Siebleben diktiert, „einem blitzdummen Kerl“, wie er mir im selben Arbeitszimmer erzählte, „denn vor einem denkenden Schreiber bewahr den Dichter der Himmel...“ – „Drüben steht auch 'n Boom“, fuhr mein Cicerone fort, „der heißt nach ihm Freytagsboom.“ Ich zog mein Reisebüchlein hervor. „Ja“, sagte ich, „und dann muß doch hier die Ingoklippe sein, die auch an Freytag erinnert.“ – „I bewahre!“ lachte der Kutscher. „Die Inchoklippe – das is richtig, die sehn Se gleich links oben! Aber mit deme Herrn Freytag hat das nichts zu dhun! Der Incho war Se nämlich ooch so 'n alter Hüne von der hochfürstlichen Schloßwache, ein braver deutscher Mann – jaa!“ Dann gab er dem Gespräch eine praktische Wendung, indem er seinen leeren Tabaksbeutel hervorzog. Ich verstand den Wink, und er fuhr vergnügt davon.