Abschnitt. 9 - Erfurt ist die bankloseste Stadt Deutschlands. - Aber doch auch eine der sehenswertesten.

Aber doch auch eine der sehenswertesten. Nein, daraus allein, daß sich hier niemand um den Fremden kümmert, ist der schwache Besuch nicht zu erklären. Es ist ja wahr: der Fremdenverkehr geht nur nach Orten, die Rücksicht auf die Gäste nehmen, aber noch viel wahrer ist, diese Rücksicht wird nur dort genommen, wohin der Strom geht. Ich glaube also, es hat einen anderen, sehr triftigen Grund; in vielem ist der aufrechte Zweibeiner, homo sapiens, ein Herdentier, aber am meisten in der Wahl seiner Reiseziele; nach Erfurt geht man nicht, weil man eben nicht hingeht. Und das ist schade. Die alte Erfordia ist keine lachende Schönheit, die jeden fesseln muß, aber ihr unschönes, leiddurchfurchtes und doch von unverwüstlicher Lebenskraft durchstrahltes Antlitz wird jedes erfahrene Auge fesseln. Und im Bilde zu bleiben: gerade den Frauenkenner wird das Weib anziehen... Welch ein Stadtbild! Alt und neu, schön und häßlich, Zeugnisse feiner, üppiger Kultur und öder Armseligkeit in buntem Gemisch, auf Schritt und Tritt. Ähnliches mag man, ehe wir wieder eine leidlich wohlhabende Nation geworden sind, zuweilen in Deutschland getroffen haben – ich denke zum Beispiel an Königsberg in Preußen –, aber in so scharfem Anprall der Gegensätze nicht, und für unsere Tage scheint mir das Stadtbild von Erfurt nach dieser Hinsicht vollends einzig. So einzig, daß es zu schildern schwer ist. Und ganz unmöglich wäre die Aufgabe zu lösen, wenn ich gleich mit dem Nebeneinander beginnen wollte. Erst will ich's mit dem Nacheinander versuchen und andeuten, was alles da vorging und was alles man da noch sehen kann, und dann erst, in welchem Gemisch hier die Steine, wirr durcheinander, die wild bewegte Geschichte von mehr als einem Jahrtausend erzählen.
Eine ur-, uralte Stadt – das ist, wie der erste, so der bleibende Eindruck –, eine Stadt, über der ungeheure Schicksale gewaltet haben. Während anderwärts die Geschicke sich sacht abspannen, abwechselnd trüb und heiter, wie nun einmal Menschenlos ist, wechseln hier volles Glück und schlimmstes Verderben. Und beide kommen aus derselben Quelle, dem Willen der Natur. Sie hat – sahen wir schon – Erfurt zur „Stadt der Ackerbauer“, zu einem Knotenpunkt des Verkehrs gemacht, und darum bestimmt sie der heilige Bonifacius zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit für die Christianisierung Mitteldeutschlands, zum Bischofssitz. Aber weil Stadt und Gebiet Erfurt ein so lockender Besitz sind, reißt sie Mainz an sich und legt ihnen dadurch eine furchtbare, ein Jahrtausend währende Fessel auf. Hier laufen – sahen wir ferner – die Handelswege von Ost und West, Nord und Süd zusammen; die Natur bestimmt Erfurt zum Handelsplatz, zur reichen Stadt, aber Reichtum weckt Habsucht; nach der „Henne, die die güldenen Eier legt“, strecken sich immer wieder begehrliche Fäuste und drehen ihr schier den Hals um; und was das schlimmste ist: auch den Sinn und die Kraft der eigenen Bürger verwirrt und entnervt in mehr als einem entscheidenden Augenblick das rote Gold. So ist hier alles Fluch und Segen zugleich, zumeist natürlich jenes dritte, dessen gleichfalls bereits gedacht ist: der Kranz von Felsen und wildem Gewässer, der Erfurt zur Festung macht. Ist's nicht die Üppigkeit des Bodens, so ist's der Reichtum des Stapelplatzes und zwischendurch die Bedeutung der Festung, die Erfurt immer wieder zerstören und aufbauen. Eine richtige Schicksalsstätte.
Große Menschen haben immer auch, oft nur kraft ihres genialen Instinkts, den Sinn für eine solche Stätte; sie drücken gleichsam ihr Siegel auf die Schrift der Natur. Dem heiligen Bonifacius, der erkennt, daß diese Stadt kraft der Fruchtbarkeit ihres Bodens ein unverwüstliches Leben hat, gesellt sich Karl der Große, der ihre Bedeutung als Stapelplatz erfaßt, den Marktverkehr regelt, einen eigenen Vogt zu ihrem Schutz bestellt. Die Stadt erblüht wie Baum und Blume auf ihrer Flur, in üppiger Kraft, mit einer unter deutschem Himmel seltenen Raschheit. Dem Mainzer Erzbistum untertan, wird sie zugleich Königspfalz; hierher beruft schon Ludwig der Deutsche einen wichtigen Reichstag, hier läßt Heinrich I. seinen Sohn Otto zum König wählen. Unter Umständen läßt sich zweien Herren besser dienen als einem: die Macht des Königs und die des Erzbischofs, beide nicht scharf abgegrenzt, lassen Raum für die Entwicklung eines Bürgertums, in dem sich Trotz und Kraft der alten Thüringer fortzuerben scheinen. Aber Otto III., in seiner Mischung von Herrschsucht und Askese wahrlich ein „Wunder der Welt“, tritt seine Rechte an Kurmainz ab, und Heinrich IV. leiht dem Erzbischof den gewappneten Arm, die Stadt dem Zehnten zu unterwerfen. Es geschieht nicht kampflos; Erfurt verjagt 1074 den Erzbischof und wird dann niedergeworfen und gezüchtigt. Nun ist der Mainzer sein Herr, aber auch der Landgraf von Thüringen will sein Teil an den „güldenen Eiern“, reißt die weltliche Gerichtsbarkeit an sich und setzt den Grafen von Gleichen als Stadtvogt ein. Das ist gleichermaßen ein Unglück wie ein Glück für die Stadt; denn natürlich kommen Landgraf und Erzbischof bald über die Henne in Streit; der Landgraf zerstört die Erfurter Stadtmauer, der Erzbischof baut sie mit Hülfe der Bürger wieder auf; ein andermal jagen die Bürger mit Hülfe des Landgrafen die Mainzer zur Stadt hinaus, und wieder einmal stehen Vogt und Stadt gegen den Landgrafen zusammen. So nehmen Kampf und Wirrnis kein Ende, aber weder der Mainzer noch der Thüringer, noch der Vogt können die Hülfe der Bürger missen; das ist das Glück dabei. So kommen die Bürger im 12. Jahrhundert zu immer größerer Bedeutung; nach jeder Fehde blüht Erfurt kräftiger auf; 1177 durch ein grimmes Ringen mit dem Landgrafen verwüstet und geschwächt, steht es vier Jahre später, 1181, so stolz da, daß es Friedrich Barbarossa zum Platz eines Schauspiels wählt, für das er eine besonders glänzende Folie braucht: hier muß sich Heinrich der Löwe vor ihm beugen. Dieses jähe Aufblühen nach jeder noch so harten Prüfung kommt einem Wunder gleich.
Aber es war kein Wunder, und wir wissen bereits die Erklärung. Rings um die Stadt wogte schon damals nicht Weizen oder Gerste, sondern das Blaugrün des Waids und das Goldgelb der Rapsblüte. Der Waid (Isatis tinctoria L.), im Mittelalter der einzige blaue Farbstoff, war bis ins 17. Jahrhundert hinein, wo ihn der Indigo totschlug, die Hauptquelle von Erfurts Macht und Reichtum; nicht aller Waid wurde hier gebaut, aber fast aller hier gehandelt; drei Tonnen Goldes, sagen die Chronisten, habe er jährlich der Stadt eingebracht; nicht Tausende, Zehntausende lebten als Waidjunker und -bauern, als Fuhrleute und Färber von der Blattrosette der unscheinbaren Pflanze. Auch Hopfen bauten sie und brauten früh vortreffliches Bier; dabei bogen sich in jener gesegneten Zeit die Spaliere auf den sonnigen Hängen um Erfurt von schweren Reben – die Weinkultur gehört zu dem wenigen Guten, was den Erfurtern von Mainz her wurde, der Erzbischof sandte Winzer und Schößlinge vom Rhein. Daneben bauten sie Anis und Koriander, vor allem aber das beste Gemüse in Deutschland; Blumen, wie man sie sonst kaum wo sah: „des Heiligen Römischen Reichs Gärtner“ hießen die Erfurter erst später, aber sie waren es schon im 12. Jahrhundert. Gerühmt wird auch die Bienen-, als Wichtigeres aber die Rinderzucht; so große Wiesen wie andere Ackerbürger hatten die von Erfurt nicht, dazu war der Boden zu kostbar, aber um so üppiger schoß hier auf den kleinen Weideflächen das Gras empor. „Ein Kanaan, wo Milch und Honig fließt“, erschien jenes alte Erfurt seinen Dichtern und Chronisten.
Man sieht, die „Stadt der Ackerbauer“ war Erfurt geblieben, aber daneben war es schon längst zu einer Stätte blühenden Gewerbefleißes geworden. Was immer deutsche Bürger vor 700 Jahren zustande brachten, konnten die Erfurter auch, und einiges besser als andere; die Schwertfeger, die Löwer (Gerber), die Schegener (Flachsweber) und die Tuchmacher waren weithin berühmte Gilden; die berühmteste von Erfurt war nur hier zu finden, die der Weiter, der Färber und Händler mit Wald. Gleich viel Geld aber brachte der Handel in die Stadt, „die Erfurter Bürger durften sich rühmen, daß ihre Stadt im Warenvertrieb einem Herzen gleiche, von und nach dem das Adernsystem das ganze deutsche Vaterland durchziehe“ (A. Kirchhoff, „Die ältesten Weistümer der Stadt Erfurt“). Von Norden kamen Heringe und Eisen, von Süden Nüsse, Gewürze und Seide, von Osten der Bernstein und die Salben des Morgenlandes, von Westen Juwelen und kostbare Stoffe. Die Natur hatte Erfurt die günstige Lage beschieden; die Menschen aber schufen gute Straßen und kluge Gesetze. Wer nur durch Erfurt fuhr, mußte Zoll erlegen; wer hier stapelte, blieb von Abgaben frei. So ernährte auch der Handel Tausende; in Erfurt hungerte niemand. Wohl aber anderwärts in dieser harten, dunklen Zeit. Daher wirkte Erfurt wie ein Magnet, und jede Lücke, die Feuer und Schwert in die Reihen rissen, fand zehnfachen Ersatz.
Nicht bloß die Bücher erzählen von diesem Erfurt um 1200; man sieht noch heute seine Spuren, nur muß man die Augen recht gebrauchen. Freilich, eine Waid habe ich nicht gesehen, sooft ich auch bei meinen Gängen durch Felder und Gärten nach dem schlanken Stengel mit pfeilartig aufsitzenden Blättern ausspähte. Und doch wurde sie zuletzt noch vor 90 Jahren, während der Kontinentalsperre, wo der Indigo nicht ins Land konnte, im großen angebaut und selbst vor 40 Jahren noch zeitweilig als Hackfrucht gezogen. Heut bin ich ihr zwar anderwärts in Thüringen begegnet, bei Arnstadt zum Beispiel, in Erfurt nicht. Selbst in den riesigen Gewächshäusern und Plantagen von J. C. Schmidt und Benary suchte ich diese größte Wohltäterin Erfurts vergeblich. „Waid?“ antwortete mir beim Blumenschmidt ein höchst eleganter Verkäufer. „Unbekannt! Selbst geborener Erfurter! Nie gehört!“ Man darf von einem Herrn, der zu beschäftigt ist, um in ganzen Sätzen zu sprechen, nicht verlangen, daß er die Geschichte seiner Vaterstadt kenne, aber daß heute kein Erfurter Kind erfahren kann, wie die Pflanze ausgesehen hat, ohne die es vielleicht jetzt kein Erfurt mehr gäbe, hat mich doch gewundert. Freilich, wir Menschen sind selbst gegen Menschen nicht dankbar – und sollten es gegen Pflanzen sein? Auch daß es noch eine Weitergasse in Erfurt gibt, spricht nicht dagegen; sie zweigt vom Anger ab, wo die Waidmärkte abgehalten wurden. Allerdings mögen nicht alle Erfurter wissen, warum sie so heißt; mein feuchter Gönner Christoph Martin Wieland zum Beispiel, dessen Droschke ich aus Verehrung für den „Oberon“ noch oft benützte, wußte es nicht. Ich erklärte es ihm, als wir hindurchfuhren, und meinte, damals hätten wohl viele Erfurter so schön himmelblaue Nasen gehabt wie er. „Määglich“, erwiderte er ernst, „daß ich's dadervon habe, meu' sind alde Aarforder.“ Diese Anwendung der Vererbungstheorie ist noch immer plausibler als die Antwort, die mir meines Vaters Kutscher zu geben pflegte, wenn ich ihn fragte, warum er immer nach Schnaps rieche. „Jungherr“, sagte der alte Fedko gekränkt, „mit eines Menschen Unglück spaßt man nicht. Ich bin als Kind von einem Birnbaum gefallen, und seitdem gebe ich diesen Geruch von mir.“
Mit der Farbpflanze aus dem Mittelalter war es also nichts, hingegen habe ich bei einem Spaziergang gegen Hochheim hin noch selber Rebstöcke gesehen und die dürftigen grünen Trauben mitleidsvoll gestreichelt. Ob heute noch aus ihnen Wein gekeltert wird, weiß ich nicht, mein Hotelwirt verneinte es: „Kein Bedarf, lieber Herr, wir haben hier billigen Essig.“ Und doch verzeichnet Olearius als die drei W, auf die Thüringens Hauptstadt stolz sein dürfe, „Wein et Wolle et Waid“, und der alte Eobanus Hessus, der hier 1517 Professor wurde, schätzt in einer seiner Idyllen den Erfurter Wein höher als alle Weine des Rheins. Und da Hessus sich als fahrender Scholar weit umgetan hat und da Luther ihn den „rex poetarum“ nennt, was er nicht getan hätte, wenn er ein Dichter ohne Trinkverstand gewesen wäre, so habe ich von vornherein vermutet, daß die Schuld nicht an dem braven Hessus liege, sondern an der Entartung des Erfurter Weins, und in einem der dicken alten Schmöker, die ich in meinen Erfurter Tagen durchsah, weil mir eine Stadt um so mehr Spaß macht, je mehr ich von ihr weiß, fand ich meine Vermutung bestätigt. Die endlosen Belagerungen, sagt der gelehrte Verfasser, hätten verschuldet, daß die Reben, jahrelang ohne Pflege, schließlich ganz verwilderten. Da wäre denn der Wein von Erfurt eine der vielen Gaben, die der ewige Kriegssturm der Stadt geraubt hat.
Pflanzen vergehen, Steine bestehen. Dicht am Anger, hinter dem Lutherdenkmal, ragt inmitten uralter Bäume der düstere Bau der Kaufmannskirche empor, der älteste Teil neun, aber selbst der jüngste schon sieben Jahrhunderte alt. Wer aus dem Gewühl des Marktes unter diese rauschenden Bäume tritt, in deren Schatten es ewig feucht, kühl und dämmrig ist, und zu dem gewaltigen Bau emporblickt, müßte sehr stumpf sein, um nicht Ehrfurcht vor dem starken Geschlecht zu empfinden, das ihn so derb und kunstvoll zugleich emporgetürmt hat, vor fast einem Jahrtausend und für Jahrtausende. Nur an wenigen Orten Deutschlands, so namentlich am Hildesheimer Domplatz, schlägt einem so der Hauch uralten deutschen Wesens, der dämmerigen Morgenzeit unserer nationalen Kultur entgegen wie unter diesen Bäumen. Das Innere aber blieb mir verschlossen wie das aller evangelischen Kirchen Erfurts; hier war der Küster zur Abwechslung zwar zu Hause, aber, wie er mir aus einer Tabakswolke entgegenrief, „zu beschäftigt“, vermutlich muß er täglich eine bestimmte Anzahl Pfeifen rauchen. Nun, in sein Schicksal muß sich der Mensch finden. Den starken Eindruck des Äußeren konnte mir mein Mißgeschick hier ebensowenig trüben wie bei der Barfüßer-, Prediger- und Reglerkirche, die sämtlich auch aus dem 12. Jahrhundert stammen, also gleichfalls Wahrzeichen des jungen, unter tausend Fährlichkeiten emporgediehenen Gemeinwesens sind. Ein anderes solches Wahrzeichen, die St. Laurentiikirche in der alten Schlösserstraße, zu der ich eben deshalb pilgerte, ist vor zwölf Jahren von Grund aus so schrecklich schön umgebaut worden, daß sich der Gast mit Grausen wendet; hingegen ragt die in gleicher Zeit erbaute Schottenkirche mit ihren riesigen Pfeilern und winzigen Bogenfenstern noch fast unverändert empor. Als ich vor dem ehrwürdigen, altersgrauen Gemäuer stand, trat ein zierliches, rosenwangiges Männchen mit geöltem Haar, eine schwere Goldkette über dem Spitzbäuchlein, ein Spazierstöckchen in der beringten Hand, gleichfalls heran. „Schgandahl!“ sagte er entrüstet. „Verwahrlost gönnde man fast sachen! Ne Girche muß appedidlich sein wie 'ne Apodheke!“ Der Vergleich fiel mir auf; das freundliche Wesen, das geölte Haar – kein Zweifel, ein Pillenherr von der Elbe oder Pleiße. „Sie sind wohl Apotheker?“ fragte ich. „Ei ja – Sie wohl ooch?“ Nun habe ich seit dreißig Jahren allerdings ein kleines Laboratorium, in welchem ich ehrlichen Herzens, wenn auch mit schwacher Kraft allerlei Tränklein gegen die Krankheiten der Zeit braue, aber einen Apotheker darf ich mich deshalb doch nicht nennen. Ich verneinte also und empfahl dem Freunde „appedidlicher“ Kirchen die St. Laurentiikirche. Sie ist geeignet, ihm Freude zu machen.
Einen noch stärkeren Eindruck aber als von irgendeiner, selbst von der Kaufmannskirche habe ich von einem anderen Überrest des uralten Erfurt empfangen, von der Krämerbrücke. Von einem gewaltigen, viereckigen, mit spitz zulaufendem Helm gekrönten Kirchlein, St. Ägidien, als Brückenkopf geschützt, öffnet sich auf einer Steinbrücke über der Gera eine enge Gasse alter, mit Kaufläden versehener Häuser; trotz des Gewühls hört man unten den wilden Fluß rauschen, aber man sieht ihn nirgendwo, nur vom Ufer kann man sehen, wie die Häuser auf dem Brückenbogen ruhen, in deren Wölbungen ihre Keller wie Schwalbennester kleben. Es ist kaum zu sagen, wie seltsam, wie so recht mittelalterlich dies Gäßlein anmutet; wer hindurchgeht wird versucht, mit offenen Augen zu träumen, obwohl von den Häusern der größte Teil erst aus dem 17. Jahrhundert stammen dürfte und obwohl sie heute unter anderem auch Maggi und Van Houtens Kakao dort feilbieten. Aber die Phantasie wird rege und setzt an die Stelle der Männer von heute Ritter in stählernem Waffenrock, Bürger in buntem Tuchwams, Bauern in härenem Flaus; dazu Frauen im faltigen Gewand in allen Farben des Regenbogens und Jungfrauen in knappem, blauem Mieder über dem dunklen Tuchrock, den Blumenkranz oder das Schappel im blonden Haar, und Beginen in langem, grauem Sack und mit niedergeschlagenen Augen. Aber freilich, nicht alle diese Büßerinnen schlugen die Augen nieder, wenn man dem bösen Erfurter Dichter Nikolaus von Bibera trauen darf, der so Erbauliches von den metrischen Arbeiten der Beginen zu berichten weiß, immer in Daktylen oder anderen Dreifüßlern, aber man frage mich nicht, warum. An diese Art von Beginen wird man sogar auf der Krämerbrücke sehr oft erinnert; koketter können sie nicht gewesen sein als die unzähligen Näherinnen, die jetzt hier herumlaufen, gibt es doch zur Zeit in Erfurt fünfzehn Mäntelfabriken... Wer hier einst wandelte, das habe ich mir so annähernd ausmalen können, aber nicht entfernt, was alles hier verkauft wurde. „Hier die fremden Tuchstoffe“, berichtet der bereits zitierte Geschichtsschreiber Erfurts, „Samt und Seide, dort duftige Spezereien, Wachs, süßer Kandit, Zuckermehl und Muschetin, Büchsen mit Pfeffer, Safran und Ingwer... Ist es doch hie und da, als wenn des Orients Schätze aus dem Füllhorn eines Zauberers ausgeschüttet wären... Schöne Verkäuferinnen versetzen uns durch ihre phantastische Kleidung auf die Basare der fernsten Lande...“ Ich sag's ehrlich: was immer mir die Phantasie, von ihren stärksten Helfern, Auge und Nase, gefördert, auf der Krämerbrücke vorgaukelte, schöne Verkäuferinnen nicht und duftige Spezereien womöglich noch weniger... Aber trotzdem rat ich jedem, der in Erfurt verweilt, sich dies Stück Mittelalter anzusehen. Namentlich in der Dämmerung, wenn die modischen Gewänder und die neuen Ladenschilder verschwimmen und der Fluß stärker unter der engen Häuserzeile rauscht, wird einem wie verzaubert zumute...
Hier war Kraft und Geld und hochgemuter Sinn, und darum kam Erfurt auf und schwang sich lange nach jedem Schicksalsschlag kräftiger empor. Aber Mut bleibt ja die größte Weisheit auf Erden, und vielleicht glückte ihnen deshalb mehr, weil sie mehr einsetzten. Schon was wir bisher von den Wagnissen der Bürger vernommen, grenzt ans Kühnste, was im deutschen Mittelalter versucht wurde, und nun gar die Rolle, die sich Erfurt im 13. Jahrhundert herausnahm! In den Kämpfen, die nach Heinrichs IV. Tode hereinbrachen, war Erfurt, obwohl doch halb dem welfischen Landgrafen Hermann von Thüringen, halb dem welfischen Mainzer Erzbischof Siegfried II. untertan, gut ghibellinisch, huldigte dem Sohne des großen Barbarossa, Philipp von Schwaben, und öffnete seinem Anhänger, Luitpold von Worms, den die Ghibellinen auf den Mainzer Stuhl setzen wollten, die Tore. Nicht zum ersten Male wurde in den furchtbaren Kämpfen, die nun folgten, Erfurt belagert, sein Gebiet verwüstet, aber zum ersten Male griff es als eine Macht in die deutschen Händel ein, der städtische Kernpunkt der Waiblinger wie Köln der Welfen. Die Erfurter wagten's, ob nun aus demselben deutschen Gefühl heraus, das die Edelsten jener Zeit unter Philipps Fahnen führte, ob nur, weil ihnen alles paßte, was gegen ihren Mainzer Zwingherrn ging – genug, sie taten's, und wie schweren Preis sie auch dafür bezahlen mußten, ihr Ziel ward erreicht: nun wußte Deutschland, was Erfurts Bürgerkraft bedeute. Immer gegen Mainz, öffnete dann die Stadt dem vom Papst gebannten Otto IV. ihre Tore und wehrte sich später gegen den gewalttätigen Erzbischof Siegfried III. auf das äußerste; ihre Hoffnung war der Kaiser. Aber Friedrich II., der Städtefreiheit abhold, schützte sie nicht, sondern fügte sogar, als sie dem Mainzer Heerfolge und Steuer verweigerten, dem Bann der Kirche die kaiserliche Acht hinzu. Ihr Geld kaufte die Bürger von beidem los, aber da fast gleichzeitig auch die weltliche Gerichtsbarkeit an Mainz fiel, so waren sie nun scheinbar völlig dem Erzstuhl untertan. Nur scheinbar; die innere Machtfülle Erfurts war eine Tatsache, die ihr Recht forderte. Und so kam es 1255 zu einer in ihrer Art einzigen Verfassung: dem Bischof blieb zwar dem Namen nach die Souveränität, aber er hatte, Ehrengaben geringen Wertes abgerechnet, nichts zu fordern und, wo ihm nicht etwa das Interdikt als Waffe diente, von Rechts wegen nichts zu befehlen. Der eigentliche Regent der Stadt war der Rat der Vierzehn, der frei über fast allem schaltete, was sonst dem Landesherrn zusteht, und nicht allein im Innern: hatte er doch sogar das Recht, auswärtigen Mächten den Krieg zu erklären, Frieden zu schließen und Bündnisse einzugehen. Man sieht, so gut wie die Häupter irgendeiner freien Reichsstadt hatten die Erfurter Ratsmeister das Recht auf den stolzen Titel, den sie führten: Consules. Das Leben ist immer unendlich vielgestaltiger als alle Theorie; kein Terminus des Staatsrechts umreißt das Verhältnis zwischen Mainz und Erfurt; es ging in vielem über die Suzeränität hinaus, blieb in anderem hinter ihr zurück; so wurden zum Beispiel die Urteile vom Grafen-Vogt im Namen des Erzstifts verkündet, hingegen Lehen vom Reich und den Nachbarfürsten im eigenen Namen erworben. Ob Erfurt recht daran tat, sich mit dieser Stellung zu begnügen, statt die volle Souveränität als Reichsstadt zu erringen, warum es dies unterließ, soll später angedeutet sein. Jedenfalls hatte es durch zwei Jahrhunderte keinen zwingenden Grund, eine Änderung anzustreben, es kam unter der Herrschaft seiner Ratsmeister, die dem Mainzer und seinem Lehensmann, dem Grafen-Vogt von Gleichen, den Treueid leisten mußten, so hoch oder noch höher empor als irgendeine Reichsstadt vom 12. bis zum 15. Jahrhundert.
Ohne schwere, harte Kämpfe ging auch dies nicht ab; Ströme Bluts bezeichnen den Weg von dem kleinen, wenn auch blühenden Acker- und Handelsstädtchen zur Großstadt Mitteldeutschlands, von dem bischöflichen Eigen zur Beherrscherin eines stattlichen Gebiets. Immer wieder weht das weiße Rad im roten Feld über der gewaffneten Schar der Bürger und ihrer Söldner, bald zur Erhaltung des Besitzes, bald zur Eroberung. Der Chronist mag die zahllosen Kriegszüge in Trutz- und Schutzfehden zu scheiden suchen, unserem Auge fließen sie in eins zusammen; wer unablässig immer mehr Gut und Macht begehrt, ist auch dann ein Eroberer, wenn er das Erraffte zeitweise mit dem Schwert verteidigen muß. Selbst die „kaiserlose, die schreckliche Zeit“ schlug den Erfurtern gut an; noch besser die Regierung Rudolfs von Habsburg; hier hielt er fast ein Jahr (1290) Hof; das Peterskloster, wo er residierte, war der Schauplatz stolzer Feste, deren Ruf bis über die Alpen drang; ein Volksfest der Erfurter, der „grüne Montag“, erinnert noch heute an diese fröhlichen Zeiten. Erfurts Bürgerschaft war Rudolfs Arm, als er die Thüringer Raubburgen brach, und ihr Säckel der des armen Schweizer Grafen; freilich schenkten sie ihm nichts. Ihm nicht und keinem der ewig geldbedürftigen Herren im Lande. Die Art, wie sie zu einzelnen Dörfern, dann zu ganzen Grafschaften kamen, war fast immer dieselbe: es waren zunächst Pfänder für Darlehen. So kam die Grafschaft an der Schmalen Gera, so die von Kapellendorf an Erfurt; Vargula, Sömmerda, die Landschaft um die Drei Gleichen wuchsen seinem Gebiet zu, das an Größe und Zahl der Bewohner manches Fürstentum überstrahlte. Kein Wunder, daß die Landgrafen von Thüringen, die Kurfürsten von Sachsen, von geringeren Herren zu schweigen, immer wieder ihre Hand nach der reichen Stadt streckten; auch mit seinen Mainzer Schutzherren geriet Erfurt je nach dem Zeitenlauf und namentlich je nach der Sinnesart dieser Kirchenfürsten auch wieder in Kämpfe; war einer von ihnen kriegerisch und herrschsüchtig, so suchte er „des Erzstuhls getreue Magd“, die in Wahrheit selbst eine Herrin war, zur Sklavin zu machen; es gelang nicht. Wieviel Einwohner Erfurt zur Zeit seiner höchsten Blüte, um 1420, zählte, ist noch heute ein Gegenstand des Streits seiner Geschichtsschreiber, der an Heftigkeit an die Fehden jener Zeit erinnert: die höchste Schätzung geht auf 80 000 Seelen, aber selbst die geringste auf die Hälfte; auch dies noch doppelt soviel, als Nürnberg im Mittelalter hatte. Also eine der volkreichsten Städte Deutschlands und sicherlich die geldreichste. Aber noch mehr, die geistig strebsamsten die gebildetste. Nur so erklärt es sich, daß diese damals formal einem Gebieter unterworfene Handelsstadt eine Kulturtat vollbrachte, deren sich in Europa keine andere berühmen darf: aus eigenen Mitteln schuf Erfurt, von keinem Fürsten gefördert, von vielen behindert, 1378 eine Universität, nächst Prag und Wien die älteste in Deutschland, zugleich die erste, die alle vier Fakultäten aufwies. Eine Hochburg des aufstrebenden Humanismus, hatte sie in ihrer Blütezeit an 900 Studenten, eine für jene Zeit ungeheure Zahl, und einer von diesen Erfurter Studenten hat seiner Alma mater nachgerühmt, daß alle anderen Hohen Schulen Deutschlands, Wien und Prag, Heidelberg und Leipzig, „dagegen wie kleine Schützenschulen gelten“. Auf dies Zeugnis ist was zu halten, denn der Student hieß Martin Luther aus Eisleben.
Freilich, die Erfurter hatten's dazu. Die Quellen dieses Wohlstandes waren dieselben wie früher, nur immer planvoller und reicher entwickelt. Der Bau und Vertrieb von Waid und Gewürzen mehrte sich mit dem steigenden Bedarf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu einer Höhe, die der sonst armen Zeit wie ein Wunder erschien, auch ein anderer Farbstoff, der Kermes, die Eier der Kermesschildlaus, die von den Stengeln der Stecheiche gesammelt und zu einem roten Pulver zerrieben wurden, brachte den Erfurtern Goldbarren ein. Beträchtlich war aber auch der Ertrag der Obst- und Gemüsezucht; hier gediehen die Riesenäpfel und -birnen, die dem derben Geschmack der Zeit zusagten; die kolossalen Erfurter Rettiche, das Stück zwanzig Pfund und darüber schwer, wurden weit über Deutschland hinaus verfrachtet. Als Friedrich der Freidige 1311 bei einer Belagerung der Stadt alle Obstbäume fällen ließ, klagten mit den Bürgern alle Feinschmecker Mitteleuropas; nach zehn Jahren war der Schade völlig verwunden; viel langsamer erholte sich fünf Jahrhunderte später das geschwächte, gedemütigte Erfurt, als die Franzosen (1813) den gleichen Frevel verübten. Aber nicht bloß die fette Erdschicht über dem Kalkboden, auch Wasser und Gestein machten Erfurt reich: die Gera trieb unzählige Mühlen und wimmelte von Fischen; das Erfurter Salz würzte allen Westdeutschen das Mahl.