Abschnitt. 2 - „Weißer Hirsch“ kontra „Thüringer Hof“

Er war ganz menschenleer; nur der junge Stationschef mit roter Mütze, dem man sofort den ehemaligen Offizier ansah, ging händereibend auf und nieder, denn für einen Augusttag war's recht empfindlich kühl. Das Züglein glitt weiter, der Beamte wollte in seinem Büro verschwinden, da fragte ich ihn, ob es hier keine Omnibusse gebe. „Freilich“, erwiderte er, „aber wo stecken die Kerrels? Die sind in diesem sojenannten Sommer Jäste jar nich mehr jewohnt!... He, Wirtschaft!“ Und darauf erschienen wie auf einen Zauberruf zwei Kutscher in triefenden Mänteln, der eine lang und dünn, der andere kurz und dick, und erhoben bei meinem Anblick ein betäubendes Gebrülle. „Thüringer Hof!“ schrie der Dicke, „Weißer Hirsch!“ der Dünne. Dem übergab ich meinen Koffer und fragte, ob ein Zimmer mit der Aussicht auf die Hirschwiese frei sei. Er bejahte, und die Konkurrenz bestätigte liebenswürdig. „Fünfzig solche Zimmer können Sie dort haben, aber Hirsche – hehe!“ Es war ein wahrhaft diabolisches Lachen, das aber der „Weiße Hirsch“ durch eine vernichtende Äußerung über die Kost des „Thüringer Hofs“ in ein Wutgeheul verwandelte, worauf wir als Sieger abfuhren.
Es ist ein langer Weg, denn der Bahnhof liegt hoch oben auf einer Berghalde, das Hotel aber auf dem Schloßberg, und so führt die Straße in Windungen hinunter und dann wieder empor. Da rechts und links nichts zu sehen war als die nassen Schutzdecken des Omnibus, so knüpfte ich ein Gespräch mit dem Kutscher an. Ob die Saison gut sei? Sehr gut, versicherte er, obwohl diesmal die Stammgäste fast ganz fehlten, „denn die Leipz'ger haben noch mit deme Krach z'schaffen und die Holländer tun alles Geld dene Buren geben. Aber wir sind ja 's feinste Haus in Thüringen, da darf's nimmer voll sein. Ja, wenn wir jeden nehmen täten wie der ›Thüringer Hof‹ – die nehmen sogar Engländer!“ – „Ihr nicht?“ – „Wenn sie kommen täten“, erwiderte er stolz, „würden wir sie abweisen tun, aber der ›Weiße Hirsch‹ is für die Buren, das weiß die ganze Welt, seit die Königin Wilhelmina hier war, und da fragen sie nich erst an!“ Dann erzählte er von dem Aufenthalt der jungen Fürstin; die Wahrheit zu sagen, hatte ihm nicht so sehr ihr Trinkgeld als ihr Wuchs imponiert: „Rundere Mädelchen gibt's nich mal in Rudolstadt!“ Ich fragte, warum der „Thüringer Hof“ die Hirsche angezweifelt habe, sie stünden sogar im Baedeker. Er zuckte die Achseln. „So 'n Volk! Dem ist nichts heilig, auch der Bädéker (Paroxytonon) nich.“ Aber während er so loslegte, verstummte er plötzlich, hielt die Pferde an und zog den Hut: uns überholte eben ein reitendes Paar, der Fürst und die Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt. Da sie auf Schloß Schwarzburg hausen, so bin ich ihnen seither fast täglich begegnet; er ein stattlicher, freundlicher Herr, immer in derselben Uniform, sie eine schlanke Dame, immer im selben Reitkleid. Man kann sich ein schlichteres Auftreten kaum denken.
Kurz, nachdem ich den Herrscher des Ländchens zuerst gesehen, wurde ich von dem Gebieter des „Weißen Hirsch“ in seinem Audienzsaal, dem Vestibül des Gasthofs, empfangen. Ich bat um ein Zimmer mit Aussicht; „Sie bekommen eines nach vorn heraus“, lautete die Entschließung. Als ich nun dies Zimmer in Begleitung eines Adjutanten des Gebieters betrat, konnte ich mich überzeugen, daß es wirklich eine Aussicht hatte: trunken schweifte mein Blick über den Biergarten des „Thüringer Hof“; das Postgebäude im Hintergrunde war auch recht malerisch. Ich wandelte den Korridor auf und nieder; dabei konnte ich, da die Zimmertüren offen standen, eine Reihe hübsch möblierter Zimmer sehen, aus deren Fenstern sich ein prächtiges Waldbild bot. „Die Zimmer sind wohl alle besetzt?“ fragte ich eine würdige Greisin, die eben mit Staubtuch und Besen herankam, worauf diese Seniorin aller mitteleuropäischen Stubenmädchen seufzend erwiderte: „I du meine Güte – merschtentels nich! Sie müssen nor natürlich feste druf drucken, denn sie geben doch natierlich lieber zuerscht nor die Stuben nach vorn naus wech!“ Da suchte ich nochmals um eine Audienz nach, drückte aber nicht feste, sondern erklärte nur: „Wenn ich das Postgebäude allein bewundern darf, so will ich's doch wenigstens in seinem ganzen Reiz genießen; ich glaube, vom ›Thüringer Hof‹ macht es sich noch malerischer“, worauf ich ein Zimmer nach hinten hinaus bekam, etwas hoch zwar, aber ein schönes Zimmer mit Balkon und herrlicher Aussicht auf Wald und Wiese.
Diese Aussicht hat mich die acht Tage hier festgehalten, wenn ich minder angenehmer Dinge wegen gehen wollte, und ich werde sie nie vergessen, aber das Bild zu beschreiben wird mir schwerlich glücken, obwohl ich es ja nun noch vor mir sehe. Ich sitze hier wie im Mittelpunkt eines riesigen Halbrunds, vor mir eine weite, smaragden schimmernde Wiese, die sich in sanfter Neigung zu einem blaugrünen, rauschend und blinkend über Geröll und Felsen hinschäumenden Flüßchen hinabsenkt; rings um die Wiese aber Wald und Wald und Wald, immer höher emporsteigend, immer ferner und blauer dem Auge, bis dies Blau der hohen Forste mit dem des Himmels verschmitzt; mit unbewaffnetem Auge kann ich ihre Grenzlinie kaum erkennen. Das ist alles; nur im Vordergrund zur Linken erhebt sich auf einem Felsvorsprung ein mächtiges, graues Mauerwerk, das Schloß. Also ein eintöniges Bild, wird man denken. Eintönig? – ich habe in diesen Tagen oft die Empfindung gehabt, als hätte ich noch keine belebtere Landschaft gesehen, keine an Farben und Formen reichere. Schon wie sich die Hügel hintereinander aufbauen, dieser sanft und jener schroff, dieser breit und jener schlank, höher und höher, alle wie Stufen einer Riesentreppe aufwachsend bis in den Himmel hinein und so dem Blick zu einer Einheit gebunden und doch keiner dem andern gleich oder ähnlich, schon dies kann wahrlich das Auge beschäftigen und ergötzen. Auch die Bäume sehen selbst aus dieser Entfernung verschieden genug aus: die Tannen hoch, spitz und schlank, die Kronen der jungen stolz nach oben strebend wie eine Flamme, die der alten abgeplattet und verwachsen, als trügen sie ein Nest; die borkigen Föhren, dort, wo sie dicht zusammenstehen, mit dünner, wo sie unter Laubholz stehen, mit weit ausgreifender, kuppelförmiger Krone, als wäre ihnen auferlegt, unter ihresgleichen nicht recht gedeihen zu können, und – ich nenne nur eben die häufigsten Baumarten, aus denen diese ungeheuren Forste bestehen – die Buchen mit dem platten, starken Stamm und dem Gewirr länglicher Blätter. Aber nun erst die Farben: wie hebt sich das satte, leuchtende Grün des Wiesengrases von dem ernsten, fast schwärzlichen Farbenton der Tannen ab; dazwischen stehen die grauen Föhren mit braunrotem Stamm und die lieben Buchen mit den rötlich-weißen Ästen und den hellen glänzenden Blättern. Es ist wahr, das tiefere Grün herrscht immer vor und gibt dem Bilde etwas Ernstes und Erquickliches zugleich; aber selbst bei bedecktem Himmel ist's zwar kein buntes, aber ein farbiges Bild, und nun erst, wenn die Sonne alles Rot und Weiß aufleuchten und das Grün in hundert verschiedenen Farbtönen schimmern läßt. So lebendig wie das Meer ist der Wald nie, schon weil sich das Licht im Gezweig nicht so märchenhaft verschieden brechen kann wie in den Wassern, aber das Auge, dem er tot und einförmig erscheint, ist auch für alle andere Schönheit dieser Erde stumpf. Der Wald lebt und spricht mit tausend Stimmen. Zwar das Zwitschern seiner Vögel kann man hier zumeist nicht vernehmen, es ist zu weit; nur zuweilen trägt mir ein jäher Windstoß etwas von dem feinen Konzert zu, das fortwährt vom Morgengrauen bis gegen Mitternacht. Aber der helle Ruf des Falken wird oft hörbar, noch öfter läßt sich der Kuckuck vernehmen, und nicht selten hört man schon jetzt das seltsame, aufregende, dem Stiergebrüll ähnliche, aber stürmischere „Orgeln“ des Hirsches. Zuweilen auch fällt ein Schuß, hoffentlich auf Wild, vielleicht auch auf einen Menschen; es wird hier viel gewildert. Nie aber erstirbt ein zwiefaches Rauschen, das hellere des Bachs, das dumpfere des Laubs und der Nadeln. Es ist, als wüchse ihnen mit dem schwindenden Licht die Kraft des Tons; in der dunklen Nacht klingt es gewaltiger, sanfter im Mondschein. Wir haben jetzt Vollmond; wie so das silberne Licht die Dünste des Abends niederkämpft und dann sein Netz über die dunklen, leise rauschenden Forste spannt, ist märchenhaft anzusehen...