Abschnitt. 3 - Die Aussicht auf die Hirschwiese.

Ja, es war der Mühe wert, daß ich mir die Aussicht auf die Hirschwiese erkämpft habe, obwohl man da nie einen einzigen Hirsch sehen kann. Am ersten Tage – dem regnerischen Wetter war ein herrlicher Abend gefolgt – stand ich mit sinkender Sonne auf meinem Balkon und spähte erwartungsvoll hinab. Ich habe einst, in meiner frühen Jugend, im wald- und wildreichen Vorgebirg der Karpaten das schöne Bild oft genug gesehen; wie gegen Abend aus dem Dunkel des Waldes zuerst das starke Leittier mit gestrecktem bärtigem Hals und spähenden klugen Augen hervortritt, dann sein kleineres Weibchen und endlich das ganze Rudel der edlen Tiere mit breiter Brust, schlanken Beinen und feinem Kopf, zu äsen und zwischendurch aus dem Bach zu trinken. Und diesmal sollten's gar 70 oder 80 sein! Aber die Zeit verstrich, die Sonne ging rotglühend hinter dem Lieberholz nieder, und sie kamen nicht. Ich ging zum Abendessen ins Restaurant und fragte den Kellner, warum denn heute die Hirsche ausgeblieben wären. „Unmöglich“, sagte er kaltblütig, „Sie werden's übersehen haben!“ Am nächsten Tage erwiderte er auf die gleiche Frage: „So? Ja, man hört jetzt oft darüber klagen, die Hirsche sind in letzter Zeit nicht pünktlich.“ Kein Wunder, dachte ich, das machen sie ihren Nachbarn, den Kellnern, nach. Am dritten Tage aber begann ich zu ahnen, daß das diabolische Lachen des „Thüringer Hofs“ trotz Baedeker seine Berechtigung gehabt, und so war es auch. „Es ist eine Entrikuhe unserer Feinde“, gestand mir derselbe Jüngling. Es ist aber, obwohl der „Weiße Hirsch“ dadurch ein hübsches Schaustück verloren hat, doch keine Intrige seiner Feinde, sondern eine sehr berechtigte Maßregel des fürstlichen Oberforstamts, wenn es den Tieren den Weg zu dieser Wiese verrammelt und zu einer anderen ganz abgelegenen geöffnet hat. Die edlen Tiere wurden hier von bösen Buben wiederholt durch Geschrei und Steinwürfe behelligt. Wer die Missetäter waren, ob, wie die einen sagen, alte holländische, oder, wie die andern meinen, junge thüringische Buben, weiß ich nicht.
Trotzdem habe ich in den acht Tagen wohl ein Dutzend Hirsche gesehen, weil ich den Wald nicht bloß von meinem Fenster aus genoß. Aber auch das Nächste und Nahe habe ich mir genau angeguckt, worüber freilich nicht viel zu sagen ist.
Das Schloß abgerechnet, das für sich eine ganze Siedelung mit allem Zubehör ist, besteht der Ort aus zwei Teilen, dem Hotelviertel auf dem Schloßberg, dem Dorf Talschwarzburg an seinem Abhang und im Flußtal. Das Hotelviertel besteht aus fünf stattlichen Häusern, von denen dem Gebieter des „Weißen Hirsch“ drei zugehören, lebt schlecht und recht oder vielmehr, da Friedrichroda und Oberhof zu seinen Ungunsten emporgekommen sind, mehr schlecht als recht vom Taler des Fremden und wird im Durchschnitt nicht besser noch schlechter verwaltet als das Thüringer Gasthofwesen überhaupt. Die herrliche Waldlandschaft, die günstige Lage im Herzen Deutschlands sorgt für Zuspruch; der Mensch tut nicht viel dazu. Gründliche Wandlung könnte nur ein Gesetz bewirken: „Jeder Thüringer Wirtssohn muß, eh er das väterliche Geschäft übernimmt, ein Jahr im Schwarzwald, zwei am Rhein und drei in der Schweiz Kellner sein und bei Übernahme des Geschäfts seine Eltern ins Ausgedinge setzen. Dreinzureden haben sie nichts, namentlich nicht bezüglich der Betten, der Küche und der Notwendigkeit des Staubwedels.“ Wer in Thüringer Gasthöfen Bescheid weiß, wird diesen Gesetzentwurf nicht allzu drakonisch finden, auch hier nicht die Stimme eines Feindes, sondern die eines Freundes des schönen Landes heraushören.
Das Dorf Schwarzburg gleicht hundert anderen in Thüringen, höchstens daß es der vielen neuen, für die Sommergäste in städtischem Stil aufgeführten Häuser wegen noch etwas unhistorischer, man möchte sagen künstlicher aussieht als viele seinesgleichen; selbst die Kirche ist ein Neubau und nur die Barockkanzel von 1712. Und doch ist es eine uralte Wohnstätte; zwar erst 1072 in Urkunden genannt („Swartzinburc“), aber zweifellos noch Jahrhunderte älter. Gleichwohl trügt der erste Eindruck nicht; es ist ein Ort, der gleichsam nie um seiner selbst willen bestand, und solche Orte haben keine charakteristische Prägung, weil sie keine eigene Geschichte haben. Lange war „Swarsburg villa“ nur um des „castrum Swarsburg“ willen da, der Wohnsitz der Dienstleute, Tagelöhner und Handwerker, die im Schloß nötig waren, und jetzt ist's daneben auch gleichsam die Arbeitsstube des Hotelviertels: hier wird für die Fremden gebacken, geschlachtet, die Wäsche gewaschen. Daneben ist's eine bescheidene Konkurrenz dieses Viertels: an jedem Haus ein Aushang: „Möblierte Zimmer mit Frühstück“ und fast an jedem das Schild eines Handwerkers. In einem der Häuser am Bergabhang zu hausen mag nicht übel sein; der Blick auf dies Tal ist zwar nicht mit der Waldaussicht zu vergleichen, aber doch hübsch; auch ist die Luft rein. Warum aber die Leute, die unten im schwülen Tal bei Schuster und Gerber, Tischler und Fleischer ihre Sommerfrische halten, nicht lieber – es sind viele Berliner – in ihren Wohnungen bleiben, verstehe ich nicht; denn wenn sie etwa in Berlin C hausen, so haben sie im August auch dort ähnliche Düfte. Übrigens sieht man auch in Talschwarzburg viele elegante Toiletten und hübsche Gesichter; gestern, als ich auf einem Bänkchen am Schwarzaufer saß, sah ich sogar ein traumhaft schönes. Es war ein herrlich erblühtes blondes Mädchen mit einem Antlitz, in dem jede Linie „Reiz und Geist und Leben“ war; sie saß auf dem nächsten Bänkchen neben ihrer Mutter und sah träumend in die Wellen; ihr Antlitz hatte dabei einen Ausdruck so heißer Sehnsucht, daß er mich ergriff und rührte. Was das arme schöne Kind so bewegen mag, dachte ich. Da rührten sich die Lippen, und sie flüsterte: „Mama, gelbe Schuhe muß ich haben!“
Das interessanteste Bauwerk Schwarzburgs ist natürlich das Schloß. Es ist an sich nicht schön, aber es hat eine herrliche, unter allen Fürstensitzen Deutschlands vielleicht die herrlichste Lage, und vor allem: es hat Charakter. Etwas nüchtern, aber gediegen und heiter, nach Zweck und Emblemen ein riesiges Jagdschloß, paßt es zu dem gesunden, frohgemuten, nie hervorragenden, aber im Durchschnitt pflichttreuen Geschlecht der Wald- und Jagdgrafen, deren Wohnstätte es seit grauen Tagen ist, der einstigen Erbjägermeister Deutschlands. Mit den Schwarzburgern verglichen sind, was ihren Stammbaum betrifft, die meisten deutschen Fürstenhäuser Emporkömmlinge; zwar ihr Ahnherr Günther, der von Bonifacius getaufte heidnische Thüringer, ist in Wahrheit nicht von trotzigen Helden, sondern von devoten Christen erzeugt worden, von Hofgenealogen des 16. Jahrhunderts, aber wenn nicht schon vor 1 300, so saßen doch die Schwarzburger sicherlich bereits vor 1 000 Jahren auf dieser Burg und waren die Beherrscher dieser Jagdgründe, anfangs als Dynasten, dann als Reichsgrafen. Ihre Geschichte war immer die ihres Gaus; ihr Tun, ob nun weise oder töricht, nutzlos oder erfolgreich, immer nur auf dies Waldland gerichtet und in seine Grenzen gebannt; einen einzigen abgerechnet, haben sie sich nicht um die Welt gekümmert und die Welt nicht um sie. Auch diesen einzigen hat nicht sein eigener Wille, sondern das Drängen anderer zu kurzem, ihm verhängnisvollen Glanz erhoben; Günther XXI. war schön und stark, tapfer und ritterlich, aber weder klug noch ehrgeizig; 1349 von den Gegnern des Papstes und der Luxemburger zum deutschen König gewählt, wurde er wenige Monate später durch Gift hinweggeräumt. Zur Erinnerung nahmen seine Nachkommen den Reichsadler zum Wappen an, aber hervorgetan hat sich seither keiner von ihnen, durch Gutes so wenig wie durch Schlimmes. Die Herren taten immer wie ihre Nachbarn, sie fügten sich der thüringischen, dann der sächsischen Oberhoheit, so lang es sein mußte, und schüttelten sie ab, so bald es sein konnte, sie rafften an Land und Rechten zusammen, was erreichbar war, teilten es, als dieser verhängnisvolle Brauch unter die deutschen Fürsten kam, in die winzigsten Parzellen und suchten sie dann, als er aufhörte, wieder zu vereinigen, mit Güte, noch öfter mit Gewalt. Gleich den anderen wurden sie im 16. Jahrhundert evangelisch, kauften sich im 17. Jahrhundert einen höheren Stand (die Reichsfürstenwürde) und die damals gleichfalls allgemein üblichen Mätressen, trieben im 18. die Soldatenspielerei und wurden im 19. konstitutionell, um es mit kleinen Seitensprüngen ins Reaktionäre zu bleiben. Viel Geld hatten sie nie, aber auch nie viel Schulden. Und dies sieht man auch ihrem Hause an; es ist stattlich und wohnlich, aber nicht prunkvoll.